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Drachensteigen
Wir wollen es versuchen. Laßt uns Drachensteigen gehen. Es ist die Zeit dafür. Es ist der November. Heute ist einer der seltenen sonnigen, klaren, klirrend kalten Nachmittage, die man nutzen muß.
Er hat sich immer so gefreut, wenn an seinem Geburtstag schönes Wetter war. Und nicht trüber Nebel und Nieselregen, der die Kinder ins Haus gezwungen hat. Er wollte dann immer Drachen steigen lassen. Die großen bunten, mit den langen Schleppen. Oder den Adler mit dem braunen Gefieder und dem grimmigen Gesicht mit dem Hackenschnabel.
Wir gehen auf den kleinen Hügel hinter dem Birkenwald. Da ist immer Wind. Die Bäume am Rand sind schon ganz schief in Richtung des Windes gewachsen. Das war sein Lieblingsplatz. Auch wenn es zwanzig Kinder waren, die er eingeladen hatte, und kaum Platz für alle in der Luft war; wir mußten da hin pilgern, wenn das Wetter es zuließ. Er konnte sich so sehr begeistern. Er war Feuer und Flamme. Er lachte und freute sich, wenn sein Drachen hoch oben am Himmel stand, und vor der Sonne tanzte.
So hoch ist der Hügel garnicht, aber der Weg fällt mir so schwer. Es ist das erste Mal nach seinem Tod, dass wir hier sind. Es ist alles so vertraut; da ist die kahle Stelle, mit dem Fels darunter, dort die kleine Kuhle bei der er damals hingefallen ist, uns sich dabei schier totgelacht hat. Und über der ganzen Fläche der grün-braune Pelz von Gras und Erde.
Zuletzt mußte ich ihm beim Zusammenbauen des Drachens garnicht mehr helfen. Jetzt muß ich es alleine tun.
Sein Bruder steht mit verschränkten Armen da, und weigert sich mitzumachen. Er ist verschlossen, wie immer seit dem Unfall. Er steht am Rand, mit dem Rücken zu uns. Vielleicht weint er wieder. Aber ich kann ihn nicht trösten. Ich habe es versucht; immer und immer wieder. Aber ich glaube ja diese „Das Leben geht weiter. Er ist in einer besseren Welt. Wir können nichts daran ändern. Du hast keine Schuld“-Sprüche selber nicht. Auf jeden Fall helfen sie mir nicht. Ich kann nur warten, bis der Schmerz schwächer und schwächer wird, und vielleicht irgendwann verschwindet.
Er fliegt. Hier ist immer Wind. Der Drachen steigt höher und höher. Die Schnur ist gleich zu Ende. Ich sehe ihn kaum noch. Flieg, flieg zu ihm!