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Dornröschen funktioniert also nicht mehr
Ein einzelner Blutstropfen. Er läuft, eine dünne rote Spur hinter sich herziehend, im Zickzack über die Innenseite ihres Daumens und tropft auf die dunkle, feuchte Erde zwischen den Rosenstielen. Immer vergisst sie, Handschuhe anzuziehen. Das kommt davon, wenn sie nur an die Rosen denkt, ihre wunderschönen Papagena-Zuchtrosen, die sie noch vor dem Regen stutzen wollte, noch vor dem Sturm. Und während Laura noch den kleinen, hellroten Riss in ihrer Haut betrachtet, ähnelt der Himmel über ihr von Minute zu Minute mehr dem gewaltigen, aufgehenden Hefeteig eines grauen Kuchens.
Zurück im Haus, überlegt Laura einen Moment lang, ob sie noch einmal hinausgehen und die Gartenschere holen soll, die sie draußen liegen lassen hat, aber es hat bereits Nieselregen eingesetzt. Außerdem sieht der Himmel von hier drinnen noch ein ganzes Stück bedrohlicher und vor allem dunkler aus, die Wolken wirken dichter und das Sonnenlicht gedämpfter. In ihrem Rücken tickt die Küchenuhr, laut und klar wie ein Herz aus Holz. Unwillkürlich beeilt sich Laura, ins Wohnzimmer zu kommen.
In der Ecke nuschelt der Fernseher undeutlich vor sich hin, als wüsste er ein Geheimnis, als hätte er irgendetwas zu verbergen. Nachdem Laura das Fenster geschlossen hat, wirft sie einen beiläufigen Blick auf die Mattscheibe. Ein Mann steht vor einer Wetterkarte, redet und deutet mit dem Finger auf kleine Wolkensymbole, die überall auf der Karte verteilt sind, unter einigen sind Regenfäden. Er spricht von Sturmwarnungen und Windgeschwindigkeiten, zuletzt wird ein umgestürztes Windrad eingeblendet. Dann wechselt das Bild und man sieht eine Frau in Arztkittel, die sich mit einem jungen Mädchen unterhält. Tom hat wieder umgeschaltet. Aus der Richtung des Fernsehsessels kommt ein zufriedenes Brummen, es klingt in Lauras Ohren wie das Schnurren einer großen Katze. Immer noch starrt Laura auf den Bildschirm, als wären ihre Augen kleine Eisen und der Fernseher ein Magnet.
Die Programmzeitschrift liegt aufgeschlagen vor ihm, aber Tom weiß ohnehin, was läuft, er könnte die Programme der einzelnen Sender aufsagen wie auswendig gelernte Gedichte. Außerdem sind es nicht die Bilder, die ihn faszinieren. Es sind die Geräusche, die Stimmen und die Musik im Hintergrund, das ist wie Träumen, das Gegenteil von Einsamkeit.
Während Laura hinaus in den Regen blickt und den Tropfen an der Scheibe mit den Fingerspitzen folgt, überkommt sie eine warme Müdigkeit. „Ich glaube, ich lege mich nochmal hin“, murmelt sie in Richtung des Fernsehers. Durch die Erkennungsmelodie einer Quizshow hindurch kommt Toms matte Stimme: „Aber du bist doch erst seit ein paar Stunden wach.“ Laura dreht sich um und sieht seinen Hinterkopf, der Rest wird von der Sessellehne verdeckt. An den Hinterkopf gewandt sagt sie: „Ich bin eben müde.“ Sie dreht sich um und schlurft ins Schlafzimmer, wo das Fenster noch offensteht und die orangenen Gardinen sich blähen, als wollten sie da weg, weg vom Fenster. Toms Stimme klingt belegt und weit entfernt: „Das sagst du immer.“
Aber Laura hört ihn gar nicht mehr, sie liegt bereits auf dem Bett, lässt eine Rohypnol auf ihrer Zunge zergehen und vergisst, was war und ist und sein wird.
Als sie wieder aufwacht, ist es draußen dunkel. Vorm Fenster, hinter dem Regen und teilweise verdeckt durch die ausgefransten Schattenrisse der Bäume, glimmen die Lichter der Stadt, verwaschen wie Teelichter. Aus dem Nebenzimmer dringt das Raunen des Fernsehers herüber, unverändert, den ganzen Tag und die ganze Nacht lang. Laura nimmt es gar nicht mehr wahr, das Raunen ist wie Luft, das Zuhören ist wie Atmen. Sie ist immer noch müde, die Wirkung des Rohypnol hält an. Da war noch irgendetwas, etwas wollte sie noch tun. Es fällt ihr nicht ein, jetzt nicht. Sie schließt die Augen, wie um nachzudenken, und kurz bevor der Schlaf sie erneut übermannt, durchfährt sie die Erinnerung wie ein Blitz: Schnecken. Es hatte was mit Schnecken zu tun. Ihr Herz macht einen Sprung und beginnt heftig zu klopfen, als verlange es, dass ihm die Tür zu ihren Erinnerungen geöffnet werde, aber es dauert nur einen Moment lang, dann ist es wieder weg, verschluckt von wabernden, warmen Nebelschwaden.
Tom hat die Augen geschlossen, er lauscht den Stimmen aus dem Fernsehapparat und stellt sich vor, sie reden mit ihm, sie reden nur für ihn, weil da niemand mehr ist außer ihm. Nur noch das Ticken der Uhr, von irgendwoher, aus einem anderen Zimmer.
Plötzlich sind die Stimmen fort, zerstoben in einem allgemeinen Rauschen. Toms Augen weiten sich ungläubig. Auf dem Bildschirm tanzen weiße Punkte wie Flocken im Schneegestöber. Er greift nach der Fernbedienung, er zappt durch die Kanäle, drückt nacheinander alle Tasten, zack zack zack, nichts passiert. Weiterhin Schneegestöber. Unvermittelt tritt ihm Schweiß auf Stirn und Nase, und als sein wildes Knöpfedrücken zu nichts führt, hievt er sich stöhnend aus seinem Sessel, um den Fernseher ein paar Mal stirnrunzelnd zu umrunden. Er hat ihn sich noch nie so richtig angesehen, schwarz und eckig steht er da wie ein geheimnisvolles Artefakt. Dann kniet Tom vor dem Bildschirm nieder und starrt in das Gewirbel der weißen Punkte, das da vor seinen Augen stattfindet.
Und hätte Tom größere Ohren, dazu ein Fell, würde jeder ihn für einen Hasen und die weißen Punkte für die Scheinwerfer entgegenkommender Wagen halten.
Das zweite Mal wird Laura vom Geräusch eines splitternden Astes geweckt, der vom Wind gegen die Fensterscheibe geworfen wird. Es hat wohl doch aufgefrischt, denkt sie, zitternd und die Augen halb geöffnet. Es ist kalt im Zimmer und es zieht. Nasse Blätter und kleinere Zweige fliegen klatschend gegen die Scheibe, vor der sich die Gardinen bauschen wie Umhänge von Helden.
Auf dem Fensterbrett sind kleine Pfützen entstanden, Mondlichtflecken schwimmen darin. Der Wind muss das Fenster wieder aufgestoßen haben, wieder einmal hat sie vergessen, den Griff richtig umzulegen. Laura betrachtet die Gardinen. Dunkelrot wie ihre Rosen. Sie muss an die Schnecken denken. Sie kommen mit dem Regen, sind auf einmal scharenweise da, als fielen sie mit dem Wasser vom Himmel.
Der Wind heult um das Haus, biegt die Bäume und knackt die Äste. Im Nebenzimmer rauscht es leise.
Laura steigt unsicher aus dem Bett, taumelt zum Kleiderschrank und wühlt nach ihrem Bademantel. Ihr Kopf fühlt sich an wie etwas Fremdes, die Tranquilizer wirken immer noch nach. Unter der Tür zum Wohnzimmer sickert bläuliches Licht durch.
Gähnend schlüpft sie in den Bademantel, rechter Ärmel, linker Ärmel, Bewegungen wie in Zeitlupe oder unter Wasser. Sie macht ein paar Schritte auf die Tür zu, wo sie stehen bleibt und verwundert blinzelt. Der Sessel ist leer.
Lauras Blick springt wie von selbst zum Fernseher. Da hockt Tom, den Rücken tief gebeugt wie unter einer schweren Last, stützt sich mit einem Arm auf dem Teppich ab und streicht, streichelt mit der freien Hand über den gewölbten Bildschirm. Auf seinem Gesicht liegt ein dünner blauer Schimmer wie eine Maske aus Licht, der Widerschein des Fernsehbildes. Das Bild wechselt nicht, man sieht immer nur Schneegestöber, untermalt von weißem Rauschen. Laura zuckt mit den Schultern, wendet sich ab und schlurft zum Fenster. An der Scheibe kleben feuchte Blätter, deren Unterseiten aussehen wie die verrunzelten Gesichter kleiner brauner Männer. In der rechten unteren Ecke klebt ein einzelnes dunkelrotes Rosenblatt. Lauras Herz macht einen Sprung.
Draußen ist es zu dunkel, um etwas erkennen zu können, aber Laura ist überzeugt, dass da Schnecken über die feuchte Erde zwischen ihren Rosen kriechen, mit ihren Fühlern nach den Stielen tastend und nach einer Möglichkeit zum Hinaufkriechen; ständig auf der Suche nach etwas, das sie fressen und zerstören können. Insektenspray, denkt Laura, und ihre Augenbrauen beginnen, vor lauter Anspannung unkontrolliert zu zucken.
Die Flasche mit den Insektenvertilger fest mit der Hand umschlossen, öffnet sie das Wohnzimmerfenster. Der kalte Wind zerrt an ihren Haaren, brennt auf ihrer Haut, und augenblicklich sinkt die Temperatur im Zimmer ein paar Grad. Einzelne Blütenblätter trudeln herein, erst wenige, dann immer mehr, als hätten sich die Windböen mit einem Mal verdoppelt. Laura starrt auf die dunkelroten Blütenblätter. Sie denkt: Flügel ohne Schmetterlinge.
Sie lehnt sich weit hinaus, muss blinzeln, sieht fast nichts in der allumfassenden Dunkelheit, nur ganz weit in der Ferne sind die Lichter der Stadt als kleine helle Punkte auszumachen. Kaltes Regenwasser benetzt ihr Gesicht wie eine zweite Haut. Der Bademantel schlackert um ihre Schultern und Beine, Laura zittert am ganzen Körper. Trotzdem gelingt es ihr, den Sprühkopf auf das Beet mit den Rosen zu richten. Immer wieder betätigt sie den Abzug, als wäre der Sprayer eine Pistole und die Blumen Feinde und sie selbst verrückt. Wie entfesselt schwenkt Laura den Arm über dem Beet, und die trübe Wolke aus Insektengift unter ihr schwillt immer weiter an. Im nächsten Moment zerstäubt eine Windböe den Nebel aus Insektiziden und auch das leise, monotone Zischen des Düsenkopfes ist längst untergegangen im fürchterlichen Geheul des Sturms. Nur die Blütenblätter wirbeln weiterhin vor Lauras Augen durch die Luft, als wollten sie sie verhöhnen.
Laura hat das Fenster wieder geschlossen, es hat keinen Sinn, der Wind ist zu stark. Sie lehnt erschöpft mit dem Rücken an der Wand, hinter der der Sturm unbeeindruckt weitertobt. Mit den Augen folgt sie den Schweißperlen, die wie winzige gläserne Schnecken über ihre Unterarme wandern, im Slalom zwischen aufgestellten Härchen. Ihr Magen ist mittlerweile ein einziges mulmiges Gefühl. Am liebsten würde sie sich sofort wieder hinlegen, gleich hier. „Ich bin müde“, jammert Laura, ohne von der Betrachtung ihrer Unterarme abzulassen. Als keine Antwort kommt, hebt sie doch den Blick.
Tom kniet immer noch vor dem Fernseher, den Blick weiter starr auf das Schneegestöber gerichtet, die Arme hat er seitlich um den Apparat gelegt, wie jemand, der einen anderen wärmen will. Und dann, in einem Moment der Stille, die nur vom gleichmäßigen Rauschen des Lautsprechers durchdrungen ist, nähert Tom sein Gesicht ganz langsam dem Bildschirm, als wollte er ihn küssen, dann spitzt er die Lippen und küsst ihn tatsächlich. Und als seine Zunge die teflonbeschichtete Oberfläche berührt, hört man ein ganz leises Knistern, ein Geräusch, als würde es vorm Fenster Popcorn regnen.
In diesem Moment geht ein Ruck durch das Gerät, das Schneegestöber verschwindet augenblicklich und der Bildschirm wird schwarz wie das restliche Haus, wie die Nacht. „Stromausfall“, murmelt Laura vor sich hin, und dann muss sie kurz kichern, und ihr Kichern klingt traurig und absurd inmitten all der Dunkelheit, die sie umgibt.
Tom zuckt zusammen, mit offenem Mund stiert er die dunkle Mattscheibe an. Ein Zeichen, denkt er. Ein Zeichen. Und dann: Dornröschen funktioniert also nicht mehr.
Die Lichter der Stadt am Horizont sind nicht mehr zu sehen, erloschen, ausgeblasen wie die Flammen von Teelichtern. Wieder durchlaufen Laura kalte Schauer und ihre Hände beginnen zu zittern, aber das Fenster ist geschlossen und diesmal ist die Kälte nicht der Grund. „Ich werde schlafen gehen“, sagt sie mit bebender Stimme. „Schlafen.“ Und dann tastet sie sich durch die Dunkelheit, immer an der Wand entlang, auf der Suche nach der Tür zum Schlafzimmer, auf der Suche nach ein bisschen Licht.
Aus der Fernsehecke links von ihr dringt Toms Stimme an ihr Ohr, mal leise wimmernd, dann wieder laut und klagend, Worte, die sie nicht versteht. „Was machst du da? Redest du mit mir?“, fragt sie unsicher in die sie umgebende Dunkelheit. Da sie keine Antwort erhält, setzt sie ihren Weg an der Wand entlang schulterzuckend fort, bis sie die Einbuchtung der Schlafzimmertür gefunden hat.
Und als sie, im Bett liegend, mit der Zunge über die rauhe Oberfläche der Rohypnol-Tablette fährt, hat Laura ihre Frage bereits vergessen.
Tom redet nicht mit ihr, er hat sie ja gar nicht bemerkt. Auch nicht mit sich selbst.
Was ihm Angst einjagt, ist diese entsetzliche Stille: Er redet gegen die Stille an. Gegen die Einsamkeit.
Laura denkt an ihre Papagena, an die Blütenblätter, die wie vergrößerte Konfetti durch die Luft geworfen werden, und an die Schnecken, die in diesem Moment vermutlich die Wurzeln anfressen, wodurch ein ganz leises Geräusch entsteht, wie von Sand, der durch eine Sanduhr rieselt. Und dann schiebt sie sich noch eine weitere Tablette in den Mund, zur Sicherheit. Und noch eine dritte, für alle Fälle.
Und dann ist da noch Toms Stimme, die sie immer noch hören kann, obwohl die Tür zum Wohnzimmer zu ist und der Sturm draußen unverändert weiterwütet. Hört sich an wie Beten, denkt Laura, doch das Rohypnol hat die Grenzen von Traum und Wirklichkeit in ihrem Kopf längst verwischt und das Mondlicht überzieht ihre Gedanken, hüllt sie ein wie eine warme, bläulich schimmernde Decke aus Milch.
In den Nieselregen vorm Fenster haben sich dunkelrote Blütenblätter gemischt, als würden sie gleich mit vom Himmel fallen. Ein Wunder, denkt Laura und verfällt sogleich in einen neuerlichen Dämmerschlaf. Ein Wunder.
Und nicht einmal sie selbst kann sagen, wer oder was sie wecken wird, und auch nicht wann.