Drachen steigen
"Papa kommt heute nicht nach Hause.", sagte sie, als sie den Hörer auflegte. Das Krankenhaus war dran, es hatte einen Unfall gegeben.
"Aber warum denn nicht?", fragte er. "Wir wollten doch heute den Drachen steigen lassen." Er schaute auf seinen Drachen, den er schon neben die Tür gelegt hatte. Seine Augen wurden feucht, er war enttäuscht.
Sie musste sich am Tisch festhalten, konnte nicht antworten. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Vielleicht, dass Unfälle nun einmal passieren können und niemand etwas dafür kann? Vielleicht auch, dass so etwas Schlimmes nur ganz selten passiert, aber sein Vater trotzdem nicht mehr nach Hause kommen würde, nicht mehr den Drachen mit ihm steigen lassen könnte? Sie sah ihrem Sohn in die Augen und blieb stumm.
"Was war da los?", fragte der Mann im Anzug seinen Ingenieur.
"Ein Kurzschluss hat einen Kabelbrand ausgelöst Sie wissen ja, die alten Sicherungen... Kurz daruaf stand die Halle in Flammen."
"Brandschutz war erfüllt, das zahlt die Versicherung. Es sind wohl alle ganz gut rausgekommen?"
"Einer sah ziemlich übel aus, der Notarzt meinte wahrscheinlich Rauchvergiftung. Er schaffts's wohl nicht."
"Schade. Sollen wir seiner Frau einen Brief schreiben?"
Es war ein milder Abend, der Wind war günstig. Sie rannte zum Auto, ihren Sohn an der Hand, Tränen in den Augen. Hoffentlich würden sie nicht zu spät kommen. Er sollte seinen Vater nur noch einmal sehen. Vielleicht würde er es so verstehen. Vielleicht würde er verstehen, warum Papa nicht mehr mit ihm Drachen steigen lassen kann. Sie verstand es nicht.