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Down To Earth
Sein Flug aus Hongkong hatte deutlich Verspätung und er musste nach Hause. So schnell wie möglich. Aber erst musste er seinen Anschlussflug erreichen. „A Gentleman will walk but never run“ - an diese Textzeile von Sting dachte Werkmann, als er durch die langen Gänge des Frankfurter Flughafens hastete. Geschmeidig wich er den Leuten im Terminal aus, er versuchte so gradlinig wie möglich voran zu kommen. Aber laufen, nein, das kam für ihn nicht in Frage, auch wenn er sich beeilen musste. Dabei behinderte ihn sein Rollkoffer, den er hinter sich her zog und sich immer wieder mit seinen Fersen daran stieß.
Als er noch immer um 20 Uhr Ortszeit in Hongkong in der First Class Lounge saß, war es in seiner Heimat München 3 Uhr morgens. Seit Stunden hatte er von seiner Frau nichts mehr gehört oder gelesen. Sie hatten eine sonderbare Auseinandersetzung per WhatsApp gehabt, es hatte sich irgendwie aufgeschaukelt, schon wieder. Er hatte in den letzten Monaten intensiv gearbeitet, war viel auf Reisen gewesen und sie hatten deswegen auch wenig Zeit miteinander verbracht. Fast über den gleichen Zeitraum hatten sich ihre Auseinandersetzungen jedoch auch gehäuft und gesteigert. Immer mehr wurde zu einem Diskussionspunkt, immer häufiger fehlte etwas, ihm wie ihr. Sie fasste ihn nicht mehr an, er war die zahlreichen Abweisungen mittlerweile leid und näherte sich ihr nun auch nicht mehr, weder körperlich, noch geistig. Jetzt wollte er mit ihr endlich wieder einen vertrauten Urlaub verbringen, auf dem Schiff, allein, nur sie und er. Doch hatte sie gerade vollkommen überraschend vorgeschlagen, ihre beste Freundin auf die Hurtigruten-Kreuzfahrt mitzunehmen. Die Freundin sei ja noch nie auf einer Kreuzfahrt gewesen, habe doch eine schwierige Zeit hinter sich, das wüsste er doch, wie er das ignorieren könne, sie brauche das jetzt, es würde ihr gut tun, er könne doch auch zu Hause bleiben, wenn ihm das zu viel sei, die Ruhe täte ihm doch sicher auch gut. Dabei wollte er die fast sieben Tage Entrücktheit nur mit ihr alleine verbringen, diese Reise hatten sie sich schon vor Jahren versprochen, entlang der Küste Norwegens, zwischen Bergen und Kirkenes und mit Abstechern in den Trollfjord und den Geirangerfjord. Und dann vielleicht Stockholm, ein schönes Hotel, schicke Restaurants, Bars, Cafés. Sex. Endlich wieder mal Sex. Natürlich wollte er die Freundin nicht dabei haben. Wieso will sie sie dabei haben? Er bekam ein mulmiges Gefühl der Einsamkeit. Nach dem er die Konversation auf WhatsApp wieder und wieder durchgelesen hatte, legte er das Handy zur Seite. Werkmann schloss die Augen, um zur Ruhe zu kommen. Er holte tief Luft, folgte seinem Atem, spürte seinen Füße auf dem Boden nach, die Hände auf dem Schoß, er nahm seinen Atem an der Nasenspitze wahr. Einatmen, Ausatmen. An etwas anderes denken, nein, an nichts denken. Nur Atmen. Ein. Aus. Nach ein paar Atemzügen nahm er Geräusche wahr, Klopfen, Schlürfen, Klacken, Zischen, Rascheln, Ticken, Schleifen, Rattern, Rollen, es wurde immer vielschichtiger und auf einmal erzählten die Geräusche ihre Geschichten. Das volumige Rauschen der Klimanlage, er konnte sich leicht die riesigen Rohre vorstellen, durch die die Luft hier hinein- und heraus gewälzt wird. Frauenabsätze klackten über den dunkel grau gefliesten Boden. Reisende schoben ihre Koffer und ihre Rollen klackten über die Fugen wie das “Tack-Tack Tack-Tack” der Züge auf den Gleisen. Der junge Mann neben ihm seufzte nervös, jemand schlürfte durch die Gänge, als hätte er oder sie Pantoffeln an. Jemand räusperte sich mehrmals, er konnte den Speichel am Rachen fast selbst spüren.
Eine Tür fiel ins Schloss. Vermutlich in der Küche wurde eine Metalltür zugeschlagen, Werkmann stellte sich diese Tür vor: dünner, vierkantiger Edelstahl eines Unterschranks, in der kleine Kunststoffeimer oder ähnliches gelagert wurden. Etwas klappert, er vermutet, dass ein Löffel auf einer Untertasse umher rutscht, aber es könnte auch ein Messer auf einem Teller oder eine Gabel in einer kleinen Porzellanschüssel sein. Eine Glasschüssel hätte einen anderen Klang, dachte er, dunkler, musikalischer. Eine Zeitung wurde aufgeschlagen, das Zischen der Dampfdüse der Kaffeemaschine, eine Tasse wurde auf eine Untertasse gestellt, Personal stapelte neue Teller auf, wieder helle Absatzklänge, jemand zog die Nase hoch, ein Servierwagen rollte über die Fugen und Tassen tanzten mit einer kurzen zeitlichen Verzögerung zum Takt, wieder das Räuspern. Eine schwere Tür knallte zu, schnelle Schritte zeugten von Eile, jemand zog den Teleskop-Griff aus einem Rollkoffer, ein Signal des Aufbruchs, dem sofort das Klacken über den Fliesenboden folgte. Ein Stuhl wurde über den Boden gerückt, Werkmann stellte sich vor, wie die Person beim Aufstehen mit den Beinen den Stuhl nach hinten schob. Hosen rieben sich beim Gehen raschelnd auf Kniehöhe. Das Knacken einer PET Flasche und immer wieder das Klacken von Tellern und Besteck und das wacklige Klappern von auf Rolltabletts gefahrenen Kaffeetassen. Werkmann lächelte.
Als er in Frankfurt gelandet war, war es weit nach 17 Uhr. Noch im Flugzeug hatte er sein Smartphone eingeschaltet und nachgesehen, ob seine Frau etwas geschrieben hatte. Ausser ein paar mails aus dem Büro hatte er keine Nachrichten erhalten.
„Down to Earth“, schrieb er wie immer und: „hoffe, dass ich den Flieger nach MUC noch bekomme. Bis nachher, Robert.“ Danach packte er seine Sachen und hastete als einer der Ersten aus dem Flieger, zunächst über die steil aufsteigende Fluggastbrücke zur Rolltreppe auf der er zwei Stufen auf einmal nahm und dann weiter durch die endlosen Gänge des Frankfurter Flughafens. Während er zügig voran schritt, schaute er immer wieder auf sein Handy. Nichts. Die Durchsagen zu seinem Flug trieben ihn weiter an: „Last Call for LH 116 to Munich. All Passengers please proceed to Gate 32“.
Am Gate 32 legte er sein Smartphone auf den Scanner und der Durchgang zur Fluggastbrücke öffnete sich. Abwesend nickte er dem Bodenpersonal zu, eilte weiter zum Einstieg, schob den Griff zurück in den Rollkoffer und betrat das Flugzeug. Die Flugbegleiterin erkannte ihn und empfing ihn beim Einsteigen mit einem freundlichen Gruß, „Hallo Herr Werkmann, das war jetzt aber knapp. Schön Sie wieder an Bord zu haben“. Sie lächelte ihn aufrichtig erfreut an, da er stets ein angenehmer Fluggast war, der sich höflich und zurückhaltend verhielt, doch Werkmann ging schweigend an ihr vorbei und verstaute seinen Koffer im Gepäckfach. Er hatte sie nicht einmal angeschaut. Noch mit dem Gefühl des Getriebenen nahm er seinen Lieblingssitz 3A ein, empfand dann aber sogleich eine wohltuende Ersatzgeborgenheit. Seine Sekretärin hatte die Anweisung, wann immer möglich ihm diesen Platz zu sichern. Er schaute auf die Uhr, es war 17:44 Uhr. Seine Frau war zuletzt um 17:29 Uhr bei WhatsApp online, sie hatte seine Nachricht gelesen, aber nicht beantwortet.
„Alles in Ordnung?“ fragte sie ihn, als sie bei ihren letzten Kontrollgang vor dem Abflug an seiner Sitzreihe vorbeikam.
„Wie bitte?“
„Gehts Ihnen gut, Herr Werkmann?“
„Ja, ja, danke“, beschwichtigte er irritiert. Er lächelte sie kurz dankbar an.
„Stellen Sie bitte noch Ihr Smartphone auf Flugmodus, bitte.“
Ein letzter Blick in WhatsApp, es war 17:45. Seine Frau war jetzt auch online.
„Ach ja. Klar. Natürlich.“
Werkmann holte nochmals tief Luft und schaute aus dem Fenster. Er schloss die Augen und versuchte seinen Gedanken zu entfliehen, aber es gelang ihm nicht. Er fühlte sich verraten und leer. Warum antwortete sie nicht, warum ist sie online und heisst ihn nicht willkommen, so wie sonst? Haben sie wirklich solche Differenzen? Wegen ihrer Urlaubspläne? Ist das nicht ein Luxusproblem, nichts Existenzielles, etwas doch eher Alltägliches? Das ist doch alles so albern, dachte er und schlief ein.
Als sie in München landeten griff er hastig nach seinem Smartphone. Noch während sie auf dem Rollfeld waren strich Werkmann über die Bildschirmoberfläche und deaktivierte den Flugmodus. Er schaltete das Handy stumm. Nach wenigen Sekunden vibrierte es in seinen Händen und nacheinander erschienen zwei WhatsApp-Meldungen auf dem Bildschirm. Erst untereinander, dann fächerten sie sich übereinander. Unter dem Namen seiner Frau stand: „Zwei Mitteilungen“.
„Ich ziehe aus“ stand in der Ersten.
„Ich ziehe aus“ in der Zweiten.