Drakulas Braut
Eren lief gebückt, den Pflock in der Hand, durch die finsteren Flure des Verlieses. Den Schreien folgend. Ihren Schreien. Sie wurden lauter und lauter, schriller und schriller, schraubten sich in ungeahnte Höhen. So, als wollte sie mit ihnen ihr Schicksal verneinen. Alles ungeschehen machen. Er glitt durch die Flure. Schneller und schneller, sich nicht mehr um seine Deckung kümmernd. Er war an der Quelle. Offen, von lauschigem Kaminfeuer hing eine Frau an der Wand.
Über sie gebeugt, eine kahle Gestalt. Mit bleicher Haut und spitzen Zähnen. Bereit, diese in sie zu schlagen.
Seine Vorsicht völlig aufgebend, sprintete er los, und versenkte das Holz im Rücken des Blutsaugers. Dort wo das Herz war. Er kippte um.
Drakula, Herr der Nacht, Moskito.
Eren jedoch hatte nur Augen für Sie. Drakulas Beinahe-Braut. Seine Sonne, seine Sterne, seine Sophie. Gerettet.
Als er die Ketten löste, fiel sie ihm schluchzend in die Arme. Ihr Gesicht an seine Wange gepresst. Mit Tränen der Angst und unbändiger Freude zog sie ihn fester an sich. Versicherte sich, dass er real war. Weinte sich an ihm aus.
"Besser als erwartet", meinte Emma und schloss die Tür. Nach 300 Seiten voller Spannung und Drama war ihre Geschichte zu einem Ende gekommen. Einem glücklichen Ende. Wohlwollend dachte sie an ihre Lieblingspassagen zurück. Eren auf der Brücke, die niederen Lakaien des Vampirs in den geweihten Fluss stürzend. Sein Versteckspiel im Schloss. Vor allem aber dachte sie an ihren unglaublich gelungenen Schluss.
Trotz aller Nostalgie (und ja, auch all dem Stolz) die sie bei dem Gedanken an die Geschichte empfand, war es nicht Ihre Geschichte. Den Lesern und Kritikern, denen sie davon erzählt hatte, mochte es vielleicht wie Exzentrik vorkommen, aber die Geschichten kamen nicht von Ihr.
Sie kamen von hinter der Tür. Soweit sie wusste, überwand sie Zeit und Raum, sogar Realität, nur um ihre Fantasie zu beflügeln. Für andere mochte es ein Spalt in der Wand sein, ein Schlüsselloch. Für sie war es aber eine Tür. Sie lächelte. Die Figuren aber, waren real, sehr real. Irgendwann, irgendwo standen sie Händchen haltend, oder Rücken an Rücken. Lebten, wurden alt, starben. Eigentlich war sie fertig. Müsste ihr Werk nur noch einmal durchsehen und an den Verlag schicken.
Aber sie war von Natur aus neugierig.
Sie tauchte tief in ihren Verstand ein. Legte die Hand auf den Messingknauf und drehte ihn um. Sie öffnete das Tor in die andere Welt. Das andere Wo. Das andere Wann.
Anstelle des eben noch so mächtigen Kaminfeuers loderte nur noch eine schwache Glut im Kamin. Überzog den Raum mit flackernden Schatten. Der größte von ihnen leckte sich das Blut von den Lippen. Hinter ihm ein unförmiger Hügel.
"Nein.", anstelle der Neugier trat Entsetzen. "Du warst doch erledigt! Tot! Zerquetscht!" Verfehlt. Er hatte verdammt nochmal verfehlt. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Oder hinauf? Ihr Hals war ganz trocken. Er sah ihr direkt in die Augen. Panik. Eine Tür ist in beide Richtungen offen. Von wem war das nochmal? "SCHLIEß SIE!", schrie es in ihrem Kopf. "SCHLIEß DIE GOTTVERDAMMTE TÜR!" Sie schob und zerrte, an der eben noch so leichten Tür. Der Schatten aber hielt sie fest. Zog sie zu sich. Seine neue Braut.
Drakula, Herr der Nacht, Vampir.
Real. Nur zu real.