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Doppelter Betrug
»Der edle Herr Giselbert von Kalmithia«, rief der Stadtmarschall feierlich. Ein Jubeln ging durch die Menge, Menschen sprangen von ihren Plätzen auf, Frauen kreischten hysterisch und einige Männer pfiffen begeistert durch die Finger. Das Holz der Sitzbänke knarzte unter dem Hüpfen der bunt gekleideten Masse. Auf den staubtrockenen Turnierplatz ritt ein dünner Ritter in silbern schimmernder Rüstung, die weiße Rose auf seinem Brustpanzer reflektierte das Licht der Sonne und blendete einen der Zuschauer. Die Kapelle begann ein fröhliches Marschlied, der edle Herr ritt auf den Bürgermeister und seine Tochter zu und verbeugte sich, Eva klatschte begeistert in die Hände und lehnte sich zu ihrem Vater: »Wird er gewinnen, Papi?«
»Oh ja, das wird er.« Für diese erste Runde hatte er extra irgend so einen bedeutungslosen Vollpfosten gegen einen der besten Ritter Agramas auf den Platz geschickt. Das wird ein Spektakel geben, dachte er freudig.
Als die Menge sich beruhigt hatte, wurden erneut die Fanfaren gespielt.
»Der Herr Wilfred.« Die Menge blieb stumm. Wilfred saß auf und ritt im Schritt in die Arena und blickte sich um. Er hatte mit einer zurückhaltenden Reaktion gerechnet, doch nicht damit. Nicht einer der Menschen schien auch nur einen Finger für einen kleinen Höflichkeitsapplaus entbehren zu wollen, stattdessen begannen sie, sich wieder auf ihre Plätze zu setzen. Was soll's. Sobald ich gewonnen hab, klatschen sie dann ja doch, versuchte er sich zu beruhigen, doch er merkte, wie ihm immer unwohler zumute wurde. Das Marschlied der Kapelle dröhnte in seinen Ohren, er versuchte, es auszublenden, schaffte es aber nicht. Stattdessen wanderte sein Blick zu den Spielenden hin, Wilfred wollte schreien: »Hört auf!» und »Seid doch still! Bitte!«, doch sein Mund kam ihm wie verklebt vor. Sein Rachen war ausgetrocknet. Wie viel er jetzt doch nur für ein schönes Glas Wein geben würde.
Wilfreds Verbeugung wirkte eher krampfhaft, nicht so elegant wie die des edlen Herren Giselbert. Sie guckt mich nicht mal richtig an, bemerkte er verzweifelt. Vielleicht besser so, dass sie diese Verbeugung nicht gesehen hat. Das Desinteresse des Publikums wurde ihm in diesem Moment noch viel bewusster. Wo eben noch reines Schweigen gewesen war, redeten die Leute jetzt. Und das nicht einmal über das Turnier, stattdessen ging es um die Sonntagseinkäufe, die Tante Hildegard, die Gestern den Kunibert geheiratet hatte und anderen belanglose Tratsch.
Der Bürgermeister erhob sich, die Menge schwieg wieder: »Lasset das Tjosten beginnen.«
Wilfred wendete mit etwas Mühe das Pferd und rief seinen Turnierknappen.
»Ich komme, ich komme.« Ereck griff die Lanze und das weiße Schild, strich sich die langen, roten Haare aus dem Gesicht und rannte auf Wilfred zu. Er hat Angst. Scheiße, so wird das nix. Wie kann man eigentlich so viel Pech ham, verdammte Kacke. Ereck wollte schon sein ganzes Leben lang Ritter werden. Da der Gewinner dieses Turniers zwei Wünsche vom Bürgermeister fordern durfte, hoffte er auf Wilfreds Gewinn und darauf, dass dieser sich dann den Ritterschlag wünschen würde. Dann könnte Wilfred Ereck zu seinem Knappen und später zum Ritter machen. Ereck wusste, dass auch Wilfred unbedingt Ritter werden wollte, allerdings war er sich auch bewusst, dass dieser niemals allein gewinnen könnte. »Jedenfalls nicht gegen diesen edlen Herren Giselbert von Kalmithia«, murmelte Ereck vor sich hin.
Erneut wurden die Fanfaren gespielt, zwei Lanzen senkten sich, zwei Pferde schnaubten und setzten zum Galopp an. Wilfred spürte auf einmal, wie jeder Schritt des Pferdes seinen Körper durchschüttelte. Ohne Vorwarnung schien die Rüstung fünfmal schwerer zu werden, drückte den Mann mehr in den Sattel, der ihm jetzt noch viel ungemütlicher vorkam als schon zuvor. Die Kapelle dröhnte noch immer in Wilfreds Ohren, die begeisterte Menge zog seinen Blick an, lenkte ihn ab. Er versuchte angestrengt, sich auf seinen Gegner zu konzentrieren, schaffte es jedoch nicht richtig. Jeder Blick dorthin ließ seine Hoffnung schwinden, ließ ihn noch verzweifelter werden.
Er hörte das Stampfen des gegnerischen Pferdes und wie es mit jedem Schritt lauter wurde, konnte den Atem des Ritters fast spüren, zielte mit seiner Lanze auf das hoffentlich richtige Ziel. Endlich schaffte er es, seine Umgebung auszublenden. Endlich zählte für ihn nur noch Giselbert, der jede Sekunde näherkam, die Lanze zielsicher ausgerichtet und dann ...
... Das Pferd wieherte, die Rüstung schepperte und die Lanze brach. Der edle Herr Giselbert von Kalmithia, Frauenheld und Sieger von hundert Turnieren, fiel in den Staub, so wie jeder gewöhnliche Mann in den Staub gefallen wäre. Die Fanfaren wurden erneut geblasen. Der Erzmarschall rief unsicher, offensichtlich verwirrt: »Der Sieger steht fest. Herr Wilfred, der Wappenlose, hat das Tjosten gewonnen.« Die Menge blieb still. Niemand klatschte, einige Frauen stöhnten verzweifelt und hinter Wilfred buhten mehrere Männer. Doch das war ihm egal. Er hatte gewonnen, hatte das Tjosten geschafft. All die Sorgen und Verzweiflung fielen von ihm ab. Euphorisch rannte Ereck auf ihn zu, nahm ihm Lanze und Schild ab und führte das Pferd in Richtung des Stalls.
»Bring mir etwas Wein, Ereck.«
»Turnierteilnehmern ist das Trinken verboten, Herr.«
Wilfred murrte und spuckte aus. Seine Stimmung verschlechterte sich abrupt wieder und er begann, an das noch Kommende zu denken.
»Sie ham's geschafft. Warum so deprimiert?« Der Junge lachte, wirkte aber besorgt.
»Freu dich nicht zu früh.« Wilfred zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Morgen muss ich gegen Steffen den Schwarzen antreten. Das wird nicht ganz so leicht werden.«
Ereck kam zu ihm gerannt, half ihm hoch. Der Junge redete nicht, dafür war Wilfred ihm sehr dankbar. Das wars dann wohl mit dem Traum, dachte er. Eine Träne rann durch sein Gesicht. Den Weg zum Zelt nahm er kaum wahr, seinen Körper hatte er scheinbar auf dem Turnierplatz gelassen, zusammen mit seinen Träumen und seiner Hoffnung. Er schloss die Augen und schlief ein.
Im Zelt schlief ein Ritter, doch der Junge ließ sich davon nicht irritieren. Er stellte das Fass in eine Ecke und öffnete es. Der wohlige Geruch agmischen Rotweins erfüllte das Zelt. Vorsichtig legte der Junge ein Glas auf den Boden, daneben kippte er mit einem lauten Knall das Fass um. Der Ritter schreckte auf und rief lauthals nach den Wachen.
Der Junge indes war längst verschwunden.
»Ihr wolltet mich betrügen, habt die Regeln des Turniers gebrochen?«
»Nein, edler Herr. Ich weiß nicht, wie der Wein in mein Zelt gekommen ist, aber ich ...«
»RUHE. Ihr werdet nicht sprechen. Ihr seid kein Ritter.«
»Edler Herr, ich bitte euch!«, rief der Ritter und spuckte aus: »Ich habe euch nicht betrogen. Ich bin ein Ritter, ich würde niemals ...«
»Ihr seid kein Ritter. Ihr seid ein ehrenloser Bastard«, fluchte der Bürgermeister und wendete sich an seine Wachen: »Hängt ihn.«
»Herr, wo ist eure Vernunft ge...«
Die Wachen packten den Ritter, doch dieser stieß einem den Ellenbogen gegen das Kinn und wollte den anderen gerade mit der Faust in den Bauch schlagen, als seine Hand von einem dritten Soldaten aufgehalten wurde. Der Schwarze zappelte, rief: »Sie Hurensohn ... Ich habe nichts getan!«, und andere, noch viel schlimmere Ausflüche, doch die Soldaten konnten ihn mit Mühe wegzerren, hin zu dem Galgen, an dem sie ihn auf der Stelle hängten. Die Menge stöhnte auf, doch niemand wagte es, etwas zu sagen.
Als die Leiche nur noch am Strick baumelte, blau angelaufen und leblos, wandte der Bürgermeister sich an die Menge. Wilfred war irritiert. Überall im Land hörte man die Sagen vom ehrenwerten Steffen, der niemals das Recht brach und seine Gelübde immer ernst nahm, doch wo war dieser Steffen jetzt geblieben? Dieser Steffen hätte niemals Wein getrunken, nicht einmal, wenn es erlaubt gewesen wäre, denn er war bekannter und bekennender Nichttrinker. Jeder wusste das.
»Der schwarze Bastard hat mich betrogen. Jemand muss dementsprechend seinen Platz im Finale füllen. Wer ist der Nächstbeste auf der Liste?« Der Bürgermeister drehte sich zu einem hageren Mann mit einem langen Zettel in der Hand um und blickte ihn erwartungsvoll an. Dieser schien wie aus einem Tagtraum gerissen, blickte dann aber schnell auf seine Liste und las einen Namen vor.
»Herr Wilfred.«
Ereck lächelte zufrieden und schlug sich aufgeregt durch die Menge. Wilfred wird begeistert sein, dachte er, doch als er bei seinem Herrn abkam, sah dieser eher verschreckt aus.
»Herr, was'n los? Sie werden im Finale antreten! Ist das kein Grund zur Freude?«
»Irgendetwas ist hier faul.«
»Was mein'n Sie?« Er wollte das Ganze nicht hier in der Menschenmasse offenlegen, glücklicherweise begann diese aber bereits, sich wieder aufzulösen. Niemand redete. Wahrscheinlich traut sich niemand.
»Ich wäre nicht der Nächste auf der Liste. Und Steffen würde niemals trinken.«
Ereck lehnte sich geheimnisvoll nach vorne. »Richtig«, flüsterte er.
Wilfreds Vermutung wurde also bestätigt. Ohne die um ihn herum immer noch auseinanderströmende Menge zu beachten, schlug er seinem Turnierknappen heftig ins Gesicht. Dieser stöhnte auf und wich zurück. In seinen Zügen zeigte sich nichts als Verwirrung ab. Er hat es nur gut gemeint. Er ist zu Jung, um irgendetwas von Ehre zu verstehen, überlegte Wilfred. Doch dieses Verbrechen würde er niemals verzeihen. Ehre würde ihm gebieten, dem Bürgermeister alles zu erzählen, doch er traute sich nicht. Nicht nachdem er gesehen hatte, wie dieser mit Betrügern umging. Also wendete er sich nur mit strengem Gesicht an Ereck: »Ich werde morgen antreten, aber du verschwindest von hier. Und zwar zackig. Sonst verpfeif ich dich und dann ist dein Gesicht so Blau wie Steffens.«
Der Stadtmarschall rief seinen Namen und Wilfred trieb sein Pferd an. Er rechnete mit keiner besonderen Reaktion des Publikums, wurde aber überrascht, als ein kurzer Applaus ertönte. Ich werde verlieren, ob ich im Sattel bleibe oder nicht. Ereck hat für mich bereits verloren, dachte er bei sich, als er vor dem Bürgermeister eine steife Verbeugung vollführte.
Sein Gegner war der edle Herr Willem von Nettendal, ein kleiner, stämmiger Mann in glänzender Rüstung. Er sieht nicht allzu gefährlich aus ..., dachte Wilfred, doch wirklich viel Hoffnung hatte er trotzdem nicht.
Die Fanfaren wurden gespielt. Wilfred senkte seine Lanze und trieb sein Pferd an. Immer schneller ritten die beiden Kontrahenten aufeinander zu. Wilfreds Gedanken schweiften auch jetzt noch vom Turnierplatz weg, wollten nicht bei seinem Gegner bleiben. Er fühlte sich, wie in die Situation seines ersten Ritts zurückversetzt, denn obwohl diesmal keine nervige Kapelle irgendwelche grauenvollen Marschlieder spielte, plagten ihn die gleichen Gefühle.
Der Ritter aus Nettendal kam immer näher, doch Wilfred bemerkte schon jetzt, dass die Lanze nicht treffen würde. Er konnte es sehen und spürte endlich wieder etwas Hoffnung. Sein Pferd schnaubte, als er es noch heftiger Antrieb. Kurz vor dem entscheidenden Augenblick schloss Wilfred die Augen, er wusste nicht wieso, aber er wollte nicht hinschauen, hoffte nur still und leise und war mehr als überrascht, dass gar nichts passiert. Beide Lanzen trafen ins Leere, hinter ihm fluchte sein Gegner und auch Wilfred dachte an den Heiligen Vater Himmel gerichtet: Vater, verdammt, warum lässt du mich noch länger leiden? Er wollte, dass es endlich vorbei ist, doch nichtsdestotrotz musste er wenden und sein Pferd zum zweiten Mal zum Galopp antreiben.
Dieses Mal war er seiner Sache sicher. Dieses Mal hielt er seine Augen geöffnet und zielte genau auf die richtige Stelle. Er wusste genau, was jetzt passieren würde und ließ dieses Wissen nicht von zweifelnden Gedanken unterbrochen werden. Ich werde gewinnen, sagte er sich Willem reitet schlecht.
Und er gewann. Der edle Herr Willem von Nettendal flog in hohem Bogen aus seinem Sattel und kam mit einem Krachen auf dem Boden auf. Staub wurde aufgewirbelt und versperrte Wilfred für kurze Zeit die Sicht. Als der Staub die Sicht auf das klatschende Publikum freigab, ergriff ihn eine plötzliche Euphorie und er ritt in schnellem Trab einmal an den Tribünen vorbei, die Hand in der Luft, winkend. So wie er es als Kind immer bei den Siegern gesehen hatte. Er bemerkte einen kleinen Jungen im Publikum, der ihn bewundernd anstarrte und winkte ihm zu, erinnerte sich an das große Turnier in Kalmithia, bei dem er in genau dem gleichen Altar auf einem ähnlichen Platz gesessen hatte.
Sein Pferd kam wiehernd vor dem Bürgermeister und dessen Tochter zum Stehen. Ein hübsches Mädchen, dachte er bei sich.
»Sie haben das Turnier ehrenhaft gewonnen und somit zwei Wünsche frei. Wählen Sie weise!«
Wilfred schluckte bei dem Wort ehrenhaft und begann plötzlich, sich unglaublich schlecht zu fühlen. Hab ich das wirklich verdient? Wohl eher nicht. Verdammt, ich sollte es dem Bürgermeister sagen ... doch dann wird er Ereck hängen. Einen Jungen, noch so jung. Er hat mich betrogen, ja sicher, aber konnte er es besser wissen? Er blickte sein Gegenüber lange an, spürte hunderte gespannte Blicke auf seinem Rücken und sah, wie der Bürgermeister immer ungeduldiger wurde.
»Entscheiden Sie sich jetzt, oder Sie gehen leer aus.« Wilfred versuchte, sich zu entspannen, leerte seine Lungen und entschied sich dann zu etwas, mit dem er niemals gerechnet hätte.
»Ich wünsche mir die Ehre eines Ritterschlags und die Hand eurer Tochter«, hörte er sich sagen, verwundert von seinen eigenen Worten.
Wie kann er es wagen?, dachte der Bürgermeister, doch er versuchte, sein Gesicht gleichgültig zu halten. Er hörte, wie die Menge angespannt einatmete. Einige Männer und Frauen fingen an zu tuscheln. Niemand hätte damit gerechnet, jeder wusste, wie wichtig dem Bürgermeister seine Tochter war.
Eva blickte zu ihrem Vater und dann zu dem Mann, der um ihre Hand gebeten hatte. Irgendwie hatte sie schon von Anfang an Angst vor so etwas gehabt, doch ihr Vater hatte ihr versichert, dass das nicht passieren würde. Der Mann sah nicht schlecht aus, keine Frage, aber heiraten? Plötzlich bekam sie Angst, hätte fast geweint, doch sie besann sich wieder und erinnerte sich an alles, was ihr beigebracht wurde. Ihr Gesicht blieb aussagslos.
»So soll es also sein«, sagte der Bürgermeister.