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Drachen in uns (Eine Liebeserklärung)
„Endlich bist du wieder da! Es ist ja ein echt fieses Wetter da draußen…“
„Das brauchst du mir nicht zu sagen“, antwortete ihr Sabrina und lächelte, obwohl sie sich ein Augenrollen nicht verkneifen konnte. "Ich brauche jetzt erst einmal eine warme Dusche und danach telefonier’ ich mit Al, das hab ich ihr versprochen.“
Ihre Schwester machte ein Auslandsjahr, doch Sabrina wollte sie auf keine Fall aus den Augen verlieren, weshalb sie einmal in der Woche miteinander telefonierten. Ohne auf die Antwort ihrer Mutter zu warten ging sie die breite Holztreppe hoch in ihr Zimmer, um ihre Stiefel, Handschuhe und Mütze zu verstauen. Dabei fuhr sie sich mit ihrer blassen Hand durch die langen, blonden Haare, um die weißen Flocken wegzustreichen. Doch noch bevor sie die oberste Treppenstufe erreicht hatte, hörte sie die Stimme ihrer Mutter durch das ganze Haus ihren Namen schreien.
Wie angewurzelt blieb Sabrina stehen, nur um sich keine Sekunde später blitzartig umzudrehen und die Treppe wieder hinab zu poltern. Sie rannte um die Ecke und blieb nur einen halben Meter vor ihrer Mutter stehen, die in aller Ruhe das Obst aus den Einkaufstüten in eine Schale legte.
„Was ist denn los!?“, fragte Sabrina erschrocken ihre Mutter. Sie hörte das Blut in ihren Ohren pochen und rang nach Luft, während sie sich an einer Marmorplatte der Küchenecke abstützte. Ihre Mutter blickte auf und betrachtete sie mit einem fragenden Blick, bei dem sie ihre linke Augenbraue hochzog. Die gleiche Angewohnheit hatte ihre Tochter geerbt.
„Ich wollte dir nur sagen, dass da ein Brief für dich gekommen ist.“, erklärte sie sich, zeigte auf den Küchentisch in der Mitte des Raumes und schnappte sich danach einen Apfel aus der Obstschale. „Willst du auch einen?“
„Sag mal, bist du verrückt? Ich dachte, es wäre irgendwas Schlimmes passiert!“ Ohne den Apfel, der ihr hingehalten wurde, eines Blickes zu würdigen, stapfte Sabrina zum Tisch und hob einen cremefarbenen Briefumschlag hoch. Mit immer noch wütender Miene starrte sie auf den Umschlag, auf dem in krakeliger, aber bekannter Füllerschrift Für Sabrina stand. Sie registrierte gar nicht mehr, dass ihre Mutter den Raum verließ, setzte sich hin, schnappte sich einen Bleistift, der auf dem Tisch gelegen hatte, und öffnete den Brief. Dabei zerfetzte sie das dünne Papier vollständig und griff begierig nach zwei einfach gefalteten Blättern im Inneren des Umschlags.
Während sie die Beine zusammenschlug und sich ihre linke Augenbraue skeptisch nach oben zog, begann sie zu lesen:
Liebe Sabrina,
es muss dir seltsam vorkommen, einen Brief von mir zu erhalten. Ich muss gestehen, ich wusste nicht genau, wie ich dir schreiben soll und ob überhaupt. Wir haben bestimmt seit ein paar Jahren nicht mehr miteinander geredet und uns ziemlich auseinander gelebt, aber dass war ja fast von Anfang an klar. Nach der Schule verlaufen sich eben die Wege der ein und/oder anderen.
Tja, du wirst dich fragen, warum ich dir trotzdem jetzt schreibe und ob es nicht auch eine Whatsapp getan hätte. Nein, das hätte nicht gereicht. Ich sehe nicht ein, meine letzten Gedanken an dich auf einem toten Handy zu schreiben und darauf zu vertrauen, dass ein paar Emojis dem Geschriebenen einen Sinn einhauchen. Also da finde ich einen altmodischen Brief einfach angebrachter, auch wenn ich weiß, dass du dich wahrscheinlich gerade sehr anstrengen musst, um deinen Mageninhalt unten zu behalten. Aber so war ich schon immer, oder?
Ich weiß gar nicht mehr, wann ich dich das erste Mal so richtig wahrgenommen habe. Aber ich weiß noch, wann ich mich das erste Mal in dich verliebt habe. Unser Klassenlehrer hatte doch immer die Angewohnheit nach ein paar Monaten die Sitzordnung zu ändern und völlig „zufällig“ eine neue zu bilden. Jedes Mal, wenn wir uns alle hinten an der Wand aufreihten, um unseren Sitzplatz zugeteilt zu bekommen, habe ich gehofft, neben dich zu kommen; und irgendwann gab der Zufall mir eine Chance. Seit diesem Moment haben wir uns immer die Beine zertreten, wenn wir nebeneinander saßen; verrückte Kinder halt. Mal aus Spaß, dann aus Wut, weil wir uns immer heftiger traten, und dann wieder aus Spaß. Ich werde immer vergesslicher und kann mich schon an so viele Dinge aus unserer Schulzeit nicht mehr erinnern, aber diese Momente bleiben. Da hat sich deine Seele in mein Herz gebrannt (sorry, ist etwas kitschiger geworden, als gewollt).
Danach folgten so viele Augenblicke, in denen mein Herz wegen dir auf- und absprang. Manchmal spürte ich deinen warmen Atem in meinem Nacken, wenn wir zusammen vor einem Computer in der Schule standen und irgendwem beim Zocken zugeschaut haben (keine Sorge, das hier wird kein Brief über irgendwelche seltsamen, erotischen Gedanken). Wenn wir zusammen in Gruppen gearbeitet und uns meistens nur gestritten haben, konnte ich dich nicht gewinnen lassen, weil du dann aufgehört hättest, mit mir zu reden. Dabei waren deine Stimme und dein Lachen das Schönste in meiner ganzen Schulzeit.
Obwohl ich in deinem Leben nie den Platz bekommen habe, den ich mir erträumt hätte, bin glücklich, dass ich dir so oft ein Lachen entlocken konnte. Ganz ehrlich, bitte sag mir niemals, dass du nur über mich und nicht über meine Witze gelacht hast. Dann wäre ich ein bisschen enttäuscht, denn bei meinen Witzen habe ich mir echt Mühe gegeben. Ich bin fast wieder im Klassenzimmer, sitze dir gegenüber und während ich versuche, dir etwas zu erklären, sitzt du nur da und lachst.
Ich sollte ehrlich sein und zugeben, dass du natürlich nicht das einzige Mädchen in meinem Leben warst. Ich habe mich auch in andere wirklich tolle Mädchen verliebt und mich ihnen verbunden gefühlt. Aber irgendwie, und glaub mir, dass wollte ich gar nicht immer, bin ich stets zu dir zurück gekommen. Das war meistens das Schmerzhafteste, jemandem an eine Erinnerung von dir zu verlieren, wo ich doch immer wusste, dass das mit uns niemals was wird.
Auf irgendwelchen Skifreizeiten oder Fahrten nach Kroatien war ich so weit in meinen Träumen verschwunden, so weit entfernt von der Realität, dass ich mich schon selbst verloren glaubte. Doch du hast es immer wieder mit deinen miesen Witzen, deinem Gezanke, deiner Arroganz, deiner Offenheit und stetigen Fröhlichkeit geschafft, mich zurück zu holen; dafür habe ich dich gehasst und mich selbst. Aber du hast es mir nicht leicht gemacht, dich nicht zu mögen, und schon nach ein paar Minuten in deiner Nähe konnte ich dir nicht mehr widerstehen.
Irgendwann in der Oberstufe hatten wir immer weniger mit einander zu tun. Aber es muss nur jemand auf einer Geburtstagsparty erzählen, dass du auch noch kommst, schon labere ich besoffen meinen Kumpel zu, dass du auch noch kommst. Selbst jetzt schießt mir noch das Blut ins Gesicht, wen ich daran denke.
In den letzten Jahren habe ich gedacht, ich hätte noch Zeit und irgendwann würden wir uns schon nochmal treffen. Irgendwann würde ich mich trauen, dich anzuschreiben und zu fragen, was du so machst und ob man sich nicht mal treffen will. Tja, was soll ich sagen. Ich habe keine Zeit mehr und bereue es zutiefst, dir nicht ein einziges Mal ein Nachricht verfasst zu haben.
Ehrlich, ich weiß nicht, ob ich dich noch liebe. Ich liebte dich mal, aber das ist schon so lange her und meine Erinnerungen verlieren sich in Träumen, aus denen nicht mal dein schrilles Lachen mich herausholen könnte. Aber du bist mir wichtig und du bist die Personen, die meine Kindheit, meine Jugend und dadurch mein ganzes Leben bestimmt hat, die mir eine Bedeutung gegeben hat. Ich habe dich geliebt und das werde ich niemals vergessen. Immer wieder habe ich mich in dem Glauben verloren, dass ich jemanden finde, der besser ist als du, der mir noch mehr hätte geben können. Aber jetzt habe ich begriffen, dass es keine Rolle spielt, ob es so eine Person auf dieser Welt überhaupt gibt. Wichtig ist jetzt nur noch, dir zu gestehen, wie ich für dich empfunden habe und noch empfinde.
Das habe ich jetzt. Aber ich denke, ich bin es dir schuldig nach der ganzen Geheimniskrämerei, dass du erfährst, was mit mir passiert ist. Warum ich dir all das jetzt gestehe.
Ich habe FTD, frontotemporale Demenz, und zwar schon in einem fortgeschrittenen Stadium, weil ich mich zu spät untersuchen ließ. Wieder einmal war ich zu spät. Das heißt im Klartext, dass mein Gehirn langsam Matsch wird, ich vorher aber noch die ein oder andere unverschämte und asoziale Sache abziehe.
Ich weiß nicht, ob wir uns jemals wieder sehen, denn es geht mir von Tag zu Tag schlechter und das obwohl mir irgendwelche Ärzte und Ärztinnen noch mehr Zeit gegeben haben. Selbst wenn wir uns noch einmal begegnen, wirst nur du mich sehen, während ich irgendwo in fremden Welten vor mich hin sinniere und mir vorstelle, wie sich ein Kuss von dir angefühlt hätte. Dafür lohnt es sich fast.
Versteh mich bitte nicht falsch. Ich habe Angst, unfassbare Angst, auch wenn ich hier den Abgebrühten spiele. Aber nach Nächten voller Tränen und Verzweiflung ist mir aufgefallen, dass ich dir noch ein paar Dinge zu sagen habe. Ich weiß, dass es unfair von mir ist, dir einfach so einen Brief zu schreiben, in dem ich dir in einem Satz meine Liebe und meine Krankheit gestehe, ohne mich in all den Jahren davor einmal gemeldet zu haben. Ich wusste nur nicht, was ich sonst machen soll. Ich wollte nicht, dass meine Gedanke über dich einfach so im Nichts verschwinden, ohne dass du sie gehört hast. Also bitte vergibt mir und denk vielleicht mal an mich, auch wenn ich jede Möglichkeit auf etwas Besonderes zwischen uns zerstört habe; auch wenn ich zu feige war, dich jemals nach einem Date zu fragen.
In Liebe …
Noch bevor Sabrina den Brief zu Ende gelesen hatte, schmiss sie ihn voller Verzweiflung auf den Küchentisch, wobei er über die glänzende Oberfläche tanzte und über die hintere Kante fiel. Sie brauchte keinen Namen zu lesen, um zu wissen, wer ihr da geschrieben hatte. Sie wollte den Namen nicht lesen. Sie wollte das Geschriebene nicht wahr haben, nicht in ihr Herz lassen. Einen Moment lang saß sie wie hypnotisiert auf ihrem Stuhl, die Beine fest umklammert und ihre dünnen Augenbrauen vor Schrecken weit nach oben gezogen. Ihre Hände zitterten, obwohl keine zwei Meter entfernt eine Heizung stand, die ihre Mutter voll aufgedreht hatte.
Eine Bewegung am Rande ihres Sichtfelds brachte Sabrina zurück. Der schwarze Rabe, der vor dem Küchenfenster Platz genommen hatte, um sich vor der Kälte draußen ein wenig in Sicherheit zu bringen, wurde von Sabrina schon gar nicht mehr wahrgenommen. Sie sprang auf und rannte durch die Küche auf der Suche nach ihrem Handy, während sie lautstark nach ihrer Mutter schrie.
„Jetzt bist du es aber, die hier herum schreit, als würde die Welt untergehen!“, meinte ihre Mutter vorwurfsvoll, als sie nur ein paar Sekunden später die Küche betrat.
Ohne auf den kritischen Unterton in der Stimme ihrer Mutter einzugehen, rannte Sabrina an ihr vorbei in den Flur und griff nach ihrer Jacke, die sie dort liegen gelassen hatte. In Windes Eile packte sie ihr Handy aus der Jackentasche und entsperrte es.
„Wann ist der Brief gekommen“, fragte sie ihre Mutter, wobei sich ihre Stimme nicht entscheiden konnte, ob sie schreien oder weinen sollte. Gleichzeitig suchte sie in ihrem Handy nach einer Nummer. Für einem Moment konnte man nur das hektische Tippen ihrer Finger auf dem Handydisplay wahrnehmen. Dann wurde ihr jedoch schmerzlich bewusst, dass sie seine Nummer nicht mehr hatte. Die war wohl nach zig Handywechseln verloren gegangen. Sie hatte rein gar nichts mehr von ihm.
„Keine Ahnung, vor einer Stunde vielleicht“, erwiderte ihre Mutter gezwungen gelassen, doch sie konnte die Neugierde in ihrer Stimme nicht verstecken. „Warum? Ist der etwa von einem heimlichen Verehrer?“
„Nein, verdammt noch mal!“ fauchte Sabrina sie an. Sie suchte eine zweite Nummer in ihrem Handy. Die Handynummer seines besten Freundes, wobei sie nach einem Augenblick einsehen musste, dass sie auch diese nicht eingespeichert hatte. „Scheiße! Fuck, ich weiß es nicht, Mama, vielleicht ja doch!“
Sie ließ ihre Mutter gar nicht erst zu Wort kommen, sonder packte sich die am Boden liegende Jacke, riss die Haustür auf und rannte hinaus in den Schneesturm. Sie rannte immer weiter und versuchte sich dabei, die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf zu ziehen. Aber es gelang ihr nicht. Sie lief trotzdem weiter. Immer weiter, ohne auf den eiskalten Schnee in ihrem Gesicht oder auf ihre schmerzenden Beine zu achten. Sein bester Freund wohnte keine drei Straßen weiter und sie musste einfach wissen, was hier vor sich ging.