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Dorthin wo die Blumen sind
Bevor ich euch meine Geschichte erzähle, solltet ihr wohl wissen, wer ich eigentlich bin.
Mein Name ist Elisabeth. Meine Freunde nannten mich früher immer Liz. Ich bin zwanzig Jahre alt und bis vor einem Jahr war mein Leben nur auf ein Ziel ausgerichtet: das Abitur.
Dann hatte ich das Abitur geschafft. Erst hab ich mich gefreut, aber dann ist mir klar geworden, dass mein kompletter Lebensinhalt damit verschwindet: lernen, lernen und noch mehr lernen.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass alle um mich herum schon genau vor Augen hatten, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Und sie haben alle ihre ersten Schritte in ihre Richtung unternommen. Nur ich war irgendwie planlos und blieb zurück.
Vor lauter Verzweiflung zog ich mich zurück, wie eine rückwärts wachsende Blume, die sich wieder in eine Knospe verwandelt und in das finstere, kalte Erdreich zurückkehrt.
Natürlich findet keiner seinen Weg, indem er nur zu Hause herumsitzt. Der Meinung waren auch meine Eltern, weshalb mich meine Mutter von einem Beratungsgespräch zum nächsten scheuchte.
Keines der Gespräche brachte mich voran und ließ in irgendeiner Form ein Licht in der Dunkelheit aufgehen.
„Was sind denn Ihre Interessen, Frau Gerding?“, wiederholte sich die immer selbe Frage, auf die sich meine Antwort niemals änderte.
„Deutsch und Geschichte.“
Daraufhin verschwand das Gesicht des Mitarbeiters des Arbeitsamtes hinter einem Bildschirm, um nichts anderes zu tun, als ich an meinem heimischen Computer.
Studiengang um Studiengang wurde mir vorgestellt. Die einen mit meinem Numerus Clausus unerreichbar, die anderen mit schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt.
Immer mehr hatte ich das Gefühl, dass alles, was ich gut konnte, unsinnig war.
Auch die unzähligen Berufstests im Arbeitsamt und im Internet brachten mich nicht voran, da sie mir immer wieder sagten, was ich bereits wusste.
Schließlich unterließ ich es, weiter zu versuchen einen Weg zu finden, der eindeutig nicht existierte.
Einen Weg, bei dem ich einer Beschäftigung nachgehen konnte, die ich mochte und mich nicht in finanzielle Unsicherheit stürzte.
Eigentlich möchte ich euch hier nicht vollheulen.
Ich möchte euch von ihm erzählen.
Es war im Mai 2015. Meine Freundin Sina hatte mich aus meinem Zimmer gezerrt, mich in ihr Auto gesetzt und fuhr mit mir zu einer Animeconvention.
Früher hatte ich Animes geliebt, ich hatte Stunden damit verbracht, Kpop und Jpop zu hören, aber eigentlich hatte ich diese Zeit hinter mir gelassen. Seit ein paar Wochen...
Es war laut, überfüllt. Überall waren Menschen in bunten und verrückten Kostümen. Seltsamerweise fühlte ich mich wohl unter ihnen.
Ich konnte viele Figuren aus Animes sehen, die ich alle gesehen hatte. Es fühlte sich an, als seien all diese Figuren, mit denen ich so viel Zeit verbracht und mit denen ich vor meinem Laptop mitgefiebert hatte, plötzlich zum Leben erwacht.
Sina schleppte mich von einem Stand zum nächsten, quatschte immer mal wieder Leute an und wir machten Fotos mit ihnen.
Da sah ich ihn. Spider Man. Der Held meiner Jugend spazierte einige Meter von mir entfernt an den Ständen entlang. Ich konnte nicht anders als ihn anzustarren. Ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit. Etwas wie Freude, gemischt mit dem Bedürfnis, sofort zu ihm hinzurennen.
Natürlich blieb Sina mein offensichtliches Schmachten nicht verborgen.
„Geh doch hin und frag' ihn, ob er ein Foto mit dir macht“, sagte sie.
„Das ist doch absurd, ich quatsche doch nicht einfach einen Wildfremden an. Das ist mir peinlich!“
Leider kannte Sina keine Gnade und ehe ich mich versah, hatte sie mich wie einen Einkaufswagen in Richtung Spider Man bugsiert.
Als ich keine Anstalten machte, ihn anzusprechen, übernahm sie das kurzerhand für mich.
„Hey, meine hübsche Freundin hier würde gerne ein Foto mit dir machen, traut sich aber nicht zu fragen.“
In diesem Moment überkam mich das allzu bekannte Gefühl im Boden versinken zu wollen.
Spider Man lachte, ein unglaublich schönes, wohlklingendes und irgendwie ansteckendes Lachen.
„Keine Sorge, ich beiße nicht.“
Schon stand ich neben ihm und Sina knipste begeistert ein Foto.
Gerade wollte ich mich aus dieser unangenehmen Situation befreien, da legte er seinen Arm um mich: „Warte! Weil es ihr so Spaß macht noch eins.“
Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Mein Gesicht musste knallrot sein.
Als ich erneut versuchte, mich aus der Affäre zu ziehen, wurde ich wieder gestoppt.
„Warte! Ich glaub ich habe geblinzelt!“, rief er.
Mit einer Maske im Gesicht konnte das natürlich passieren...
So schossen wir ein drittes, Gott sei Dank, letztes Bild.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Für einen Moment fühlte ich mich, als hätte ich gerade tatsächlich neben Spider Man gestanden, denn entweder er hatte er den Film zu oft gesehen oder er hatte genau denselben Humor wie der Film-Spider Man.
Der Tag verging, ohne dass ich sein Gesicht sehen konnte oder nochmals mit ihm sprach.
Ich druckte mir die Bilder aus, die wir auf der Convention gemacht hatten. Das Bild von mir und Spider Man, auf dem ich am wenigsten geschockt schaute, stellte ich neben mein Bett auf meinen Nachtisch.
Dort sollte es eine ganze Weile stehen bleiben und obwohl ich nicht jeden Tag bewusst an ihn dachte, konnte ich ihn nicht vergessen.
Ich rechnete damit, nie zu erfahren, wer unter der Maske gesteckt hatte.
Doch das Schicksal, genannt Sina, hatte etwas anderes für mich geplant.
Da sie das Bild auf meinem Nachtisch gesehen und ich den Fehler gemacht hatte, ihr zu erzählen, dass ich oft darüber nachdachte, wer der Mann unter der Maske gewesen sein könnte, hatte Sina beschlossen zu handeln.
Davon hatte ich keine Ahnung, bis sie mich eines Morgens anrief:
„Liz, ich hab ihn gefunden!“
„Ich find's auch schön von dir zu hören“, grummelte ich.
„Von wem redest du denn überhaupt?“, murmelte ich noch etwas verschlafen ins Telefon.
„Von Spider Man natürlich!“
„Wie bitte???!“
Plötzlich war ich hellwach und mein Herz begann, schneller und schneller zu schlagen.
„Wie hast du...?“
„Ich hab einfach einen Thread in dem Forum der Convention eröffnet und eine Art Suchanzeige aufgestellt und er hat sich gemeldet!“
„Bist du WAHNSINNIG? Weißt du wie peinlich das ist?!“
„Du solltest dich lieber bei mir bedanken. Er will sich mit dir treffen“, grummelte sie.
Sie nannte mir eine Uhrzeit und einen Ort, dann legte sie auf mit den Worten:„Du kannst ja jetzt selbst schauen, was du daraus machst.“
Völlig perplex saß ich in meinem Bett. Ihr könnt euch vorstellen, dass ihre Nachricht bei mir einschlug wie eine Bombe. Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Schließlich hatte ich die einmalige Chance, zu erfahren, wer der Mann hinter der Maske gewesen war. Aber was, wenn es gar nicht der Richtige war, der sich gemeldet hatte oder wenn sich da jemand einen dummen Scherz mit mir erlaubte?
Ich weiß nicht mehr, welche Gründe mich dazu bewegten, meine Ängste fallen zu lassen und wirklich dort hinzugehen.
Als Erkennungszeichen trug ich mein schwarzes Top mit dem roten Spider Man Logo darauf.
Während ich das Café betrat, in dem er mich treffen wollte, schlug mir das Herz bis zum Hals. Langsam sah ich mich um. Ob er schon da war?
Mein Blick glitt über die Gäste, doch ich konnte ihn nicht entdecken, bis zu dem Moment, in dem er auf mich zugelaufen kam.
Er trug ein schwarzes Shirt mit demselben roten Spider Man Logo, das auch meine Brust zierte.
Wie man bereits durch den Spider Man Anzug hatte erkennen können, war er groß und athletisch gebaut. Doch nun konnte ich auch endlich sein Gesicht sehen. Es war umrahmt von etwas längeren, schwarzen Haaren. Aus seinem Gesicht leuchteten mir zwei helle, blaue Augen entgegen.
Sein Lächeln war unglaublich. Sein Händedruck war warm und als ich seine Stimme wieder hörte, bekam ich am ganzen Körper Gänsehaut.
Sein Name war Rico. Er war zweiundzwanzig und Elektrotechnikstudent.
Nachdem wir uns gesetzt hatten, brachte ich zunächst kaum ein Wort hervor.
„Geht es dir gut?“, fragte Rico besorgt.
Hastig nickte ich, dann fügte ich hinzu:
„Ich kann es ehrlich gesagt kaum glauben, dass du dich tatsächlich gemeldet hast. Und dass du dich an mich erinnerst...“
„Ein hübsches Gesicht vergiss man nicht so leicht. Warum hätte ich mich nicht melden sollen?“, entgegnete er mit einem frechen Grinsen.
„Der Aufruf war etwas peinlich...“, murmelte ich.
Er lachte.
„Ich fand es wirklich süß. Und bisher habe ich es nicht bereut, dass ich mich gemeldet habe.“
Mein Herz machte einen leichten Hüpfer.
„Also, was machst du denn sonst so, wenn du nicht gerade auf Animeconventions Superhelden hinterherjagst?“
Ich spürte, dass mir das Blut in den Kopf schoss.
Genau, was machte ich denn eigentlich?
„Ich schreibe gerne“, rutschte es mir heraus.
Panisch überlegte ich, was ich noch sagen könnte, denn ich war mir sicher, dass mein Schreiben ihn eher weniger interessieren würde.
„Wirklich? Das ist echt cool! Was schreibst du denn so? Eher Kurzgeschichten oder Romane? Welches Genre interessiert dich denn am meisten?“
Entgegen meiner Erwartungen schien er sich brennend für mein einziges verbliebenes Hobby zu interessieren.
Im Laufe des Gespräches stellte sich außerdem heraus, dass auch er mit großer Leidenschaft schrieb.
„Ich schreibe am aller liebsten Fantasy, vor allem Kurzgeschichten. Wobei ich mich kürzlich auch an das Genre Horror herangewagt habe“, erzählte er.
„Fantasy ist auch mein Lieblingsgenre“, entgegnete ich begeistert.
„Um was geht es denn in deinen Kurzgeschichten?“
Ich war fasziniert von seinen Einfällen und seiner Kreativität. Ohne es zu merken, erzählte auch ich ihm immer mehr von meinen Ideen, Vorstellungen und Träumen.
Irgendwie waren wir über unsere Ideen und Werke, über meinen Wunsch Autorin zu werden, bis hin zu unserer gemeinsamen Leidenschaft für literarische Größen wie Goethe und Dumas gekommen.
Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal mit einem Menschen so unterhalten konnte. Zum ersten Mal seit Langem konnte ich wieder lachen und alle Sorgen vergessen. Einen unbeschwerten Abend verbringen, ohne an meine unklare Zukunft zu denken.
Heute bin ich der Meinung, unsere Begegnung damals war Schicksal.
Denn ich habe es ihm zu verdanken, dass ich endlich meinen Weg gefunden habe und meine selbstgewählte Isolation durchbrochen habe. Ich konnte ihm alles erzählen, ohne dass er mich verurteilte. Wenn es mir schlecht ging, nahm er mich in den Arm.
Wenn seine starken Arme mich umschlossen, ich seine Körperwärme spüren und sein Aftershave riechen konnte, fühlte ich mich gut und es war, als hätte ich keine Probleme mehr.
Er war derjenige, der mich dazu ermutigte, einfach das zu tun, was mir Spaß bereitet und mich nicht von den ganzen Arbeitsmarktprognosen verunsichern zu lassen.
Motiviert durch Sinas und Ricos Zusprüche, habe ich mich an einer Fachhochschule für ein Studium im Bereich der Medien beworben.
Ich weiß nicht, ob ich danach meinen Traumberuf finden werde, aber ich weiß jetzt, dass ich meinen Weg gehen werde.
Denn am wichtigsten ist es mir, kreativ zu arbeiten. Zu Gestalten, zu schreiben und mein einziges Talent auszuleben.
Heute studiere ich, habe eine WG mit Sina und bin glücklich mit Rico.
Ich fühle mich wie eine Knospe, die sich unter der Erde, im Dunkeln, vor dem Licht versteckt hatte und nun ans Licht gelockt worden ist, dorthin wo die anderen Blumen sind.