- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Dr. Bo
Sie erreichte die Praxis ohne große Probleme. Kein Stau, keine großartige Parkplatzsuche, keine Autopanne. Schade. So langsam, wie es ging, schaltete sie den Motor aus, prüfte ihre Handtasche auf deren Inhalt, ohne zu wissen, was sie eigentlich damit bezweckte und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Ein angespanntes Gesicht, mit großen, ängstlichen blauen Augen, umrahmt von einer widerspenstigen Mähne undefinierbarer Farbe blickte ihr entgegen.
Du musst es hinter dich bringen. Sie würden dich sowieso kriegen, auch wenn du abhaust.
Ein kehliger Laut brach sich Bahn. Wohin auch fliehen? Heutzutage konnte man nirgendwohin.
„Bring es hinter Dich, Laura Schön“, murmelte sie. Mit diesen Worten atmete sie tief durch, ergriff ihre Tasche und hechtete ein wenig zu schnell aus ihrem Wagen.
Im Inneren des Gebäudes war es eine Spur zu kühl, weiße Wände schienen den Besucher regelrecht zu blenden und ein gläserner Aufzug, der in der Mitte der Eingangshalle in schier unendliche Höhen zu schweben schien, vermittelte ihr den Eindruck, ebenfalls durchsichtig und durchschaubar zu sein. Keine Privatsphäre, keine Geheimnisse, kein Recht auf Individualität. Das war der Preis der menschlichen Existenz, der Preis, hier leben zu dürfen.
Sie beschloss die Treppe zu nehmen. Bilder von vergangenen Epochen, anderen Kulturen, fremdartigen Ritualen und Lebensweisen schmückten die sonst kahlen Wände. Eine Reise in die verlorene Welt. Ihre Augen schweiften gedankenverloren über die Fotografien und alten Leinwände, die dank modernster Technik immer noch instand gehalten werden konnten, obwohl sie schon weit mehr als tausend Jahre alt waren.
Das zwanzigste Jahrhundert mit seinen Erfindungen und kleineren Kriegen, das einundzwanzigste Jahrhundert, in dem die Menschheit beinahe ausgelöscht wurde, das zweiundzwanzigste Jahrhundert, das so genannte Gen-Jahrhundert und die vielen darauf folgenden Jahrhunderte, in denen die Menschen viel gelernt, noch mehr verlernt und das meiste zerstört hatten.
Was hätte sie darum gegeben, in einer früheren Zeit geboren zu sein. In einer Zeit ohne Kontrolle, ohne Einmischung, ohne Eingrenzung. Doch der Gedanke daran war schon gefährlich, kriegerisch, selbstmörderisch.
Ein Leben in Freiheit, in vollkommener Unbeschwertheit und mit Entscheidungsfreiheit…
Ihr Gedankenstrom geriet ins Stocken, als sie unbewusst vor einem Bild stehen geblieben war, welches eine Landschaft aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert darstellte. Grüne, satte Wiesen, Kühe, Bäume und eine Horde lachender Kinder vor einem alten Bauernhof tollend; die Sonne, ein natürlicher Freund der Menschen, wärmend, selbstverständlich. Wie leicht sich doch alles ändern konnte.
„Schön, nicht wahr?“ Sie fuhr herum. Ein Mann um die sechzig in einem silbernen Anzug stand hinter ihr, seine Augen schienen in sie hinein zu blicken, durchdringend, irritierend.
Eine zarte Röte stieg ihr ins Gesicht, scheu sah sie ihn an.
„Nein, ich meine ja. Nein. Eigentlich wollte ich…“ Sie fing an zu stottern, suchte einen Ausweg.
„Ist schon in Ordnung. Ich mag das Bild auch. Und es ist schließlich nicht verboten, es sich anzusehen, sonst würde es ja schließlich nicht hier hängen, nicht wahr?“ Er lächelte sie an.
Sie erwiderte sein Lächeln. „Ja, stimmt.“ Sie fasste Vertrauen zu dem Mann, er hatte eine sympathische Ausstrahlung.
Seit vor einem halben Jahrhundert jegliche Kritisierung der herrschenden Lebensbedingungen auf dem Planeten Erde verboten worden war und damit auch jede Kritik an der Regierung,
war jeder Mensch vorsichtig mit dem, was er sagte. Ein falsches Wort und man wurde lebenslänglich in die unterirdischen Gefängnisse gebracht, aus denen es kein Entkommen gab.
„Man sehnt sich manchmal nach Farben, nach einem Geruch,…“
„…den man eigentlich gar nicht kennt“, half er. „Und doch ist er da, der Gedanke, die Sehnsucht nach dem Unfassbaren, dem Unerreichbaren.“
„Ja, genau. Ich meine, eigentlich wissen wir doch überhaupt nicht, wie es dort draußen ist, aber tief im Inneren weiß man, dass es richtig ist, dass…“ Erschrocken hielt sie inne, zwirbelte nervös an einer Haarlocke.
„Ich muss jetzt hoch. Entschuldigen sie mich.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und eilte die verbleibenden Stockwerke hoch. Wie hatte sie sich so ablenken, so hinreißen lassen können. Das hätte lebensgefährlich ausgehen können. Sie kannte den Mann schließlich nicht.
Was, wenn er die Regierung und die Stahlhöhlen verehrte? Ein flüchtiges Bild huschte durch ihren Kopf. Universität – Studium Geschichte und Archäologie – Vergleich und Analyse mittelalterlicher Literatur und Gegenwart. Sie sah ihn noch heute vor sich. Den Bildband, genauer gesagt den Roman von Isaac Asimov „Die Stahlhöhlen“. In der damaligen Zeit, vor fünfhundert Jahren, war dies lediglich ein Science-Fiction- Roman gewesen, eine spannende Lesereise in die Zukunft. Heute war sie Realität. Die Menschheit musste, sehr dezimiert, in Stahlhöhlen Unterschlupf suchen.
Sie hasste sie. Sie hasste das Leben, jeden einzelnen Tag. Die Idee mit der Schwangerschaft war ihr wie ein Rettungsanker erschienen. Nach monatelangen, erst fruchtlosen Versuchen, eine Genehmigung für die Schwangerschaft zu bekommen, hatte die Regierung schließlich doch eingewilligt. Ihr Mann und sie durften ein Kind zeugen. Sie hatte wieder Hoffnung geschöpft. Und jetzt? Jetzt schien alles einzustürzen, alle ihre gemeinsamen Pläne drohten zu zerbrechen.
Und nun auch noch diese gefährliche Situation mit dem Fremden. Dabei hatte sie bei Gott andere Sorgen.
Sie erreichte die Doppelglastür mit der Aufschrift: „Gynäkologische Abteilung - pränatale Diagnostik – Dr. Bo“
Mit rasendem Herzen öffnete sie die Tür, sah sich in einem sterilen Empfangsraum wider, an dessen Ende eine gläserne Theke stand, hinter der wiederum eine in weiß gekleidete Sekretärin saß.
„Frau Liesing. Ich habe einen Vorstellungstermin bei Dr. Bo“, sagte Laura.
Ohne aufzublicken antwortete sie mit gleichgültiger Stimme: „Dr. Bo ist noch unterwegs. Sein Assistent Kero Lorij wird sie im Vorfeld informieren. Gehen sie Raum A3.“
Steif und mit feuchten Handflächen saß sie Sekunden später Kero Lorij gegenüber.
„Sie wissen, warum sie hier sind?“
Laura nickte.
„Ich fasse kurz zusammen. In ihrem zweiten Schwangerschaftsmonat wurde auf dem gewöhnlichen Ultraschallbild ein Nackenödem ihres Ungeborenen festgestellt. Dies kann auf Mongolismus hinweisen. Darum sind sie hier. Mit Hilfe modernster Untersuchungen, die vollkommen schmerzfrei sind, können wir innerhalb kurzer Zeit feststellen, ob das Kind gesund ist oder nicht.“ Er hielt kurz inne. „Wenn man bedenkt, im Mittelalter mussten die so genannten Ärzte noch auf Fruchtwasseruntersuchungen, Tripel-Tests und sonstigen Sachen zurückgreifen.“ Er gluckste vergnügt. „Wahnsinn,…“
Er bemerkte den Gesichtsausdruck seines Gegenübers.
Er räusperte sich. „Nun, gut. Wenn das Kind gesund ist, werden sie entbinden, wenn das Kind krank ist, werden wir abtreiben. Wie sie sicher wissen, haben sie keinerlei Rechte, das Urteil des Oberarztes anzuzweifeln, bzw. anzufechten.“
Er ließ ihr ein paar Minuten, um sich zu entkleiden. Nun musste sie sich nackt auf ein rundes Metallpodium stellen, gläserne und metallische Platten fuhren mit einem leisen Summen von der Decke, umgaben sie wie eine runde Zigarrenschachtel, und zeichneten ihre medizinischen Daten auf. Sie merkte nichts, fühlte sich jedoch so nackt und schutzlos, wie noch nie in ihrem Leben. Übelkeit stieg in ihr auf.
„Fertig. Sie können sich anziehen. In ein paar Minuten sind die Messergebnisse da. Dr. Bo wird sie darüber unterrichten und ihnen anschließend das Urteil mitteilen. Wiedersehen.“
Laura konnte nicht antworten, eine scheinbare Lähmung ihrer Gesichtsmuskulatur schien sie daran zu hindern. Sie hatte Angst, schreckliche Angst.
Mit einem Ruck öffnete sich die Tür und ein Mann betrat den Raum. Als der sie sah, stockte er kurz. Auch Laura hielt den Atem an, ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Es war der Mann, mit dem sie sich gerade unterhalten hatte. Jetzt konnte sie sich gleich in das Gefängnis begeben. Er kannte ihre rebellischen Gedanken gegen die Ordnung. Außerdem stand er mit seinem beruflichen Posten auf der gleichen Stufe, wie ein Regierungsbeamter. Er konnte sie ohne weiteres ins Gefängnis werfen lassen, ohne Prozess, ohne Anhörung.
Er sagte nichts, ging zum Computer, gab Befehle ein, druckte Messtabellen und Grafiken aus und nahm die Papiere zur Hand. Langsam setzte er sich, las und sah sie schweigend an.
Ihr wurde heiß. Doch klein beigeben wollte sie nicht, sie würde kämpfen.
„Sagen sie es mir schon und schicken sie mich dann ins Gefängnis. Na los, machen sie schon. Oder bereitet es ihnen Vergnügen, mich leiden zu sehen?“ Ihr stiegen die Tränen in die Augen.
Er blinzelte und blickte sie offen heraus an. „Ich mache es kurz. Ihr Kind wird das so genannte Down-Syndrom haben, nein, ich stecke sie nicht ins Gefängnis und ja, sie dürfen abtreiben.“
Sie keuchte. Sie wollte ihr Kind nicht verlieren. Niemals, sie wollte es nicht abtreiben, auch wenn es krank war. Es war ihr Baby.
„Nein...bitte, sie dürfen nicht…“ Ihre Stimme kippte.
Schnell erhob er sich und war mit drei Schritten bei ihr.
„Hören sie mir zu. Wir haben nur ein paar Minuten, bis mein Assistent hereinkommt und sich ebenfalls die Ergebnisse sehen möchte.“ Er ging in die Hocke und hielt ihre Hand fest. „Sie müssen nicht abtreiben. Wenn ich die Möglichkeit habe und keine Zeugen dabei sind, gebe ich den Frauen die Entscheidungsfreiheit. Die Meisten, das sage ich Ihnen gleich, lassen abtreiben, einige Wenige entscheiden sich für das Kind. Allerdings müssen diese Frauen in die Welt hinaus. Aus den Stahlhöhlen hinaus. Es gibt für sie und das Kind kein Leben in den Höhlen, verstehen sie mich? Aber es gibt Leben außerhalb der Höhlen.“
Er machte eine kurze Pause.
„Aber es gibt eine Bedingung, eine Voraussetzung.“ Seine Worte ergaben keinen Sinn, konnten nicht stimmen, zu vieles – alles – sprach dagegen.
Er sprach weiter, sie hörte zu. Lächelte.