Dr. L
Robert war ein verzweifelter Mensch. Er hatte ein besonderes Problem. Er beendete jedes Wort das er sprach mit einem L. Diese Schwäche sorgte dafür, dass ihn alle immer nur Dr. L nannten. Und das schlimmste daran war, dass ihnen bewusst war, wie sehr es ihn schmerzte diesen Namen zu hören. Es lag nicht nur am Namen. Es lag auch an der Betonung. Dieser provokante Name wurde von niemandem freundlich oder gar liebevoll ausgesprochen. Wenn jemand diesen Namen aussprach hörte man nur Spott Gehässigkeit und Hass heraus. Und egal wie sehr er sich auch bemühte, er schaffte es nie seine Wut, Trauer und Verzweiflung zu unterdrücken. Wenn es doch nur einen gegeben hätte, nur einen der ihn unterstütze. Doch da war niemand. Da war niemand der zu ihm hielt und ihn tröstete. Nur er. Er war es der sich mit sechzehn eine eigene Wohnung suchen musste, nachdem ihn seine Eltern wegen des ständig wachsenden Scharms rausgeworfen hatten. Er war es, der jeden Tag wieder über den Marktplatz eilte, auf der Suche nach Arbeit, die er nie fand. Und er war es der von jüngeren Kindern mit Steinchen beworfen und gehänselt wurde. Sie riefen ihm so laut sie konnten „Dr. L“ hinterher. Die Steine, die ihn überall trafen, waren so klein, dass sie nicht wirklich schmerzten. Aber wie konnte man einen einsamen, hilflosen Mann Steine aufs Haupt werfen? Und irgendwann kamen die Eltern hinzu. Kleine Flammen der Hoffnung loderten auf, leckten an seinem Herzen. Doch dann fingen die Eltern der kleinen Gören an zu lachen. Die Flammen, die nur ein spärliches Licht ins Dunkel geworfen hatten, wurden mit eiskaltem Wasser übergossen. Kälte. Überall Kälte. Die Eltern beugten sich zu ihren kleinen Kindern hinunter. Er sah es genau, was sie flüsterten. Dummkopf. Auch wenn er es nicht genau verstand. Er las es an ihren Lippen ab. Die lautlosen Worte hallten in seine Lippen wieder. Sein Zorn loderte auf. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Er schrie so laut er es vermochte: „Ichl binl keinl Dummkopfl. Wiel könntl ihrl esl wagenl sol überl michl zul sprechenl? Wennl ihrl nurl wüsstetl wiel ichl schreibenl kannl!“ Ja, dies stimmte tatsächlich. Mann konnte alles über ihn sagen, aber zu behaupter er könnte nicht schreiben wäre Verleumdung. Doch woher sollten die Anderen das wissen? Sie kannten keine seiner Gedichte. Jegliche Vorurteile hatten sie davon abgehalten auch nur eins zu lesen. Nach diesen Sätzen wurde alles nur noch schlimmer. Das Lachen schwoll an, wurde lauter und lauter. Ein Druck auf seinen Ohren, der sich einfach nicht nehmen ließ. Er machte enttäuscht auf dem Absatz kehrt. Rannte durch das Dorf auf die Brücke zu, welche über dem Fluss errichtet war. Er kletterte über das Geländer, hielt sich mit beiden Händen fest. Das Wasser floss unter ihm vorbei. Ein leises Rauschen. Er begann zu überlegen, wie oft hatte er hier schon gestanden? Wie oft hatte er schon darüber nachgedacht zu springen? Wieso hatte er es nie getan? Er war schon oft hier gewesen. Doch zuvor war er nie gesprungen. Er war aus Angst nicht gesprungen. Nicht aus Angst vor dem Tod, nein, aus Angst davor etwas in diesem Leben verpasst zu haben. Etwas verpasst zu haben wofür es sich vielleicht doch zu leben lohnt. Und immer war etwas Schönes passiert. Nichts besonderes, aber etwas Schönes. Ein wunderschöner Schmetterling war vorbei geflogen, ein Vogel hatte angefangen zu zwitschern, ein Regenbogen tauchte in der Ferne auf. Auch dieses Mal hatte er eigentlich nicht vor zu springen. Er wartete. Er wartete auf ein neues, kleines Wunder. Doch nichts geschah. Er hörte weiterhin nur das Rauschen des Flusses. Und dann begann es. Nicht langsam sondern von der einen Sekunde auf die andere. Es regnete. Der Himmel weinte. Der Himmel weinte über den Entschluss, den er gefasst hatte. Den Entschluss, Robert sterben zu lassen. Dieser verstand es sofort. Er ließ los. Alle Geräusche um ihn herum wurden ausgeblendet. Er spürte nicht wie er die Oberfläche des unruhigen Flusses durchbrach. Er hatte schon lange mit freudiger Erwartung auf ihn gewartet. Plötzlich nahm er wieder etwas wahr. Die Kälte des Wassers, welche sein erhitztes Gemüt wieder abkühlte. Doch desto klarer er denken konnte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er dies hier schon immer gewollt hatte. Das Ende. Er spürte wie sein Leben ihn verließ. In seinem Herzen gab es schon lange keinen Flammen mehr die gelöscht werden konnten. Er starb.
Die Dorfbewohner versammelten sich während dessen auf der Brücke. Sie lachten über ihn. Ein Dummkopf und sein verdientes Ende. Doch während sie noch lachten begann einer der Bauern, Roberts Gedichte vorzulesen. Einer nach dem Anderen verstummten sie. Sie begannen alle seinen Gedichten zu lauschen. Den Gedichten, die von Wut, Trauer und Hass handelten. Die von Respekt und Ehre handelten. Die von Leben und Tod handelten. Ihnen wurde bewusst, was Robert war. Er war ein Mensch. Ein Mensch mit Gefühlen und Träumen. Und sie? Was waren sie? Monster? Hatten sie überhaupt Gefühle? Einer nach dem Anderen fingen sie an zu weinen. Ihre Tränen liefen ihre verzerrten Gesichter hinunter, landeten auf dem Boden. Etwas, dass von ihnen kam, versank im Dreck, vermischte sich mit dem schmutzigen Regenwasser. War es nun dort, wo es hingehörte?