Draculas Vermächtnis
Der Gang wollte einfach nicht enden, Die Geräusche der vielen Füße auf dem Steinboden waren schon deutlich näher. Ich hoffte, dass die Türen vor mir Flügeltüren waren und rannte darauf zu.
Meine Hände knallten gegen Holz, ließen die Türen zur Seite fliegen und ich rannte unvermindert weiter. Der große Spiegel an der Wand zeigte mich, wie ich alleine und in vollem Tempo den großen Saal durchquerte. Der Blick zurück zeigte, dass das nicht stimmte. Ich sah wieder in den Spiegel, weil das Bild zwar falsch aber nicht annähernd so erschreckend wie die Wahrheit war.
Igor winkte vom Ende des Saals und ging rückwärts in die Küche, die also mein Ziel war. Ich steckte alle Kraft in die letzten Meter und rutschte an ihm vorbei, zusehend, wie er die Türen zuwarf und einen der großen Kerzenständer in die Griffe einrasten ließ.
„Das war knapp, möchte ich meinen.“
Ich konnte nicht antworten, weil mir die Luft dazu fehlte.
Die Meute krachte gemeinschaftlich gegen die schweren Holztüren, die sich aufbäumten und dem Kerzenständer einiges abverlangten. Ich wich zurück.
„Keine Sorge, da kommen sie nicht durch, haben sie noch nie geschafft.“
Das Holz knackte, der Kerzenständer bog sich unter der Last der Drückenden.
„Vielleicht ist heute ein Premierentag.“
So entspannt, wie er das sagte, konnte er sich auf keinen Fall fühlen. Ich war absolut panisch. Der Lieferanteneingang hinter uns nützte uns gar nichts, weil draußen die Hunde warteten, die, wie Igor mich warnte, seit Tagen kein Blut mehr getrunken hatten, wie meine Verfolger.
Alle paar Minuten rüttelte jemand an den Türen oder warf sich dagegen. Die Geräusche, die sie dabei machten, klangen eher nach Tieren als nach Menschen.
„Eigentlich sind sie auch keine mehr“, erklärte Igor, „Untote in menschlicher Gestalt. Tagsüber sind sie harmlos, weil sie sich nicht aus ihren dunklen Zimmern trauen oder zu den wenigen gehören, die nur nachts ihrer Gier nach Blut nicht widerstehen können.“
Der Ansturm dauerte drei nervenaufreibende Stunden, dann zogen sich die Belagerer zurück, weil die Sonne aufzugehen drohte. Ich hatte meinen Kopf in den Händen und zitterte am ganzen Leib als Igor uns einen Kaffee aufsetzte.
Ich war hier, um ein Testament zu vollstrecken und ich war in der ersten Nacht meines Aufenthalts, um Haaresbreite dem Tod entronnen.
„Das ist der Grund, weshalb sie nachts ihr Zimmer abschließen und es nicht verlassen sollen.“
„Igor, mein Lieber, wie halten Sie das aus? Ich bin sicher kein Held aber Sie müssen einer sein, wenn Sie seit … wie lange hier wohnen?“
Igor reichte Brötchen zum Kaffee. Ich biss in ein unbelegtes Exemplar und kaute darauf herum als sei es ein ganzer Laib Brot.
„Keine Ahnung, sechzig Jahre? Eine stabile Zimmertür und ein gesunder Schlaf helfen.“
„Ich glaube nicht, dass ich hier Schlaf finden werde.“
Ich wollte meinen Auftrag heute hinter mich bringen. Eine weitere Nacht in diesem Schloss schien mir keine gute Idee.
Draculas Töchter und sein Sohn saßen vor mir und sie sahen aus wie Mittzwanziger, die zu wenig Sonne abbekommen hatten. Sie hätten allesamt einem Modeprospekt entstammen können. Sie waren bildschön und offenkundig ausgehungert. Letzte Nacht hatten Luise und Marie noch versucht, mich zu Boden zu ringen und gleichzeitig ihre Zähne in meinen Hals zu bohren, jetzt schienen sie sich an nichts davon zu erinnern und wenig an ihnen erinnerte mich daran.
Ich fasste zusammen, was ihr Vater bestimmt hatte. Das Schloss sollte auf Ewigkeit den dreien gehören. Die Formulierung war ungewöhnlich, weil sie „auf Lebenszeit“ hätte lauten sollen aber sie war gültig und mit meinem neu erlangten Wissen nachvollziehbar. Das Schloss sollte ein Museum werden, weil es mehr als tausend Jahre Geschichte in sich barg, die, nach dem Willen seines ehemaligen Besitzers, der Allgemeinheit nahezubringen sei, Übernachtung eingeschlossen. Ich malte mir aus, wie viele Besucher hier durch den großen Saal laufen und wie viele es zu Igor schaffen würden. Meine zitternde Hand blätterte um.
Igors unbefristete und vor allem unkündbare Festanstellung wurde ausdrücklich festgehalten. Ihm oblagen die Führung des Museums, vor allem am Tag und die Einstellung des notwendigen Personals, ausdrücklich auch nur für den Tag. Sein Wohnrecht galt auf Lebenszeit.
Luise und Marie weckten in mir den Wunsch, das Museum eines Tages zu besuchen, wenn ich alt genug war, um mein Leben als vollendet zu betrachten und mutig genug, die beiden über mich herfallen zu lassen. Ich saß noch vor Sonnenuntergang in meinem Zugabteil und wünschte Igor flinke Hände und den Gästen kräftige Beine, die sie in die Küche tragen mochten.