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Download aus dem All
Aus wirren Träumen schreckte ich hoch. Das Zimmer war taghell erleuchtet. Als ich die Augen öffnete, sah ich zunächst nur diese extreme Helligkeit. All dieses Licht schien von draußen zu kommen.
Ich erhob mich schlaftrunken und tappte zum Fenster.
Was ich dort erblickte, übertraf alle meine Vorstellungen: ein Säule aus reinem Licht, die von der Erde bis weit hinauf in die Wolken reichte. Und dort oben verharrte nahezu bewegungslos ein gigantisches Raumschiff.
Nach und nach begriff ich: dieser Lichtdom war die Kontaktschleuse zwischen Schiff und Landeplatz. Das Schiff war die „Gustav Mahler“, es war mir also gelungen, sie herbeizuträumen!
Am unteren Ende dieser Lichtschleuse materialisierten sich nach und nach ein Cembalo, der dazugehörige Cembalist - es war Scarlatti, Domenico Scarlatti -, dann eine Violine und schließlich der dazugehörige Violinist. Es war Corelli. Ja, er war es tatsächlich!
„Aber wo in aller Ewigkeit ist Vivaldi geblieben?“ zeterte Corelli jetzt wie ein Rohrspatz und blickte sich ein wenig irritiert um. „Er wollte doch mitkommen zu diesem Erdenbesuch. Wir hatten vor, Dir sein bekanntes Konzert für zwei Violinen in d-moll vorzuspielen.“
„Naja, macht doch nichts, ein andermal“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
„Doch, doch, das macht schon was. Nicht dass er irgendwo in den Weiten des Alls verloren gegangen ist. Das wäre wirklich sehr schade. Es ist nämlich nicht unproblematisch, sich hier einzuloggen. Da geht auch schon mal was schief... Du musst nämlich wissen: Wir sind ein Download aus dem All!“
„...ein Download aus dem All...“, echote ich gedankenverloren.“
„Ja, es gibt mindestens 59 Dimensionen. Und in eine dieser zahlreichen Dimensionen gelangen wir Menschen nach jenem Ereignis, das landläufig 'Tod' genannt wird.“
Ich staunte immer mehr. Mir erschlossen sich völlig neue Einsichten in die Natur des Menschen und in die Prinzipien des Universums.
„Und Vivaldi? Wo mag er jetzt wohl stecken?“
„Hm.“ Corelli zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, ist wohl irgendwo verloren gegangen beim Transfer zwischen diesen unzähligen Dimensionen. Das ist nicht weiter schlimm, nur langwierig.“
„Langwierig?“
„Es ist langwierig, ihn wiederzufinden. Die Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit sind für uns zwar aufgehoben. Nicht aber für Erdbewohner wie Dich!“
Ich nickte aufmerksam: „Aha.“
„Es kann eine Weile dauern, bis Vivaldi wieder hierher gefunden hat. Ein paar Wochen vielleicht. Oder ein paar Monate.“
„Und das Raumschiff? Könnte man ihn nicht mit dem Raumschiff suchen?“
„Dieses 'Raumschiff' ist nicht das, was Ihr Euch unter einem Raumschiff vorstellt. Es ist eher ein Energiefeld, ein kostümiertes Energiefeld, wenn du so willst.“
„Und warum ist das so?“
„Weil es nach den Gesetzen der Physik nicht möglich ist, sich mit Raumschiffen, wie sie in Science-Fiction-Romanen beschrieben werden, über solch riesige Entfernungen hinweg zu bewegen.“
„Und was ist es dann?“
„Es ist ein Spiel der Energie zwischen verschiedenen Gegenden des Universums. Energie wird transportiert. Durch Wurmlöcher, durch Sternentore. Es ist wirklich so wie ein Upload oder ein Download auf dem Computer. Materie würde zerstört bei derartigen Aktionen. Energie jedoch wird umgewandelt und bleibt letztlich erhalten.“
„Bleibt erhalten?“ stammelte ich fassungslos und ungläubig. „Aber das erste und das zweite Energiegesetz, das Prinzip der Entropie-“
„Das gilt alles nur eingeschränkt. Wirklich, glaub's mir, ich bin ja da, ich bin auf diese Weise gereist. Gibt es einen besseren Beweis?“
„Und wie?“
„Wie? Ganz einfach: Energie wird in winzige Päckchen zerlegt, wie beim Computer, all diese kleinen Bits, und dann zeitgleich verschickt.“
„Und Vivaldi?“
„Ist irgendwo hängen geblieben. Wenn so ein Thread mal verstopft ist... nun ja. Ein Computer hängt sich in solch einem Fall manchmal auf, er stürzt ab oder was auch
immer. Im Universum ist das anders. Die Päckchen verstreuen sich dann durch alle Dimensionen-“
„Und Vivaldi? Gibt es ihn nicht mehr?“
„Keine Sorge, diese Päckchen haben ja alle ihre Individual-Kennung. Die wissen schon, wie sie zusammengehören. Du kennst doch die Datenwiederherstellung bei manchen Computerprogrammen?“
„Ja, die kenne ich.“
„Nun, genau so. Es wird alles wiederhergestellt. Zurück auf Null.“
„Auf Null?“
„Ins Nirwana. Das gibt es wirklich, das Nirwana. Die Inder sind keine Spinner. Die wissen, wovon sie reden. Das Nirwana ist so etwas wie die große Kosmische Heimatbasis. Der Stützpunkt. Die Root-Partition. Von dort her kommen wir. Schönen Gruß an die Beatles übrigens.“
„Die Beatles? Wieso?“
„Von wegen 'Eleanor Rigby': 'All the lonely people/Where do they all belong?/All the lonely people/Where do they all come from?...' Aus dem Nirwana natürlich. So einfach ist das, wenn man es weiß.“
„Nirwana. Aha. Das stimmt mich jetzt unendlich froh.“
„Klar. Ist ja auch berechtigt. Menschen sind ein kosmischer Witz.“
„Ein kosmischer Witz? Dass ich nicht lache! Wie meinst'n das, Arcangelo? Darf ich Du sagen?“
„Klar. Im Zentraluniversum sind alle per Du. Schließlich kommen wir alle aus dem gleichen Lichtfunken, aus dem gleichen Energiefunken. Das ist unsere Wurzel. Der innerste Kern. Die Idee des Universums. Gott-“
„Moment mal... Gott?!?“
Er lächelte verständnisvoll und nachsichtig.
„Für Menschen ein wenig schwer zu begreifen. Geht über Euren Verstand. Wäre mir damals auch so gegangen. Obwohl ich Geiger bin...“
„Wieso: Obwohl ich Geiger bin?!? Sind Geiger denn was Besonderes?“
„Ja. Universumsspezialisten.“
„Universumsspezialisten?!?“
„Musiker überhaupt. Wegen der Schwingungen. Da laufen Prozesse ab, die sind so subtil und so sublim, das ist unfassbar. Die Welträtsel enträtseln sich im Klang. Denk mal an Bach. Die Chaconne aus der d-moll-Partita für Violine solo. Großartige Musik. Und noch viel mehr.“
„Noch viel mehr...“
„Eine Mathematikaufgabe samt Lösung. Klänge und Zahlen haben viel miteinander zu tun. Der Goldene Schnitt und die Silberne Harmonie-“
„Die Silberne Harmonie? Was ist denn das?“
„Eine Mathematikaufgabe mit voll integrierter Lösung. Übrigens: Ist dir aufgefallen, dass ich in Deiner Sprache spreche, in deinen modernen Begriffen?“
„Stimmt, jetzt, wo du's sagst.“
„Das hängt damit zusammen, dass es Raum und Zeit nicht gibt. Es ist alles schon da.“
„Alles schon da?“
„Ja, die Welt der Ideen. Alles ist schon präkonfiguriert.“
„Aha, präkonfiguriert.“
„Die Übersetzung wird sofort mitgeliefert. Voll integrierte Übersetzung.“
„Du liebe Güte, werde ich im Augenblick gerade erleuchtet?!?“
„Wenn du meinst, dass Licht ins Dunkel deines Unwissens gebracht wird, dann gebe ich dir unbedingt Recht. Vor allem: es ist alles so einfach. Im Prinzip.“
„Stimmt“, entgegnete ich. „Und Vivaldi? Wie finden wir jetzt Antonio?“
„Warten“, lautete Arcangelos gleichmütige Antwort.
„Darf ich dir einen Tee anbieten?“
Arcangelo begann schallend zu lachen: „Wir brauchen keinen Tee mehr, kein Brot, keinen Apfel, keine Apfelsine... - wir sind reine Energie.“
„Reine Energie? Was bedeutet das?“
„Wir sind, wenn du so willst, Lichtphänomene. Und Licht lebt von Dunkelheit.“
„Licht lebt von Dunkelheit?!?“
„Licht lebt von Energie. Und diese Energie steckt auch und ganz besonders in der Dunkelheit.“
„Faszinierend.“
„...davon ich singen und sagen will...“
War das ein Traum? Nein, es war kein Traum! Ich stand mit Arcangelo Corelli zusammen zu Füßen eines gigantischen immateriellen Raumschiffs und philosophierte über die Zusammenhänge des Lebens und des Universums. Und ich lernte.
Ich lernte.