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Drachenzeit
Er rührte sich nicht. Er widerstand dem Drang, sich kratzen zu müssen. Irgendwo hinter seinem linken Flügel juckte es. Aber er hatte es sich abgewöhnt, solch niederen Instinkten nachzugeben.
Müßig öffnete er ein Auge, zu mehr wollte er sich nicht herablassen. Für Normalsterbliche war die Dunkelheit undurchdringlich, nicht aber für ihn. Mit seiner Nachtsicht und seinem scharfen Blick hätte er jedes noch so kleine Staubkorn in seiner riesigen Höhle ausmachen können. Aber er wollte nicht. Wozu auch? Nie gab es etwas Neues in seiner Höhle zu sehen. Seit Jahren oder Jahrhunderten -er nahm es mit der Zeitrechnung nicht mehr so genau- hatte ihn niemand mehr aufgesucht.
Früher hatte er regelmäßig Besuch gehabt. Grabräuber, Abenteurer, edle Helden, Schurken und andere Glücksritter hatten ihn in seinem Hort aufgesucht. Die meisten nicht mit freundlichen Absichten. Sie wollten ihn töten, aus welchen Gründen auch immer. Manche gaben zu, nur an seinem Schatz interessiert zu sein, andere schoben edle Motive und epische Questen als Motivation vor. Es gab Zeiten, in denen wohl in jedem Königreich sein Name nur im Flüsterton ausgesprochen wurde und die Belohnungen auf sein abgeschlagenes Haupt so hoch waren, dass man damit ein eigenes Königreich hätte gründen können.
Ja, die Menschen, Zwerge, Elfen und manch anderes Geschöpf hatten für Kurzweil in seinem Leben gesorgt, ihn belustigt, manche erzürnt und an ganz wenigen hatte er echtes Interesse gezeigt.
Am Ende waren sie jedoch alle gleich gewesen. Nur ein kurzes Plätschern im Fluss der Zeit, wie kleine Kiesel, die durch die Wasseroberfläche gedrungen waren. Ein, zwei, vielleicht drei Kreise warfen sie auf, nur um fast sofort aus seinen Erinnerungen hinfort gespült zu werden.
Selbst der Geschmack ihres Fleisches hielt sich nicht lang, wenn er sie letztlich verspeiste. Früher hatte es ihm Spaß gemacht, zu rauben, zu brandschatzen und zu morden. Früher, als sein Drachenblut noch heiß durch seine Adern floss. Nur aus Freude am Chaos, das er immer hinterließ, wenn er in die Welt hinausflog, hatte er Dörfer und Städte dem Erdboden gleichgemacht und hunderte Lebewesen verbrannt, verstümmelt oder gefressen. Manchmal auch alles zusammen.
Noch viel früher, in seiner Jugend, kaum, dass er ausgewachsen war, da war er wohl das grausamste, zügelloseste und das auch wohl mächtigste Wesen der Welt gewesen. Getrieben von Hunger und Gier. Kein anderes Wesen -auch nicht seine Artgenossen- kamen ihm auch nur annähernd gleich. Niemand traute sich, sich ihm in den Weg zu stellen. Andere Drachen hielten in seiner Gegenwart ehrfürchtig das Haupt gesenkt und es gab kein Weibchen, das sich ihm nicht unterworfen und sich mit ihm paaren wollte. Zu den immer seltener gewordenen Zusammentreffen seiner Rasse war er oft aufgestiegen, um alle Weibchen seiner Art zu erobern, die sich den Paarungsflug mit ihm zutrauten.
Seine Gedanken flogen zurück, hier im Jetzt stutzte er. Für einen kurzen Moment, vermeinte er, sein Blut deutlich in seinen Adern gespürt zu haben. Doch der Moment verging, rieselte herab wie ein einzelnes Staubkorn im Stundenglas.
Nein, sein Blut wallte nicht mehr, wollte nicht mehr wallen, nicht nach so langer Zeit. Wozu auch? Er war schon lange der Letzte seiner Art.
Seine Brüder und Schwester waren schon lange vom Antlitz der Erde verschwunden. Von den Gepeinigten verfolgt, gejagt, und ermordet. Nicht wenige auch durch Machtkämpfe in den eigenen Reihen ausgelöscht und die wenigen, die übrig waren, hatten irgendwann auch ihr ewiges Leben hinter sich gelassen.
Warum sollten Liebe und Hass ihn noch antreiben? Warum sich mit Wut, Eifersucht, Lust oder Gefühlen im Allgemeinen auseinander setzen? Für ihn stellte das nur sinnlose Vergeudung seiner Energie dar. Nichts trieb ihn mehr an, nichts würde ihn je wieder bewegen. Wozu auch?
Er hatte all das vergessen und aufgegeben, nach dem er früher gestrebt hatte. Gold und Edelsteine - wie glücklich und beseelt war er bei jeder gehorteten Unze Gold und jedem weiteren Edelstein gewesen.
Die Schätze, die er eben mit seinem geöffneten Auge erblickt hatte, türmten sich in riesigen Bergen in seiner Höhle. Alles nutzloser Plunder und Zierde eines eitlen Egos, der ihn für viele Jahre ausgezeichnet hatte, der ihm aber über die Zeit hinweg abhanden gekommen war.
All die unermesslichen Schätze, der Aufwand den er betrieben hatte, die Anstrengungen sie zu horten, die Verletzungen, die er dabei erlitten hatte und all das Leid, das er den früheren Besitzern seiner Schätze zugefügt hatte. Alles nur noch eine neblige Erinnerungen, die bald ganz aus seinem Geist verschwunden sein würden. Bereute er? Bedauerte er? Nein. Wozu auch? Hierzu war er auch gar nicht mehr fähig und so still und leise sich der Gedanke über viele Äonen in sein Gehirn auch eingeschlichen hatte, wurde ihm bewusst, dass es ihm egal geworden war.
Als einziger seiner Rasse hatte er es geschafft, die Zeit zu überdauern, er hatte ihre Gegenwart regelrecht ignoriert. Sie war ihm irgendwann nur noch als lästige Begleiterscheinung seines Lebens im Bewusstsein geblieben und dabei hatte er es auch belassen. Er hatte einfach beschlossen, dass sie keinen Einfluss auf ihn haben würde und so war er einfach nicht mehr gealtert. Wozu auch? Er wollte sein, also war er.
Vielleicht würde er auch da sein, um das Ende der Zivilisation zu sehen, vielleicht sogar das Ende dieser Welt. Würde er dann auch vergehen und zusammen mit diesem Stern sterben?
Über kurz oder lang würde es wohl so kommen, aber soweit war es ja noch nicht. Vielleicht könnte er sich dann zu anderen Sternen aufmachen? Noch einmal seinen Körper aus der Lethargie reißen und zu einem neuen Abenteuer aufbrechen. Fast hätte ihn dieser Gedanke verzückt und nur mit Mühe konnte er ein unwillkürliches Zucken seiner Flügel unterdrücken.
Ja, er war sich sicher, dass er zu den Sternen reisen könnte… wenn er es denn wollte.
Nun zu gegebener Zeit würde er sich Gedanken darüber machen, doch bis dahin könnte alles so bleiben wie es war. Langsam schloss er sein Auge und ließ seine Gedanken wieder in der Dunkelheit seines Ichs versinken.