- Beitritt
- 19.06.2001
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Doody Falls
DOODY FALLS
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Prolog
Der schwarze Mann meiner Jugend hieß James T. Fletcher, ein übergewichtiger Grundschullehrer, der an seinen freien Tagen durch das Land fuhr und mit einem stumpfen Jagdmesser achtzehn Frauen ermordete. Er tötete sie nicht einfach. Er ließ sie langsam sterben. Qualvoll. Vor allem langsam. Die Köpfe fand man in einer grauen, mit feinen Linien verzierten Truhe im Schlafzimmer seiner verstorbenen Mutter, an deren Tod Fletcher ausnahmsweise keine Schuld trug. Patricia Fletcher erlag einem Krebsleiden, dass sie zum Erstaunen aller bis zuletzt verschweigen konnte. Ihr mumifizierter Leichnam hockte auf dem schmutzigen Sofa, in ihren Knochenhänden hielt sie eine Schale verschimmelter Cracker, der Fernseher, auf volle Lautstärke gestellt, zeigte in flimmernden Schwarzweißbildern eine beliebte Quizshow auf Kanal Neun. Fletchers Haus, von außen betrachtet schmuck und sauber, glich im Inneren einer Müllhalde. James T. Fletcher, der von seinen Schülern drei Jahre hintereinander zum beliebtesten Lehrer der Schule gewählt wurde, ließ sich teilnahmslos abführen. Er murmelte Sachen, die niemand verstand, und auch keiner wissen wollte. Es war der Zufall, der Fletcher schließlich zuerst hinter Gitter, und nach einem kurzen Prozeß auf den elektrischen Stuhl brachte.
Ein kleiner Junge, zehn Jahre alt, spielte mit seinem zu kurz geratenen Schäferhund Porky im Wald, als er ein Rascheln hörte, und, neugierig, wie zehnjährige kleine Jungen nun einmal sind, sich dem Rascheln näherte, wissen wollte, um was es sich bei diesem unheimlichen Stöhnen und Schnaufen handelte, was hinter dichtem Gebüsch nur darauf wartete, von einem kleinen, zehnjährigen Jungen entdeckt zu werden. Was der Junge, Andy Friedkin, sah, hinterließ Spuren, die einige Jahre lang Gespräche mit Ärzten und Psychiatern zur Folge hatten. Verstört war Andy davongelaufen, begleitet vom kläffenden Porky. Irgendwann war er einer Gruppe älterer Damen vor die Füße gefallen, hatte angefangen zu schreien und sich selbst zu schlagen, und dazwischen immer wieder keuchend den Namen des Grundschullehrers geflüstert, in dessen Klasse er selbst in der zweiten Reihe saß. Danach ging alles sehr schnell. Andy wurde nach Hause gebracht, und Fletcher verhaftet.
Zwanzig Jahre liegen die Morde von James T. Fletcher zurück. Andy nennt mich heute keiner mehr. Wenn ich mein Haus im schwarzen Mercedes der Luxusklasse verlasse, um unten in der Stadt Einkäufe zu erledigen, nennen die Leute mich ehrfurchtsvoll Mister Friedkin. Die Betonung liegt bei Mister. Viele sagen auch Sir. Das R dehnen sie ängstlich, als ob sie beim Aussprechen von Sir eine Verbeugung machen würden. Die meisten sagen gar nichts und verschwinden schnell, wenn ich den Wagen auf dem Parkplatz abstelle, um im Supermarkt Lebensmittel einzukaufen. Für mich ist es bequemer, im Supermarkt einzukaufen. Alle Einkäufe erledige ich selbst, und bis auf eine Putzfrau, die täglich ihren Dienst verrichtet, wenn ich noch schlafe, und einen taubstummen Hausmeister, der sich hauptsächlich um meinen Fuhrpark kümmert, habe ich keine Angestellten.
Bevor die Aktienmärkte das Vertrauen der Anleger verloren, bin ich durch windige Spekulationen reich geworden. Richtig reich. Die Spuren dieser Geschäfte habe ich längst verwischt, ich gelte als eine vorbildliche und schillernde Person der Stadt, auch wenn ich noch nie an irgendwelchen offiziellen Veranstaltungen teilgenommen, oder Beträge zum Ausbau des Krankenhauses getätigt habe. Von solchen Dingen halte ich nicht viel. Wenn überhaupt, lasse ich ab und an eine unbedeutende Summe an irgendwelche gemeinnützigen Stiftungen überweisen. Nicht viel, aber in der Jahresbilanz ist es ein recht ansehnlicher Betrag.
Ich habe nie eine Beziehung gesucht und gefunden, ich lebe einsam in einem Haus, was einhundertprozentig einbruchsicher ist. Ich habe die Einsamkeit bevorzugt und kann damit ganz gut leben. Wenn ich Kommunikation will, durchforste ich die zahlreichen Chatrooms des Internets, um belanglose bis banale Gespräche zu führen. Der einzige Mensch, der mit mir von Angesicht zu Angesicht Gespräche führt, die länger als fünf Minuten dauern, heißt William Kirk, mein Kontoverwalter und persönlicher Berater in der Bank.
Wo ich nur kann, suche ich nach Zerstreuung und Abwechslung. Es gelingt nicht immer.
Wenn ich an den meterlangen Bücherregalen vorbeischleiche, dabei meine Fingerspitzen über die Bücherrücken fahren lasse, überkommt mich manchmal die Erinnerung an Porky, wie ich ihn unter Tränen einschläfern lassen mußte. Wenn ich abends am offenen Fenster sitze, ab und zu am Scotch schlürfe und eine Zigarette nach der anderen rauche, erinnere ich mich an James T. Fletcher. Er war so ein netter Mensch gewesen, so liebevoll zu uns Kindern, und trotzdem, verstehen kann ich es bis heute nicht. Meistens bekomme ich Schüttelfrost, manchmal aber auch schmerzhafte Krämpfe in den Waden. Auf der einen Seite bin ich froh, dass ich, wie auch immer, Anteil daran hatte, dass die unheimlichen Frauenmorde damals in Doody Falls ein Ende hatten, andererseits gäbe ich fast alle antiken und kostbaren Bücher aus meinen Regalen dafür, wenigstens eine Nacht traumlos verbringen zu dürfen. Ich schätze, dass es Fletchers ewige Rache ist, und die kein Arzt, kein Heilpraktiker, kein Psychiater und erst recht keine Drogen in Form von Alkohol jemals auslöschen kann. Egal, wieviel ich trinke, träumen tue ich immer. Ich träume vom schwarzen, übergewichtigen Mann, der in der linken Hand vergilbte Schulbücher hält, und in der rechten ein Jagdmesser mit blutiger, stumpfer Klinge, an der kleine Haarbüschel kleben. Es sind die Haare der achtzehn Frauen, die James T. Fletcher damals in Doody Falls und in anderen Städten ermordete. Ich wache nicht mehr schreiend auf. Meine Sachen, die ich anhabe, sind auch nicht mehr verschwitzt. Ich wache ganz normal auf und weiß ganz genau, was ich geträumt habe. Mit jeder Nacht wird mir etwas von mir genommen. Wenn ich an einen Gott glauben würde, so würde ich behaupten, dass mit jedem Traum vom schwarzen Mann meine Seele kleiner wird, bis irgendwann nichts mehr übrig ist. Vielleicht sterbe ich dann. Vielleicht bin ich dann aller Gefühle und Empfindungen entledigt, und schlafe vierundzwanzig Stunden am Tag einen traumlosen Schlaf. Nichts wünsche ich mir sehnlicher.
Im Doody Falls News des gestrigen Tages stand mit dicken Buchstaben eine Schlagzeile, die mich mehr als beunruhigt hat: "WIEDER VERMISSTE FRAU IN DOODY FALLS. POLIZEI HAT AUF FRAGEN KEINE ANTWORTEN". Ich habe den Doody Falls News nur aus Gewohnheit abonniert. Normalerweise schaue ich kurz auf die erste Seite und lege das Blatt dann auf den Stapel der anderen Ausgaben, die, wenn ein Meter Höhe erreicht sind, von der Putzfrau entsorgt werden. Es ist kurz vor Mitternacht, neben mir auf einem kleinen Tisch steht eine Flasche Scotch, daneben liegen zwei Päckchen Zigaretten. Der Nachthimmel wird nicht wie sonst von dicken, dunkelgrauen Wolken verdeckt. Er ist klar, sogar Sterne kann ich erkennen. Sie schimmern gelblich, wirken wie Fremdkörper, die einen Weg in mein Bewußtsein gefunden haben. Zitternd ziehe ich an der Zigarette, schlucke den Rauch hinunter, bis ich ihn wieder keuchend hinaus huste. Irgendwo in der Nähe bellt ein Hund. Vermutlich ein Spaziergänger, der seinem vierbeinigen Freund eine letzte Gelegenheit gönnt, im Freien sein Geschäft zu verrichten. Ich lächle und denke an Porky. Porky war ein guter Hund. Stets loyal, und nie hat er Aggressionen gegen mich gehegt. Ich schnippe die Zigarette aus dem Fenster. Zu meinen Füßen liegt der Doody Falls News. Der zweite Psychiater, der sich mit mir beschäftigt hatte, Doktor Francis Newman, meinte in der dritten oder vierten Sitzung, die wir abhielten: "Zu den Wurzeln der Angst zurückzukehren, erfordert nicht Verstand, und auch nicht Mut. Vielmehr erfordert es die nötige Aktzeptanz, sich der Angst überhaupt stellen zu wollen." Vielleicht hatte Newman Recht. Ich lehne mich zurück und sehe zum Himmel, der mittlerweile von Sternen übersät ist. "Du mußt das nicht tun, Andy", höre ich mich selbst flüstern. Ich greife nach der Flasche Scotch. "Du mußt das wirklich nicht..." Ich trinke einen Schluck. Natürlich werde ich es machen. Irgendwas tief in meinem Inneren hat es längst beschlossen. Vermutlich ist es die einzige Möglichkeit, den schwarzen Mann für immer aus meinen Träumen, aus meinem Leben zu verbannen. Während ich am Scotch nippe, verwässert sich mein Blick, wird es immer schwieriger, meine Augen offen zu halten. "Der ist für dich, Porky!", flüstere ich, trinke einen letzten Schluck und stelle unbeholfen die Flasche auf den Tisch zurück. Mich erwartet der Schlaf. Der schwarze Mann wartet auf mich. Wieder einmal. Wie jede Nacht.
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01
Ich hatte mich gegen den Mercedes, gegen den BMW, gegen den Jaguar, und erst recht gegen den Bentley entschieden. Die Sportwagen zog ich erst gar nicht in Betracht. Für Doody Falls reichte meiner Meinung nach ein Volvo der gehobenen Mittelklasse. Ich hinterließ der Putzfrau eine Nachricht und dem Hausmeister Anweisungen für den Fuhrpark, packte die drei Reisetaschen in den Kofferraum und fuhr zur Bank. Ich stellte fest, dass der Volvo Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen in der Stadt hatte. Während ich mit meinem Mercedes ohne Bedenken bei Rot über die Kreuzung fahren, oder dort abbiegen konnte, wo ich es gerade wollte, hatte ich hinter dem Lenkrad des Volvos mit Unanehmlichkeiten zu kämpfen, die ich nicht gewohnt war. Wütend hupten Autofahrer in ihren amerikanischen Kleinwagen, als ich einfach so die Spur wechselte. Der Polizist, der mich anhielt, als ich ein Stopschild überfuhr, war zuerst launisch, dann, als er erkannte, wer den Volvo fuhr, den er angehalten hatte, äußerst verunsichert. Erst eine Dollarnote im dreistelligen Bereich konnte ihn wieder etwas beruhigen. Mittels Autotelefon hatte ich kurzfristig mit William Kirk einen Termin vereinbart. Der kleine Mann, der stets mißtrauisch wirkte und ständig schwitzte, erwartete mich bereits auf dem Kundenparkplatz. Zugegeben, er war etwas irritiert, als ich aus dem Volvo stieg, doch er faßte sich recht schnell.
"Mister Friedkin, Sir." Geradezu dienerhaft half er mir beim Aussteigen. "Sie haben Glück. Ich konnte es nach einigen Telefonaten noch einrichten."
Ich lockerte die Krawatte etwas, schlug elegant die Wagentür zu und drückte den kleinen Knopf auf dem Zündschlüssel. Es gab einen hohen Piepton, Vorder- und Rücklichter gingen kurz an, und gleich wieder aus, ich nickte zufrieden und reichte dann Kirk die Hand. "Der Volvo ist gesichert!", sagte ich scherzhaft.
Kirk zwang sich zu einem Lächeln und deutete zur Bank. "Sie wollen eine größere Summe Bargeld abheben, Mister Friedkin?"
"Ich verreise, und dort, wo ich hinfahre gibt es keine Bank, nicht einmal einen Geldautomaten."
Für Kirk mußte dies wohl absolut inakzeptabel sein. "Ich verstehe nicht... Keine Bank?"
Wir hatten den Eingang für besondere Kunden erreicht, eine unscheinbare Tür, ohne Klinke, dafür mit einem schmalen Schlitz für die Magnetkarte, die jeder Mitarbeiter der Bank besaß. Ich hatte so eine Karte natürlich auch, schließlich war ich der Kunde der Bank. Umständlich suchte ich in meinen Hosen- und Innentaschen nach der Karte. "Also ich weiß nicht, wo ich die wieder..."
"Kein Problem, Sir", sagte Kirk, der wie aus dem Nichts seine Karte hervorzauberte und sie zielsicher in den Schlitz schob. Es gab ein leises Summen, dann öffnete sich die Tür einen Spalt nach innen. Kirk lächelte zufrieden, als ob er eine großartige Sache wie die Präsentation der Weltformel geleistet hatte, oder ähnliches. Er hielt mir die Tür auf. "Nach Ihnen, Sir."
"Danke", murmelte ich und betrat die Bank. Auf dem Weg zu den Geschäftsräumen für die wirklich wichtigen Kunden fragte ich Kirk, wie es seinen zwei Töchtern ging, wie es um seine Ehe stand, und ob er sich immer noch mit der Kellnerin aus dem LaBelle traf, einem vorzügliches Restaurant für italienische Küche. Er hatte es mir beiläufig erzählt, und jedes Mal, wenn ich mit Kirk zusammentraf, sprach ich das Thema an, eigentlich nicht notwendig, dennoch tat ich es.
Zutiefst beschämt ließ sich Kirk zu einem kaum wahrnehmbaren "Ja" hinreißen.
"Wissen Sie, William", sagte ich und schlug ihm fast freundschaftlich gegen den Arm, "Wenn es gut für Sie ist, dann ist es doch okay, nicht wahr?" Sein Gesicht hellte sich schlagartig auf, und ich war mir sicher, ihm den Tag gerettet zu haben.
Schließlich saß er in der für ihn typischen, gekrümmten Haltung vor seinem Computer, während ich am Fenster stand, Zigaretten rauchte und nach draußen sah. Kirk räusperte sich. "Habe ich Sie am Telefon richtig verstanden, Mister Friedkin? Sie sprachen von... Fünfzigtausend?"
Ich drehte mich um und nickte kurz. "So ist es."
"Ein teurer Urlaub", bemerkte Kirk, der flink irgendwelche Befehle auf der Tastatur eingab.
Mir war es ein Rätsel, warum ich nicht einfach irgendwo eine Unterschrift hinkritzeln und das Geld in Empfang nehmen konnte. "Nun, ich habe gewisse Standards, was Reisen betrifft, verstehen Sie?"
Kurz hielt er inne, zuckte mit den Mundwinkeln und machte dann weiter. Kleine Schweißperlen kullerten über seine Stirn. Obwohl er ein starkes Deodorant benutzte, stank Kirk nach Schweiß und ständiger Unruhe. Ein unangenehmer Geruch. "Wo soll es denn hingehen?", fragte er.
Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet, und ich verschluckte mich fast am Zigarettenqualm. Ich hustete und keuchte angestrengt: "Dod... Doody Falls."
"Doody Falls?" Kirk klickte mit der Maus irgendwelche Buttons an und lehnte sich zurück. "Kenne ich nicht? Wo soll das liegen? Im Süden?"
"Unwichtig!", wiegelte ich ab. "Was ist nun mit der Auszahlung?"
"Alles in Ordnung, Mister Friedkin", sagte Kirk freundlich und stand auf. "Ist alles vorbereitet. Ihre Reisekasse wartet auf Sie."
Fünfzehn Minuten später verabschiedete mich der Chef der Bank, Zack Broker, persönlich und wünschte mir einen erholsamen Urlaub. William Kirk geleitete mich zum Wagen. "Gute Fahrt, Mister Friedkin!"
"Ja, werde ich haben... Danke." Ich gurtete mich an, startete das Navigationssystem und rollte langsam vom Parkplatz. Eine äußerst charmante Frauenstimme verkündete: "Fünfzig Meter. Links." Im Rückspiegel waren Kirk und die Bank verschwunden. Ich suchte nach meinen Zigaretten und mußte enttäuscht feststellen, dass ich diese wohl in Kirks Büro vergessen hatte. "Du mich auch!", fluchte ich, beugte mich etwas nach rechts und kramte im Handschuhfach nach Kaugummi oder Bonbons. Beides war nicht vorhanden. "Toll! Echt toll!" Wütend schlug ich mehrere Male gegen das Lenkrad. Und gleichzeitig war es aber auch amüsant: Ich hatte fünfzigtausend Dollar hinten auf der Rückbank liegen, ein Betrag, der irrational hoch war für einen Aufenthalt in Doody Falls, geradezu extrem. Und ich hatte keine Zigaretten. Ich seufte und atmete tief durch, dann fuhr ich solange in der Stadt umher, bis ich endlich einen Laden gefunden hatte, der Zigaretten verkaufte. Zum Supermarkt zu fahren erschien mir zu umständlich, außerdem konnte ich die Verkäuferinnen nicht leiden. Dem alten Mann in seinem kleinen Laden drückte ich eine Hundertdollarnote in die Hand ("Ja, das nächste Mal kaufe ich acht Packungen, versprochen!") und stieg mit vier Schachteln Marlboro wieder in den Volvo. Die erste Zigarette tat gut, die zweite konnte ich bereits wieder genießen. Zwanzig Minuten und vier Aussetzer des Navigationssystems, bedingt durch das Abwürgen des Motors meinerseits, später verließ ich die Stadt Richtung Doody Falls.
Auf der einsamen Fahrt über die endlose, stur geradeaus zeigende Straße begleiteten mich Pink Floyd, Mike Oldfield und Metallica. Experimentelle bis sehr laute Musik ließ mich nicht einschlafen, was ich sehr zu schätzen vermochte, denn nichts war zermürbender als das Gefühl, der einzige Mensch auf dem Planeten zu sein. Kein Auto kam mir entgegen, oder überholte mich. Links und rechts gab es nur eine Landschaft aus weißem Sand, übersät mir braunen Felsbrocken. Die Klimaanlage hatte ich auf Höchststufe geschaltet, trotzdem war es heiß im Wageninneren, so dass ich öfters anhalten mußte, um mich draußen etwas abzukühlen, und einfach an den Straßenrand zu pinkeln. Der Bordcomputer, dem ich alle fünfzig Meilen einen neuen Frauennamen gab, verkündete Meile um Meile monoton immer wieder die selben zwei Wörter: "Checkpoint. Geradeaus." Ich schaltete das Navigationssystem schließlich aus und verließ mich auf meine eigenen Fähigkeiten, den Volvo eine Straße stundenlang geradeaus steuern zu können. Ich ließ mich von Metallica in höchster Lautstärke berieseln, was gewiss meinen Ohren schadtete, mir aber egal war. Ich wollte so schnell wie möglich nach Doody Falls. Ich wollte so schnell wie möglich wissen, was mich dazu getrieben hatte, dieses elende Kaff aufzusuchen. Neben mir auf dem Beifahrersitz lag die Ausgabe des Doody Falls News. "Geht es wieder los?", schrie ich und hämmerte im Takt zu Metallica mit der linken Hand gegen das Lenkrad. Schon einmal waren Frauen verschwunden, von denen man nur noch Köpfe fand.
"WIEDER VERMISSTE FRAU IN DOODY FALLS. POLIZEI HAT AUF FRAGEN KEINE ANTWORTEN"
Ich warf die Zeitung auf den Rücksitz neben die Sporttasche, in der das Geld war. Fünfzigtausend Dollar. Die dröhnende Musik versetzte mich in eine Art Rausch. Das Gaspedal durchgedrückt raste ich über die Straße. "Porky! Porky! Porky!", schrie ich. Und plötzlich tauchte das kleine Schild am Straßenrand auf. Ich bremste. Die Reifen quitschten, und der Volvo kam schlingernd zum Stehen. 'Doody Falls. Nächste Ausfahrt.', las ich und bekam eine Gänsehaut. Ich war da. Vielleicht noch drei, höchstens fünf Meilen. Ich schaltete das Radio aus. Die einsetzende Stille erschreckte mich ein wenig, aber nach einigen Sekunden ging es wieder. Ich war Stille seit Jahren gewohnt. Die Ausfahrt lag direkt vor mir. "Tja, Porky..." Ich nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die letzte, die ich noch hatte. Auf dem Rücksitz und auf dem Boden des Wagens lagen mindestens ein Dutzend leere Wasserflaschen, die ich während der Fahrt ausgetrunken hatte. "Dann wollen wir mal..." Ich startete den Wagen und bog die Ausfahrt ab.
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02
Kaum, dass die ersten Häuser zu erkennen waren, war mir klar, warum ich über eine im Grunde genommen die Bezeichnung nicht verdienende Straße entlangfuhr, und über jedes Schlagloch fluchte. In Doody Falls, die Kleinstadt, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, waren wieder Frauen verschwunden. Deshalb schlug mein Herz mit jedem Meter schneller, den ich der Stadt näher kam. Seit Ewigkeiten war ich nicht mehr hier gewesen, und dennoch kam mir alles vertraut vor. Die großen Kastanienbäume mit den kranken, von Raupen zerfressenen Blättern. Die verrosteten Traktorskelette am Straßenrand, die sich keinen Milimeter von der Stelle gerührt hatten. Die kleinen Einfamilienhäuser mit ihren Gärten, in denen das Gras wild wucherte. Und natürlich die Kirche, deren Glockenturm Jahre vor meiner Geburt eingefallen war. Nichts hatte sich verändert. Es schien, als ob die Zeit in Doody Falls stehengeblieben war. Ich warf einen Blick auf die im Lenkrad eingelassene Funkuhr. Es war früher Abend, und die Sonne zeigte ihre typische Rotfärbung, wenn sie kurz davor war, sich langsam über den Horizont zu schieben. Im Schritttempo steuerte ich den Volvo über das graue Kopfsteinpflaster. Ab und zu sah ich, wie Kinder oder Jugendliche zwischen den Häusern hin und her huschten. Das hatte ich als Kind auch getan, meistens mit Porky, manchmal mit einigen Freunden. Lächelnd zündete ich mir eine Zigarette an. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass beim Erscheinen meines Volvos eine Menschenmasse zusammenkommen würde, die staunend und ehrfürchtig zugleich die silberne Karosserie des Wagens berührten und auf ein Wunder warteten, so wie einst die Affenmenschen in Kubricks Meisterwerk 2001. Stattdessen sah ich mich einer Geisterstadt ausgesetzt. "Tja, Porky... Keiner daheim." Natürlich konnte es auch sein, dass, je dunkler es draußen wurde, keiner mehr einen Schritt vor die Tür setzte, aus Angst, entführt zu werden, ganz egal, ob man einen Schwanz, oder ein Paar Titten hatte. Ich redete mir ein, dass es sich so verhalten mußte und fuhr weiter Richtung Zentrum. Langsam überkam mich auch die Müdigkeit, und ich begann mich zu fragen, ob es hier mittlerweile ein Hotel, oder wenigstens etwas ähnliches gab. Seufzend mußte ich mir eingestehen, völlig überhastet die Fahrt nach Doody Falls angetreten zu haben. Das Zentrum, der Mittelpunkt der Stadt war erreicht. Ich fuhr an den Straßenrand und kümmerte mich nicht weiter darum, dass ich auf einem Behindertenparkplatz stand. Weit und breit hatte ich kein einziges Auto gesehen. Als ich aus dem Wagen stieg, kam mir stickige Luft entgegen, es roch nach Rauch, als ob irgendwas irgendwo verbrannt wurde. Ich sah mich um. Wie im restlichen Teil der Stadt, den ich bisher gesehen hatte, gab es auch hier keine Veränderungen, hatte sich selbst hier im Kern von Doody Falls nichts getan. Der Verfall schien sich unaufhaltsam festgesetzt zu haben. Das alte Kino wirkte einsturzgefährdeter denn je. Die Lichter an der Tankstelle waren aus, die zwei Zapfsäulen, so konnte ich es aus der Ferne erkennen, waren außer Betrieb. Der Putz an den Häusern bröckelte. Selbst das Gitter vor dem Fenster der Polizeistation klapperte immer noch, obwohl kein Windstoß daran zerrte. Es hatte schon immer geklappert, seit ich es das erste Mal gesehen hatte. Und auch, als ich Sheriff Pledge gegenüber saß, und er mir Fragen über meinen Aufenthalt mit Porky im Wald stellte, hatte das Gitter geklappert. Hinter mir piepte es. Ich hatte vergessen, die Wagentür zu schließen. Ich schloss sie, das Piepen hörte auf, und im selben Moment öffnete sich die Tür der kleinen Polizeistation.
Die zierliche Frau, die mit den Armen wild umherfuchtelte und mir Wortbrocken zurief, die ich nicht verstand, kam mit schnellen Schritten auf mich zu.
Ich hob die Arme etwas nach oben und rief ihr zu: "Was sagten Sie?"
"Sie dürfen dort nicht..." Die Frau blieb stehen und betrachtete den Volvo.
Mir kam es vor, als ob sie das erste Mal so etwas wie Luxus in ihrer Gegenwart verspürte. "Entschuldigung, was?", fragte ich.
Sie deutete auf das völlig verdreckte Schild, auf dem man mit viel Phantasie das Zeichen erkennen konnte, was Menschen mit Behinderungen berechtigte, genau dort zu parken, wo mein Volvo stand. "Sie dürfen da nicht parken, Sir!"
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann mich das letzte Mal ein Mensch mit Sir angeredet hatte, ohne dabei seine Würde ins Klo zu spülen. So, wie die Frau das Sir aussprach, tat es richtig gut. "Oh..." Ich räusperte mich.
"Würden Sie dann bitte den Wagen zurücksetzen?"
Ich ließ es drauf ankommen. "Sehen Sie hier irgendeinen anderen Wagen außer meinen?"
Sie seufzte und zuckte mit den Schultern. "Sie werden Ihr Fahrzeug also nicht von diesem Parkplatz für Behinderte entfernen?"
"Also bitte, ich..."
"Würden Sie mir bitte Ihren Führerschein zeigen, Sir!", sagte die Frau und postierte dabei die linke Hand an das Gürtelhalfter, in dem eine kleine Pistole steckte.
Mir war klar, dass ich einen weiteren Schritt der Provozierung nicht tätigen durfte. "Okay, Sie haben ja Recht. Ich habe falsch geparkt." Ich öffnete die Tür des Volvos und stieg ein. Dann setzte ich den Wagen vier Meter zurück. "Zufrieden?", fragte ich die Frau beim Aussteigen.
Die Anspannung, die sie gehabt hatte, schien wie verflogen. "Vielen Dank, Sir." Sie nickte mir anerkennend zu. "So einen Wagen sieht man hier nicht so oft... Eigentlich gar nicht."
Erst jetzt fiel mir das kleine Namensschild über ihrer Brusttasche auf. Ich blinzelte und konnte 'Judy Carlye' aus den verblichenen Buchstaben entziffern. "Ich möchte hier einige Tage verbringen", sagte ich freundlich.
"Sie wollen was?", fragte Judy entsetzt. Augenblicklich verkrampfte sie wieder. "Ihren Führerschein! Bitte!"
"Ich habe hier früher gewohnt, gut zwanzig Jahre ist das her." Ich reichte ihr meinen Führerschein.
Judy kniff die Augen zusammen, sah abwechselnd zu mir und zu dem Foto auf der Plastikkarte. "Sind Sie verwandt mit..."
"Nein!", beeilte ich mich zu sagen. "Mit Hollywood habe ich nichts zu tun." Kaffee! Ich brauchte unbedingt Kaffee. Geradeso konnt ich mir ein herzhaftes Gähnen verkneifen.
"Ah..." Sie gab mir meinen Führerschein zurück. "Und was wollen Sie hier, Mister Friedkin?"
"Es geht um die Morde." Klar und deutlich hatte ich es gesagt. Über mich selbst erschrocken winkte ich beschwichtigend ab. "Ich weiß auch nicht..."
Für einen Moment herrschte zwischen uns beiden betretenes Schweigen. Judy kratzte mit den Fingernägeln an ihrem Halfter, berührte dabei einige Male den Griff der Pistole, und ihre Mundwinkel zuckten. So ähnlich wie bei Kirk, fiel mir auf.
Langsam holte ich die zerknitterte Packung Zigaretten aus meiner Hosentasche hervor. "Vielleicht rauchen wir erst mal eine?", fragte ich und bot ihr eine Marlboro an.
Sie lehnte dankend ab. "Sie sind wegen der Morde hier?"
Ich nickte, sagte aber nichts.
"Wir sollten das drinnen klären, nicht hier draußen, wo uns jeder sehen und hören kann, Mister Friedkin." Judy deutete zur Polizeistation.
Der Platz war immer noch gespenstisch leer, kein Mensch weit und breit zu sehen. Aber aus Erfahrung wußte ich, dass Kaffs wie Doody Falls eigene Gesetze hatten. Irgendwo lauerte immer irgendwas, auch wenn man es nicht sehen oder hören konnte. "Gern", antwortete ich freundlich. Vielleicht bekam ich sogar einen Kaffee. Ganz egal, ob er meinen Ansprüchen genügen würde, ich hatte ungeheure Lust auf eine Tasse heißen Kaffee, ohne Zucker und ohne Milch, einfach schwarz wie die Nacht außerhalb einer grell beleuchteten Großstadt.
"Setzen Sie sich, Mister Friedkin!" Judy nahm einen dicken Stapel Papier Akten vom Stuhl und legte sie auf den Schreibtisch, direkt neben noch dickere Stapel Akten und Blätter. "Entschuldigen Sie die Unordnung. Aber wir hatten hier die letzte Zeit..." Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen. Schließlich sagte sie: "Stress!"
Ich winkte ab und nickte mitleidig. "Kein Problem." Der Stuhl, der etwas versetzt zum Schreibtisch stand, war dreckig. Ohne zu zögern setzte ich mich und vergaß einfach, dass ich eine Hose trug, die mehr gekostet hatte, als die gesamte Innenausstattung der Polizeistation von Doody Falls. In meiner Hand hielt ich immer noch die Packung Zigaretten. Ich kramte eine heraus, steckte sie mir in den Mund und begann, nach dem Feuerzeug zu suchen. Judy hatte hinter dem Schreibtisch Platz genommen und mich beobachtet. Wortlos öffnete sie eine Schublade und holte Streichhölzer hervor, die sie mir zuwarf. Ich hatte den Eindruck, dass sie auf irgendwas wartete. "Danke", murmelte ich und zündete mir die Zigarette an. Gierig sog ich den Qualm ein und blies ihn stoßweise wieder aus meinen Lungen.
"Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass es hier Morde gab, oder gibt?", fragte Judy und lehnte sich etwas zurück. Sie sah an mir vorbei, fixierte einen Punkt an der mit grauen Tapeten verzierten Wand. "Keiner spricht hier von Morden, Sir. Es gab zwei Entführungen. Aber es gab keinen Mord!" Ihre Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. "Augenblick mal!" Als ob sie etwas gestochen hatte, sprang sie auf. "Andrew Friedkin?", fragte sie.
"Wie ich bereits sagte, ich wohnte hier früher." Ich gab mich betont lässig, obwohl ich innerlich zitterte und ich am liebsten irgendwo in die Ecke gekotzt hätte.
"Andy Friedkin? Der Junge, durch den Fletcher gefasst wurde?", hakte Judy nach. Sie war sich wohl noch nicht hundertprozentig sicher.
Als der Name Andy fiel, zuckte ich unwillkürlich zusammen, und ich verlor die Zigarette. Sie fiel zu Boden und rollte unter den Stuhl. "Ja, genau der!", presste ich mühsam hervor, während ich mich runterbeugte und mit den Fingern nach der Zigarette suchte.
Judy schüttelte den Kopf. "Feuerfester Boden, Mister Friedkin. Lassen Sie sie einfach ausbrennen, okay?" Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lief vor dem Schreibtisch hin und her.
Ich stand auf und entdeckte die Kaffeemaschine. Sie stand auf dem schmalen Fensterbrett, und die dicke Staubschicht verriet, dass hier niemals Kaffee gekocht wurde. "Wegen den Morden, also... Ich meine, wegen den Entführungen... Die zwei vermissten Frauen." Ich zeigte zum Fenster hinaus. Erst jetzt fiel mir auf, wie schmutzig es war. "Es stand im Doody Falls News, wissen Sie?"
"Den was?", fragte Judy und sah mich ratlos an. "Reden Sie von einer Zeitung?"
Das überraschte mich so sehr, dass ich mich setzten mußte. Plump fiel ich auf den harten Holzstuhl zurück. "Ja... Ja natürlich eine Zeitung!" Ich schluckte. "Seit acht Jahren habe ich das Ding im Abonnement. Und Sie fragen, ob es eine Zeitung ist?"
Judy rieb sich die Augen. "Verstehen Sie mich nicht falsch, Sir, aber Sie müßten es doch genau wissen. Doody Falls hat nicht einmal annähernd tausend Einwohner. Wir können von Glück reden, dass es hier eine Tankstelle und einen Supermarkt gibt, die alle zwei Wochen beliefert werden. Wir können von Glück reden, dass die Kinder hier auf eine Schule gehen können, und nicht nach Greenlake fahren müssen. Das ist aber auch schon alles. Und Sie kommen mit dem Doody Falls News?"
"Die Zeitung liegt im Volvo!", entgegnete ich trotzig. "Ich kann sie Ihnen zeigen!"
Das Blinken und Piepsen des Volvos, als ich den kleinen Knopf am Zündschlüssel drückte, beeindruckte Judy Carlye in keinster Weise. Interessiert sah sie mir zu, wie ich mich in den Wagen beugte. "Warum sind Sie weggegangen?", fragte sie.
Ich tastete mit den Händen den Boden unter dem Beifahrersitz ab. "Meine Eltern wollten es so. Und dafür bin ich Ihnen mehr als dankbar." Das stimmte. Wären wir damals in Doody Falls geblieben, würde ich heute entweder in einem der tristen Häuser hausen, oder ich hätte mich schon längst umgebracht. "Keine tausend Einwohner, was?", rief ich über die Schulter. "Damals waren es weitaus mehr."
"Kann sein..."
'Ja, genau!', dachte ich verbittert. So wie Doody Falls traf es viele Kleinstädte in der Provinz, im Nirgendwo des amerikanischen Traums. Wenn der Verfall erstmal weit genug vorangeschritten war, konnte nichts und niemand diesen mehr aufhalten. Selbst Menschen wie Judy Carlye nicht. Mit meinen Fingerspitzen erwischte ich die Zeitung und zog sie hervor. "Touchdown!" Ich kletterte aus dem Volvo und präsentierte stolz einer mehr als verwirrten Judy den Doody Falls News. "Was sagen Sie jetzt?"
Ganz langsam streckte Judy ihre Hand nach der Zeitung aus. "Ich verstehe das nicht." Ihr Gesichtsausdruck, als sie den Doody Falls News schließlich in ihrer Hand hielt, sprach Bände. "Wie ist das möglich?" Sie las die Schlagzeile. "Wieder... Wieder vermisste Frau in Doody Falls. Polizei hat auf Fragen keine... Keine Antworten." Judy sah zu mir.
Und als ich in ihre Augen sah, kam mir schlagartig etwas in den Sinn, was mir von Anfang an keine Ruhe gelassen hatte. "Was ist mit den Vermißten? Kümmert sich nur die Polizei hier vor Ort darum?"
Judy ließ die Zeitung fallen. "Was?"
"Haben Sie, oder die Verwandten, denn keine Hilfe von außerhalb angefordert?"
"Was?" Judys Augen wurden wässrig.
Das hatte ich nicht gewollt. Frauen, die in Tränen ausbrachen, wenn ihre Auffassung der Dinge über den Haufen geworfen wurden... Das war nicht mein Ding. "Hilfe von außerhalb", sagte ich leise. "Was ist damit?"
Judy runzelte die Stirn. "Einer vom FBI war hier, ja..." Sie ging in die Knie und hob die Zeitung auf. "Mehr aber auch nicht!" Mit spitzen Fingern hielt sie die Zeitung in den Händen. "Er versprach Hilfe, aber das ist lange her."
Ich ging ebenfalls in die Hocke und berührte sie am Arm. "Was soll das heißen?"
Judy zuckte mit den Schultern und sah mich mit einem traurigen Lächeln an. "Das soll heißen, dass uns hier niemand helfen wird. Doody Falls steht mit seinen Problemen allein da. Das heißt es, Mister Friedkin!" Sie gab mir die Zeitung zurück. "Die letzten Jahre waren ein einziger Alptraum. Die Menschen verlassen die Häuser nicht mehr. Alles ist wie ausgestorben."
Ich stand auf und kramte nach meinen Zigaretten. "Ich verstehe das nicht. Die Behörden können doch nicht einfach..."
Judy unterbrach mich: "Doch, das können sie, Sir. Und sie haben es längst getan." Sie warf einen Blick auf die Zeitung. "Da treibt jemand ein böses Spiel mit Ihnen, schon acht Jahre lang. Haben Sie Feinde?"
Außerhalb von Doody Falls war ich ein reicher und mächtiger Mann, vor dem alle anderen gehörigen Respekt und eine ernorme Angst hatten. Aber kaum, dass ich mit dem Volvo die Ausfahrt genommen hatte, spielte dies alles keine Rolle mehr. Ich fühlte mich absolut hilflos. Im Grunde henommen hatte ich nur einen einzigen Feind, der mir von Nacht zu Nacht alles abverlangte: James T. Fletcher, schemenhaft im Dunkeln, mit blutigem Messer bewaffnet, und mit diabolischem Grinsen ausgestattet. "Feinde? Nicht, dass ich wüßte...", antwortete ich leise. Die Zeitung in meiner Hand begann zu rascheln. Plötzlich kam heftiger Wind auf, und ehe ich mich versah, trudelte die Zeitung auch schon in der Luft. "Was zum..." Der Doody Falls News flatterte im Wind hin und her, trieb immer weiter nach oben, bis er von einem Augenblick zum nächsten einfach so verpuffte. Eine kleine, schwarze Staubwolke war zu sehen, die jedoch schnell wieder verschwand.
"Wenn Sie klug sind, Mister Friedkin, dann verlassen Sie die Stadt, so schnell Sie können", murmelte Judy neben mir, die so wie ich zu der Stelle sah, wo eben noch die kleine, schwarze Staubwolke war.
Ich stand da und glotzte nach oben, zu mehr war ich nicht fähig.
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03
Judy Carlye hatte es geschafft, mich in den Volvo zu bekommen. Als sie sich an mir vorbei zum Gurt beugte, streifte mich ihr Haar am Kinn, gleichzeitig roch ich billiges Shampoo.
"Sie fahren einfach weg und vergessen die ganze Angelegenheit! Okay?" Sie gurtete mich an und schob sich an mir vorbei zurück aus dem Wagen. "Haben Sie verstanden?"
Den Eindruck, den ich in der Polizeistation gehabt hatte, bestätigte sich. Judy Carlye wartete auf irgendwas. Langsam legte ich meine Hände an das Lenkrad. "Was war das eben? Die Zeitung... Sie ist einfach so verschwunden..." Ich sah in den Rückspiegel und war nicht überrascht, dass ich tiefe Augenringe hatte. "Ich meine... Kawusch! Und weg ist sie! Wie kann das sein?" Ich gähnte, die Müdigkeit überrollte mich erneut.
Judy schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht!" Sie sah sich um. "Nun fahren Sie schon!"
"Auf wen oder was warten Sie eigentlich?", wollte ich wissen. Wie von Geisterhand gelenkt steckte ich den Zündschlüssel in das Schloss und drehte ihn nach vorn, bis er einrastete. Die Elektronik wurde eingeschaltet. Die Uhr zeigte '26:77 pm' an, völlig unrealistisch. "Judy?"
Sie blinzelte mit den Augen. "Fahren Sie los, Andrew! Und kommen Sie nie wieder!" Judy schlug die Wagentür zu, drehte sich um und rannte zur Polizeistation zurück.
"Judy!" Wütend sah ich ihr nach. Vielleicht hatte sie Recht, und ich sollte einfach losfahren, Doody Falls hinter mir lassen, wenn möglich für immer und ewig. Und dann sah ich die Sonne. "Das gibts doch nicht! Das kann doch nicht sein!" Die Sonne hatte sich keinen Milimeter von der Stelle gerührt. Sie zeigte immer noch die ihr urtypische Rotfärbung, und jetzt fiel mir auch auf, dass es nicht dunkler geworden war. "Unmöglich! Das ist einfach nicht möglich! Das ist..." Das Autotelefon klingelte. Ich riss den Hörer an mich und schrie: "Ja!" Ein Röcheln...
"..."
Ein Atmen wie das eines Asthmakranken... "Hallo?"
"..."
"Wer ist da, verdammt!" Nichts, nur ein uraltes Röcheln. Wütend legte ich auf und drehte den Zündschlüssel eine weitere Position vorwärts. Der Motor sprang an, ich drückte die Kupplung und fuhr langsam los. Wieder klingelte das Autotelefon. Ich ignorierte den grellen Ton. Stattdessen starrte ich fassungslos auf den Kastanienbaum, der wie aus dem Nichts erschienen war, und nun direkt auf mich zurollte. Schlagartig war ich hellwach. Bei jeder Umdrehung splitterten Stücke der Rinde ab und stoben in alle Richtungen, wie Pfeilspitzen. Zerfressene Blätter flogen in der Luft umher. Sie sahen wie kleine Schmetterlinge aus, denen man die Flügel ruiniert hatte. Panisch legte ich den Rückwärtsgang ein, trat auf das Gaspedal und riss gleichzeitig das Lenkrad herum. Um Milimeter verfehlte der mächtige Stamm meinen Volvo. Der Baum rollte vorbei, glitt kurz danach senkrecht nach oben, flog eine Kurve und schoss wieder genau auf mich zu. "Ach du heilige Scheiße!" Hastig wechselte ich den Gang, beschleunigte, rammte das Behindertenparkplatz-Verkehrsschild, welches umknickte, und fuhr los, einfach geradeaus, raus aus Doody Falls' Zentrum, Richtung Schnellstraße. Es regnete Kastanienblätter, so dicht, dass ich kaum noch die Straße erkennen konnte. Ich jagte den Volvo über die Schlaglöcher. Im Rückspiegel sah ich den Baumstamm, der immer näher kam. Ich fuhr an den halb zerfallenen Häusern vorbei und glaubte, hinter den schmutzigen Fenstern Menschen zu sehen, schemenhaft und unbeweglich. Ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Die Straße vor Augen, die zur Schnellstraße führte, fuhr ich mit Vollgas an den Traktorskeletten vorbei, durch dichten Blätterregen, verfolgt von einem Baumstamm, der es auf den Volvo abgesehen hatte. Doch ich hätte es besser wissen müssen. Erstaunlich, dass ich fast abgebrüht reagierte. Die Kastanienbäume mit ihren von Raupen zerfressenen Blätter lagen auf der Straße und bildeten eine undurchdringliche Barriere aus Holz. Ich trat auf die Bremse, riss das Lenkrad um und schaffte es, die Drehung hinzubekommen. Ich beschleunigte augenblicklich und bog in letzter Sekunde ab. Der Baumstamm streifte den Volvo und raste an mir vorbei in die anderen Bäume. Es gab einen lauten Knall, und ich konnte mir gut vorstellen, wie abertausende kleine Holzsplitter wütend durch die Luft sausten, aber ich wollte es nicht sehen. Frustriert riss ich den Rückspiegel ab. Mir blieb nichts anderes übrig, als wieder in die Stadt hineinzufahren. Meine Hände zitterten, meine Sachen waren von kaltem Angstschweiß durchnässt. Entgegen aller Vernunft hielt ich an, riss den Gurt zur Seite, öffnete die Tür und ließ mich nach draußen fallen. Ich landete in einer Pfütze aus dreckigem Wasser und durchweichten Kastanienblätter. Ich richtete mich etwas auf und übergab mich. Hustend wischte ich mir Erbrochenes vom Mund. Es regnete keine Blätter mehr, und als ich am Wagen lehnte, glaubte ich, dass es sogar ein bißchen dunkler geworden war. Vielleicht hundert Schritte von mir entfernt standen die alten Traktoren, deren Metallstreben und Eisenabdeckungen wie Knochen aussahen. Ich hörte ein Geräusch und zuckte zusammen. Fliegende Baumstämme, die einem nach dem Leben trachteten, konnte ich in meiner Situation nicht gebrauchen.
Es waren Schritte. Jemand kam auf den Wagen zu, blieb kurz stehen, schnaufte und hustete, und ging dann um den Volvo herum. "Judy?", rief ich schwach. "Sind Sie es?" Es handelte sich nicht um Judy Carlye. Vermutlich kauerte sie gerade in der kleinen Polizeistation, versteckt hinter turmhohen Papierbergen, den Blick auf die verstaubte Kaffeemaschine gerichtet. Es war ein Mann im Regenmantel, der vor mir stand. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, da die große, glänzende Kapuze dunkle Schatten warf.
"Du siehst nicht gut aus... Wir sollten jetzt gehen!", brummte der Mann mit brüchiger Stimme.
Ich blinzelte mit den Augen. "Und wohin?" Es fing wieder an, Kastanienblätter zu regnen. Zu jeder Zeit hätte ich mich mit diesem Phänomen auseinandergesetzt, doch jetzt lehnte ich kraft- und hilflos an meinem verbeulten Volvo der gehobenen Mittelklasse. "Wohin wollen Sie mit mir gehen?"
Der Mann ging stöhnend in die Knie, als ob ihm die Bewegung Schmerzen bereitete. Dann stülpte er die Kapuze von seinem Gesicht. Graue Bartstoppeln wucherten an seinem Kinn und an seinen Wangen. Er hatte beinahe schwarze Augenringe, und die Augen selbst sahen müde aus, als ob er seit Jahren nicht mehr geschlafen hatte. Der Mann nickte mir zu und sagte: "Weg von hier!"
"Vernünftig..." Ich kippte zur Seite, landete wieder in der Pfütze, schluckte dreckiges Wasser, spürte weiche Blätter an meinen Lippen, und schließlich schloss ich die Augen, um etwas zu schlafen. Ich war hundemüde. "Porky...", hörte ich mich wie von weiter Ferne murmeln. "Porky, das wird wohl nichts mehr werden..." Dunkelheit umgab mich, und aus irgendeiner finsteren Ecke des Irrationalen kam James T. Fletcher auf mich zu, diabolisch grinsend, wie ich es gewohnt war.
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04
Der Geruch von frischem Kaffee ließ mich aufwachen. Ich war vollkommen orientierungslos, hatte keine Ahnung, wo ich mich befand, aus welchen Gründen ich die Orientierungslosigkeit hatte. Der Kaffee roch gut. Eine Hand hielt mir eine Tasse hin, nach der ich gierig griff, etwas Kaffee verschüttete und schnell trank, als ob ich seit Wochen keine Flüssigkeit zu mir genommen hätte. Der Kaffee tat gut. Er half, mich zurechtzufinden. Ich hockte auf einer an einigen Stellen aufgerissenen Matratze. Ich war in eine muffig riechende Decke eingehüllt, aus weiter Ferne hörte ich einen Hund heulen, und vor mir, auf einem zerbrechlich aussehenden Holzstuhl saß ein Mann. Ich nippte an der Tasse, verschluckte mich und hustete.
Der Mann stand lächelnd auf. "Du warst eine Weile weg", sagte er. Sein Lächeln verschwand nicht aus seinem Gesicht. Stattdessen wurde es immer breiter. Es war ein Lächeln der Sorte 'Mann, ich weiß ganz genau, wer und was du bist!'. Der Mann schleppte sich mit schweren Schritten zu einer kleinen Kochnische. "Der Kaffee ist gut?", rief er, und bewegte seinen Kopf leicht nach hinten. Er wartete eine Antwort nicht ab. "Na, Kaffee kochen kann ich!"
Ich erkannte ihn wieder. "Sie... Sie haben mich weggebracht?"
"Ich war zufällig da. Mein Gott, der Baumstamm hatte es in sich, was?"
Ich hörte, wie er eine Schublade öffnete. "Und Sie sind?" Mir fiel ein, dass er mich duzte. Kannte er mich? War ich ihm schon einmal begegnet? Sein Gesicht... Ich mußte sein Gesicht sehen... Die Schublade wurde mit einem dumpfen Geräusch geschlossen. Der Mann drehte sich um und kam auf mich zu. In seiner Hand hielt er einen Umschlag. Jetzt konnte ich sein Gesicht sehen. Und ich erinnerte mich, wie er um den Wagen gekommen war, sich zu mir hinabgebeugt hatte. "Großer Gott... Sie... Aber... Sie sind Gerald Pledge!"
Er kniff die Augen zusammen und setzte zurück in den Holzstuhl. Dabei strich er mit seinen Fingern sanft über den Umschlag. "Andrew Friedkin...", flüsterte er bedächtig. "Ich hatte dich früher erwartet! Sehr viel früher!" Er tippte auf den Umschlag. "Na, vielleicht ist es noch nicht zu spät."
"Sind Sie Pledge? Gerald Pledge? Der Sheriff? Sheriff Gerald Pledge?"
Pledge, wenn er es denn war, kniff die Lippen zusammen. "Und Porky? Was macht der Hund?"
"Der..." Ich ließ die Tasse zu Boden fallen. Wie in Zeitlupe drehte sie sich um die eigene Achse und landete schließlich auf der Unterseite. Kein einziger Tropfen Kaffee war verloren gegangen.
Langsam, ohne hastige Bewegungen beugte sich Pledge zu der Tasse hinab und hob sie auf. "Das alles ist ein wenig... kompliziert." Er hielt mir die Tasse hin. "Magst du noch?"
Ich rappelte mich von der Matratze auf und humpelte ungelenk zum Fenster. Mir taten sämtliche Knochen weh, dazu kamen noch schmerzhafte Kopfschmerzen. Ich mußte mich am Fensterbrett abstützen, um nicht hinzufallen. Durch die dunklen, staubigen Scheiben hindurch konnte ich kaum etwas erkennen, nur, dass es mittlerweile richtig dunkel geworden war. "Verdammt nochmal!" Ich drehte mich um und sah zu Gerald Pledge, der auf dem Holzstuhl saß und eine Tasse Kaffee in der Hand hielt. "Was geschieht hier?"
"Es ist nicht einfach, die Sache zu erklären", antwortete Pledge merkwürdig gelassen. "Wie ich schon sagte, es ist ein wenig kompliziert, Andrew." Er nickte zum Fenster. "Was siehst du da draußen?"
Angestrengt starrte ich aus dem Fenster und versuchte, irgendwas zu erkennen. Außer zwei Kastanienbäumen und meinen Volvo sah ich nichts. "Bäume... Meinen Wagen... Sonst nichts..." Wie kam mein Wagen hierher? Wo war ich überhaupt?
Als ob er mit der Antwort gerechnet hatte, stand Pledge auf und kam zu mir ans Fenster. "Sicher?"
"Ja, schon..."
Pledge war tatsächlich überrascht. "Siehst du es denn nicht?"
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. "Nein. Was denn?"
Er tippte gegen das Glas und flüsterte: "Neben dem rechten Baum, ein paar Meter entfernt..."
"Okay!", brummte ich und sah zu der Stelle. "Da ist absolut..." Die Worte blieben mir im Hals stecken. Es war dunkel draußen. Sehr dunkel, dennoch konnte man einiges erkennen, wenn man sich anstrengte. "Unglaublich...", flüsterte ich. Pledge nickte amüsiert. "Was ist das?", wollte ich wissen.
"Keine Ahnung." Er hustete kurz. "Ich nenne es einfach... Loch."
Besser hätte ich es auch nicht bezeichnen können. Das Loch war drei Meter vom rechten Kastanienbaum entfernt, und schwebte etwa einen halben Meter über dem Boden. 'Nein!', korrigierte ich mich. 'Es schwebt nicht! Es ist einfach da und... Großer Gott! Man kann nichts erkennen!'
Pledge ging zurück zu seinem Holzstuhl. "Es ist ein paar Tage nach Fletchers Tod erschienen", bemerkte er beiläufig.
Das saß. Erschrocken tappste ich einige Schritte vom Fenster weg. "Was soll das heißen?" Ich stolperte und fiel unsanft auf den Boden. Mein Blick wurde verschwommen, alles drehte sich um mich herum. Ich sah, wie Pledge aufsprang und auf mich zulief. Er packte mich an den Schultern, rief mir irgendwas zu, was ich nicht verstehen konnte. Brechreiz überkam mich. Ich drehte mich zur Seite, kotzte auf den Boden und fiel nach vorn. Ich sah noch, wie Sheriff Gerald Pledge mißmutig den Kopf schüttelte, aber auch das nur noch vage. Dann wurde es dunkel. Wieder einmal.
Der Junge wirft den nassen Stock weit weg, in Richtung Wald. "Schnapp ihn dir, Porky!", ruft er ausgelassen. Porky, ein zu kurz geratener Schäferhund, bellt und rennt dem Stock hinterher. Erfreut läuft der Junge ihm nach. Heute war ein guter Tag für Andy. In der Schule wurde er von Mister Fletcher für seinen Fleiß gelobt. Der Lehrer hatte ihn nach vorn geholt, und die anderen Mitschüler hatten geklatscht. Das hatte der Lehrer so eingeführt. Und da bis jetzt jedes Kind schon einmal vor der gesamten Klasse stand, war das auch kein Zeichen von Strebertum. Andy sieht nach Porky. "Ja, Porky! Guter Porky!" Artig bringt der Hund den Stock zurück. Andy nimmt ihn und wirft ihn wieder weg. Dieses Mal weiter als sonst. Direkt in den Wald hinein. Natürlich hat er von den verschwundenen Frauen gehört. Ein paar stammten aus Doody Falls, die anderen kamen aus Städten und Dörfern in der Umgebung. Porky zögert, wartet auf den Befehl, den Stock zu holen. In den Wald hinein sind es vielleicht zwanzig großzügige Schritte. Andys Mutter hat ihm verboten, im Wald zu spielen. Porky schaut zu seinem Herrchen hinauf. "Also gut!", schreit Andy und rennt los, auf den Wald zu. "Hol den Stock, Porky! Hol den Stock!" Und dann sind die beiden auch schon mitten im Wald. "Porky!", ruft Andy. Er hört den Hund bellen. "Porky!" Hechelnd kommt Porky von links angerannt, und wirft Andy beinahe um. Doch statt des Stocks hat er zwischen den Zähnen einen Damenschuh. "Porky? Was hast du da?" Der Hund läßt den Schuh fallen. Andy geht in die Hocke. Es ist ein schwarzer Schuh, aus feinem Leder. Seine Mutter trägt Schuhe wie diesen zu besonderen Anlässen. Flecken sind auf dem Leder. Rötliche Flecken. Flecken aus... "Blut!", flüstert Andy. Er weiß, dass er nach Hause laufen sollte, aber die kindliche Neugier siegt. "Porky!" Sanft streicht er mit der Hand dem Hund über das glänzende Fell. "Wo hast du das her?" Porky will losrennen, aber Andy hält ihn fest. "Du mußt leise sein, Porky! Wir beide müssen leise sein!" Er gibt dem Hund mit der Hand ein Zeichen. Porky stupst Andy kurz an. "Gut so! Und jetzt los!" Sie laufen los, Porky bleibt dicht bei Andy. Schon wenig später erreichen sie einen Pfad. Die Spuren, dass hier jemand entlanggeschleift wurde, sind klar zu sehen. Und dann hören die beiden etwas. Zuerst Porky, der den Schwanz einzieht und sich an Andys Bein schmiegt. "Ruhig!", flüsterte der Junge, obwohl es überflüssig ist. Andy, zehn Jahre alt, eher von schmächtiger Gestalt, legt sich auf den Bauch. Er hört, wie jemand schnauft und keucht. Langsam und vorsichtig robbt er über den Waldboden auf das Gebüsch zu, hinter dem die unheimlichen Geräusche liegen. Porky bleibt zurück, weigert sich, mitzugehen. Andy ist enttäuscht, aber schon im nächsten Moment ist der zu kurz geratene Schäferhund vergessen. Leise hat er sich durch das Dickicht geschlichen, und nun sieht er etwas, was er in seinem Leben niemals vergessen wird. Andy sieht den Rücken eines dicken Mannes, der auf einer Frau hockt, deren Beine leicht zucken, deren Hände am Waldboden liegen und mit den Fingerspitzen zitternd und ruckartig in den Waldboden stoßen. Der dicke Mann hat etwas in seiner Hand. Andy kann es nicht erkennen, wohl aber erahnen. Tief in seinem Inneren weiß er, dass etwas Schreckliches sich vor seinen Augen abspielt. Der Mann hebt den Arm, und Andy erkennt ein Messer, groß und scharf. Der Arm des Mannes senkt sich, die Frau unter ihm gurgelt unverständliche Worte. Der Mann stöhnt, seufzt, atmet schwer. Das Messer geht immer wieder nach oben, um für einige Sekunden in der Luft zu verweilen. Jedes Mal ist mehr Blut an der Klinge zu sehen. Andy stockt der Atem. Er will nicht weiter zusehen, kann aber den Blick nicht abwenden. Erst, als der dicke Mann das blutverschmierte Messer zur Seite wirft, aufsteht, die Hose runterläßt, und auf die tote Frau uriniert, kann Andy Luft holen. Er weiß, um wen es sich bei dem Mann handelt. Verarbeiten kann er es jedoch noch nicht. Vorsichtig kriecht er zurück. Als er sich in Sicherheit wähnt, steht er auf und rennt los. Er ignoriert Porky, der an seiner Seite ist, und bellt, als ob die Welt untergegangen ist. Er ignoriert den Schrei des Mannes, den er hinter sich hört. Erst, als er erschöpft und völlig außer Atem vor drei älteren Damen zusammenbricht, fängt er an, es rauszulassen. Er schreit. Und dazwischen flüstert er den Namen des Mannes, den er im Wald gesehen hat. Aber hauptsächlich schreit er. Und er hört nicht mehr auf. Andy schreit. Er schreit sich die Seele aus dem Leib. Er schreit. Er schreit...
"Er schreit!" Schweißgebadet saß ich aufrecht auf der Matratze. "Mein Gott, ich habe wie am Spieß geschrien...", flüsterte ich.
Pledge stand am Fenster und sah nach draußen. Vor ihm auf dem Fensterbrett stand eine Tasse mit Kaffee. Ich konnte es riechen. "Bist zusammengebrochen, hast gekotzt und geschlafen. Und du hast von schlimmen Dingen geträumt, nicht wahr?" In seiner Hand hielt er den Umschlag, den er aus der Schublade geholt hatte.
"Wieviel..."
"Zehn Minuten, höchstens!" Pledge seufzte und trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. "Aber keine Angst!", fügte er sarkastisch hinzu, "Hier hat sich nichts verändert!"
Ich brauchte unbedingt eine Zigarette. Die Packung lag auf dem Tisch. Um zu meinen Zigaretten zu gelangen, mußte ich aufstehen, worauf ich eigentlich keine Lust hatte. "Mister Pledge?"
Er sah zu mir. "Hm?"
"Die Zigaretten da auf dem Tisch. Können Sie sie mir rüberwerfen?" Pledge legte den Kopf etwas quer und schien nachzudenken. 'Mein Gott!', dachte ich. 'Geh einfach zu dem Scheißtisch und wirf mir die verdammten Zigaretten rüber!'
Pledge stellte die Kaffeetasse auf das Fensterbrett zurück, legte den Umschlag daneben und ging zu meiner Freude langsam zum Tisch. Aber anstatt die Packung mir zuzuwerfen, zerknüllte er sie in seiner Hand. Grimmig warf er die Reste zum Mülleimer, der bereits übervoll war. "Rauchen ist nicht gut!", murmelte er und ging zurück zum Fenster.
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Mir war auch nicht ganz klar, wie er das gemeint hatte. Das Rauchen tödlich sein konnte, wußten schon Kinder im Vorschulalter. Irgendwie hoffte ich, dass er die Zigaretten wegen dem Loch weggeschmissen hatte. Pledge stand stumm am Fenster und starrte durch die Scheiben hindurch. Das gab mir Gelegenheit, mich umzusehen. Ich wußte immer noch nicht, wo ich mich eigentlich befand, außer, dass ich in Doody Falls gestrandet war. Es war eine Holzhütte, in die mich der alte Sheriff gebracht hatte. Ein einziger großer Raum, mit nur einem Fenster, einer kleinen Kochnische, einer kaputten Matratze, dazu ein Tisch und ein Stuhl. Sonst gab es nichts weiter. Es gab nicht einmal eine Toilette. Angewidert stand ich von der Matratze auf. Und ich glaubte zu fühlen, dass die kleinen Pickel, die entstehen, wenn man sich vor etwas ekelt, sich durch die Haut pressten, um der trostlosen Welt Guten Tag zu sagen. "Sie sagten, dass Loch wäre kurz nach Fletchers Tod entstanden?", fragte ich, um das Schweigen zu brechen, die merkwürdig kalte Atmosphäre ein wenig aufzutauen.
"Hm", nickte Pledge. "Weißt du..." Er kratzte sich am Kinn, drehte sich schließlich um und sah mich traurig an. "Fletcher wurde an dem Tag geröstet, als deine Eltern mit dir die Stadt verlassen haben."
Ich erinnerte mich. Auf dem Rücksitz des alten Fords hatte ich gesessen, und dem immer kleiner werdenden Haus nachgeschaut, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte. Porky lag neben mir und döste friedlich auf seiner kuscheligen Decke, die er so liebte. "Ja..."
Pledge nickte. "Der elektrische Stuhl ist eine effiziente Tötungsmaschine", fuhr er fort, und seine Augen leuchteten, als ob ihn die Erinnerungen an vergangene Zeiten etwas mehr Leben in seinen ausgemergelten Körper einflößten. "Ich war dabei, als Fletcher auf dem Stuhl saß. Er atmete so heftig und angestrengt, dass der Stoff vor seinem Mund sich bei jedem Keuchen aufblähte. Als die Hebel umgelegt wurden, als der Strom durch Fletcher jagte... Ich meine, Fletcher war ein fettes Arschloch! Er war... unglaublich dick! Und weißt du was? Ich saß in der ersten Reihe, ich war ganz nahe dran. Und ich glaubte, dass Fletcher für einen kurzen Moment in der Luft schwebte. Der Strom ließ die Muskeln des Drecksacks dermaßen anspannen, dass Fletchers Fettmassen für den Bruchteil einer Sekunde schwebten." Pledge hielt inne und schüttelte den Kopf. "Es war irgendwie faszinierend. Und gleichzeitig bizarr. Jedenfalls..." Er räusperte sich, griff nach der Tasse und trank einen Schluck Kaffee, der mittlerweile kalt geworden sein mußte. "Es hat nicht lange gedauert. Vielleicht fünf Minuten, mehr nicht. Auf dem Rückweg nach Doody Falls habe ich Radio gehört, mich abgelenkt. Und die Tage danach verlief alles normal, es herrschte Ruhe, die Angst war verschwunden. Ein paar Mal bin ich noch in den Wald gegangen, einfach nur, um nachzusehen, ob noch was da war, was die Typen von der Bundespolizei vielleicht nicht beachtet hatten." Er sah wieder nach draußen.
Während seiner Erzählung über Fletchers Hinrichtung hatte ich mich auf den Holzstuhl gesetzt, dabei immer wieder sehnsüchtig zu der zerknüllten Packung Zigaretten gesehen, die neben dem Mülleimer auf dem Boden lag. Mir war klar, was als nächstes kommen würde. "Sie haben das Ding da draußen entdeckt, richtig?"
"Eigentlich war es unmöglich!", antwortete Pledge. "Damals war es nicht so groß wie jetzt. Die Größe des Kopfes einer Stecknadel, also eigentlich absolut unsichtbar! Und trotzdem... Ich stand einen halben Meter von der Stelle entfernt, wo es sich jetzt befindet. Ich sah es! Es zog förmlich meinen Blick auf sich! Ein winziger, dunkler Punkt, der sich so abstrakt von seiner Umgebung unterschied. Ein winziger Punkt, der nur aus... Es bestand nur aus... Ein Nichts! Ein kleines Loch! Und mit jedem Tag wuchs es, kaum sichtbar! Ich war fasziniert, hielt es für ein außergewöhnliches Naturphänomen. Mir kam in den Sinn, dass in wissenschaftlichen Publikationen von Schwarzen Löchern die Rede war. Unvorstellbar massive Dinger, die so schwer sind, dass sie alles in sich hineinsaugen und nichts mehr rauslassen, selbst Licht verschwindet dort sang- und klanglos. Aber wäre es wirklich ein Schwarzes Loch gewesen, selbst ein absoluter Winzling nur, dann hätte nichts mehr existieren dürfen. Gar nichts! Uns würde es nicht geben, alles wäre weg!" Pledge klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das Fenster. "Es ist einfach nur ein Loch! Nichts kommt raus, nichts geht rein!"
"Das klingt, als ob es nicht von dieser Welt wäre..." Mehr als dieser platte Spruch war mir nicht eingefallen.
"Ist es auch nicht!", beeilte sich Pledge zu sagen. Er winkte ab und grinste. "Ich glaube, es ist Zeit für einen ordentlichen Drink!"
Zeit war ein gutes Stichwort. Ich schaute mich um, ob es im Raum Uhren gab. Ich hätte zu gern gewußt, wie spät es war. Ich erinnerte mich an die Anzeige der Uhr im Volvo. "Haben Sie eine Uhr?"
Pledge war zur Kochnische gegangen und kramte in Schubläden und kaputten Regalen. Dann hielt er zwei Plastikbecher und eine Flasche in den Händen. "Was?"
"Wissen Sie, wie spät es ist?" Zu meinem Erstaunen war es kein billiger Fusel, wie ich erfreut feststellte. Guter Scotch, zwar nicht die beste Marke, aber immerhin...
"Vergiss es! Zeit spielt hier schon lange keine Rolle mehr!" Er schenkte ein, stellte den Scotch auf den Tisch und reicht mir einen Plastikbecher. "Nur zu!", sagte er leise. "Draußen ist es kalt. Und bevor wir zum Loch gehen, sollten wir uns ein wenig aufwärmen!"
"Sie wollen zu dem Ding raus?", fragte ich entsetzt und kippte den Scotch in einem Zug runter. Es tat gut. "Zusammen mit mir?" Jetzt fehlte nur noch eine Zigarette, und der Moment wäre perfekt gewesen.
"Ich sagte doch, dass nicht reingeht, und nichts rauskommt. In seiner Nähe haben wir nichts zu befürchten." Pledge schwenkte seinen Plastikbecher ein paar Mal hin und her, bevor er einen kleinen Schluck nahm. Er fügte sehr leise, so dass ich es kaum verstehen konnte, hinzu: "Es hat nur Auswirkungen auf die Stadt, auf Doody Falls." Er stellte den Becher ab und kniff die Augen zusammen. "Und auch auf dich, Andrew!"
Ich griff nach der Flasche und goss Scotch in meinen Becher. "Auf mich?" Es war mir längst klar, spätestens, als der Doody Falls News einfach so in der Luft wie von Zauberhand verschwunden war. Aber ich mußte es von jemand anderem hören. Pledge mußte mir sagen, dass es sich so verhielt.
"Du bist doch hier, oder nicht?", fragte der Sheriff grinsend.
"Das bin ich." Ich holte tief Luft und seufzte. "Der Doody Falls News war auch hier. Vielleicht verpuffe ich ebenfalls zu einer kleinen, schwarzen Rauchwolke und..."
"Moment mal!", unterbrach mich Pledge. "Was ist der Doody Falls News?" Irritiert sah er mich an.
Ich nickte. Sein Gesichtsausdruck glich fast dem von Judy Carlye, als sie das erste Mal von der Zeitung gehört hatte. "Vor acht Jahren habe ich den Doody Falls News abonniert. Acht Jahre lang kam Woche für Woche eine Ausgabe. Seit einem Jahr gab es die Zeitung sogar täglich." Pledge stand da und versuchte zu begreifen, von was ich eigentlich redete. Ich konnte ihm seine Fassungslosigkeit nicht verübeln. "Zwei Frauen sind entführt worden. In großen, dicken Buchstaben stand es auf der Titelseite. Deswegen bin ich hier." Erneut leerte ich mit einem einzigen Schluck den Becher.
"Es gibt hier keine Zeitung!", sagte Pledge. "Doody Falls hatte nie eine eigene Zeitung! Solche Dinge kamen nur von außerhalb!" Waren seine Augen zusammengekniffen, legte er dazu nun noch die Stirn in tiefe Falten. Pledge sah wütend aus. Äußerst wütend. Er ging zum Fenster und stützte sich auf dem Fensterbrett ab. "Mein Gott! Dann hat es vor acht Jahren Doody Falls verlassen!" Seine Fingerspitzen streiften über das Fensterbrett, zeichneten imaginäre Kreise und Rundungen. "Ich habe diese Hütte damals gebaut, um das Loch zu beobachten. Vielleicht ein Jahr lang habe ich versucht, es zu begreifen. Zwecklos... Ich weiß nur, dass es größer wird. Ich weiß nur, dass der tote Fletcher etwas damit zu tun hat. Ich weiß nur, dass nichts rein, und... Aber das sagte ich schon." Er senkte den Kopf und schloss die Augen. "Zwanzig Jahre lebe ich in dieser Hütte, habe Beruf und Familie aufgegeben!
Ich kramte in meinen Erinnerungen, und ich glaubte, dass Pledge nie eine Frau, geschweige denn Kinder gehabt hatte. Mir kam in den Sinn, dass wir Kinder uns damals hinter vorgehaltener Hand zugeraunt hatten, dass der Sheriff schwul war. Der Gedanke ließ mich lächeln, gleichzeitig verspürte ich ein dringendes Bedürfnis. "Ich muß mal!", sagte ich.
Pledge hustete und kratzte sich am Kinn. "Das mit den zwei Frauen hat nichts mit dem Loch zu tun!"
"Kann sein." Mir war es inzwischen egal geworden. Irgendwo in der Welt verschwanden immer Menschen. Ich hatte mich damit abgefunden, ein Teil, vielleicht sogar ein großes, in einem Puzzle zu sein, welches zwar erkennbar, aber dennoch undurchschaubar war. "Gibt es hier eine Toilette?" Offenbar hatte Pledge meine Frage nicht gehört.
Der alte Mann schüttelte den Kopf. "Pissen mußt du?"
"Ja."
"Merkwürdig..." Er fasste sich in den Schritt. "Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal pissen war, oder scheißen... Es ist..." Pledge sah sich um. "Wo ist nur der verdammte..." Schnell ging er zum Tisch zurück und griff nach der Flasche. Hastig setzte er an und trank großzügig. Scotch lief aus seinen Mundwinkeln das Kinn hinab. Hustend schmiss er die Flasche weg. "Möglicherweise bin ich längst tot, wer weiß..."
So wie er aussah, konnte ich mir die Tatsache, dass ich mich mit einem lebenden Leichnam unterhielt, sehr gut vorstellen. "Es ist dringend!", sagte ich gereizt.
Pledge winkte ab. "Schon gut! Hinter der Hütte, der kleine Verschlag..." Als ob es ihm unangenehm war, zuckte er mit den Schultern. "Ist halt kein Hotel hier."
Bevor ich die Tür öffnete, um nach draußen zu gehen, rief er mir zu: "Brauchst nicht wieder reinkommen! Wir treffen uns vor der Hütte!"
Ich nickte kurz und öffnete die Tür. Frische, kalte Luft kam mir entgegen, sie wirkte wie eine Wand, gegen die ich ankämpfen mußte. Meine Blase gewann, und einige Sekunden später stand ich in dem Verschlag und pisste in eine bestialisch stinkende Grube. Dabei hatte Pledge ziemlich glaubhaft sich selbst gefragt, wann er zuletzt seiner Notdurft nachgegangen war. Aber das war unwichtig. Ich hielt die Luft an und sah nach oben. Ich war in einem Alptraum gefangen, dass war mir klar. Was mich am meisten beschäftigte, war, ob ich jemals heil wieder aus Doody Falls herauskommen würde.
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05
Pledge hatte gesagt, dass ich die Zeit vergessen sollte. Keuchend stand ich vor dem Verschlag, mir war schlecht, und die Umgebung sah ich nur leicht verschwommen. Drinnen, als ich vor der Grube stand, roch es abartig nach Verwesung und anderen schlimmen Dingen. Jetzt stand ich einen Schritt vom Verschlag entfernt, und die Luft war frisch, beinahe wie an einem milden Frühlingsmorgen. War es stockdunkel gewesen, als ich die Hütte verlassen hatte, so war es nun eindeutig heller, als ob ich Stunden in dem Verschlag verbracht hatte.
Pledge stand vor der Hütte und schwang einen Baseballschläger aus Aluminium hin und her. "Na komm schon, Junge!", rief er mir zu. "Gehen wir!" Er stapfte los, ließ den Schläger über die Motorhaube des Volvos gleiten und verschwand hinter dem Wagen.
"He!", rief ich und rannte ihm torkelnd nach.
So spektakulär das Loch war, so unspektakulär wirkte es. Es war einfach nur da, als ob ein Maler aus Versehen mit der falschen Farbe einen Klecks in ein Bild gesetzt hatte. Ich war fasziniert von der unglaublichen Schwärze, die so vollkommen, so absolut dunkel war. Das Loch war ein Etwas aus purem Nichts. "Wahnsinn!", flüsterte ich zu Pledge, der neben mir stand.
"Judy war neulich hier draußen bei mir", sagte der alte Mann plötzlich. "Sie sagte was von diesen verschwundenen Frauen." Er ging in die Hocke und stützte sich auf dem Baseballschläger ab. "Weißt du, das ist völlig unwichtig!" Pledge spuckte aus. "Das Loch ist wichtig!"
Ich hatte erwartet, dass, wenn ich um das Loch herumging, ich immer in einen Kreis von nahezu anderthalb Metern blicken würde. Doch ich irrte. Seitlich betrachtet war es nur ein schmaler Strich, vielleicht so dick wie ein Blatt Papier.
"Als es erschien, veränderte sich Doody Falls!", sagte Pledge und starrte in das Loch. "Plötzlich fielen die Vögel tot vom Himmel. Häuser brannten. Menschen starben. Viele zogen weg. Nur wenige blieben. Alles veränderte sich. Doody Falls wurde..." Er holte tief Luft, seufzte und fuhr fort: "Ich meine... Es war wie eine Verwandlung, Andrew."
Ich stand neben ihm, den Blick auf das Loch vor mir gerichtet. "Es ist hier völlig fehl am Platz, gehört hier einfach nicht hin!", sagte ich. Es hatte den unweigerlichen Untergang von Doody Falls beschleunigt, das war mir klar. Nicht rasend schnell, aber immer noch schnell genug, um die Dinge völlig außer Kontrolle geraten zu lassen. Es gab Bäume, die durch die Luft flogen. In den alten Häusern hatten sich die Menschen verkrochen. Alles wirkte wie ausgestorben. Doody Falls war ein Stern, der früher vielleicht einmal hell leuchtete. Doch dann kam James T. Fletcher, ein wichtiges Puzzlestück direkt aus dem Kern, und mordete, und brachte somit den Lauf der Dinge durcheinander. Und als ich Fletcher hinter diesem Gebüsch sah, wie er auf die tote Frau urinierte, da mußte der Stern angefangen haben, sich aufzublähen, sehr schnell. Und schnell genug pulsierte Doody Falls, stieß Materie in Form von Menschen ab, die, so wie meine Familie es tat, den sterbenden Ort verließ. "Was, wenn das Loch schon immer hier war?", fragte ich und sah zu Pledge. Er sagte nichts, hockte da und kniff die Augen zusammen. "Wenn es schon seit Ewigkeiten, seit Anbeginn der Zeit hier ist?" Nicht nur Menschen hatten Doody Falls verlassen. Auch kleine Teilchen in Form einer Zeitung, die es gar nicht gab, wurden abgestoßen in die Welt außerhalb, in die Welt, in der ich lebte, und die ich hätte niemals verlassen dürfen. Und hatte sich Pledge nicht gefragt, ob er schon tot war? Was, wenn es stimmte? Wenn der alte Mann, der neben mir hockte, bereits seit Jahren tot war und nur aus einem bestimmten Grund als Geist unmittelbar in der Nähe des Lochs verweilte? Mir kam der Umschlag in den Sinn, den Pledge vor wenigen Stunden noch in seiner Hand hielt. Oder waren es Minuten? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. "Was ist in dem Umschlag?", wollte ich wissen. "Sie sagten, dass es vielleicht noch nicht zu spät sei. Noch nicht zu spät wofür?"
Pledge drehte den Baseballschläger herum und malte irgendwelche Zeichen in den sandigen Boden. Er nickte bedächtig, und schließlich murmelte er: "Mittlerweile ist es wohl nicht mehr wichtig!"
Was war wichtig? Was war in diesem verdammten Umschlag drin? "Mister Pledge?"
"Vergiss den blöden Umschlag, Andy!", rief Pledge barsch und richtete sich mühsam auf. "Fletcher starb, und das Loch erschien! Es war vorher nicht da! Es war vorher nicht da!" Er fuchtelte unbeholfen mit dem Schläger hin und her.
"Aber das können Sie nicht wissen!", sagte ich mit sanfter Stimme. "Das..."
"Sei still, Andrew!" Pledges Hände verkrampften sich um den Griff des Schlägers, so stark, dass ich glaubte, Aluminium brechen zu hören. "Fletchers Haus steht immer noch, weißt du das?" Er sagte das in einem Ton, als ob ein Quizmaster seinen hilflosen Kandidaten einen versteckten Hinweis geben würde. "Wer war denn damals alles mit dabei, hm?"
Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte. "Was?"
"Da gab es Fletcher, der in seiner Freizeit Frauen abschlachtete. Und es gab den Sheriff, der ihn verhaftete. Und schließlich einen zehnjährigen Jungen, der Fletcher zu Fall brachte..." Pledge rieb sich seine müden Augen. "Weißt du, wenn ich es genau bedenke, dann habe ich seit acht Jahren die gleichen Sachen an. Seit acht Jahren habe ich meinen Schwanz nicht aus der Hose geholt, um zu pissen, obwohl ich ständig pissen müßte. Schließlich gibt es in der Schublade immer eine Flasche Scotch, ist die Kanne immer mit Kaffee gefüllt." Wie aus heiterem Himmel warf er den Schläger in Richtung des Lochs. Der Sheriff hatte gesagt, dass nichts in das Loch rein- und nichts rauskommen könne, und trotzdem wurde der Schläger von der schwarzen Dunkelheit verschluckt. "Das ist neu!", flüsterte Pledge. Nichts tat sich weiter. Es gab keine Wellen, keine Geräusche, und auch Anzeichen für ein plötzliches Auftauchen der vier apokalyptischen Reiter blieben aus.
"Sie sagten doch, dass..."
"Still!" Er hob die Hand und deutete mir an, zu schweigen. Pledge ging auf das Loch zu. "Wenn du dich in wenigen Minuten sinnlos besaufen wirst, dann vergiss nicht, die Schublade immer zu schließen. Sie muß immer wieder geschlossen werden, sonst gibt es keine neue Flasche Scotch!"
Es waren die letzten Worte, die Sheriff Gerald Pledge zu mir sprach. "Pledge! Kommen Sie da weg!", rief ich. Meine Beine versagten mir den Dienst, ich fiel auf die Knie und mußte hilflos zusehen, wie der alte Mann sich etwas nach vorn beugte, um dann einfach in das Loch zu fallen. Dann war er weg. Gerald Pledge war vom Loch verschluckt worden. "Du...", flüsterte ich und wurde immer lauter. "Du... Du elender Bastard! Du verdammtes Arschloch!" Ich fiel zur Seite und rollte auf den Rücken. Über mir waren Wolken, die schnell verschwanden. Es war wieder ein Stück heller geworden, dennoch sah ich tausende Sterne am Firmament, die flimmerten und glänzten. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich, wie aus dem Nichts ein neuer Stern erschien. Er glänzte und flimmerte nicht so prächtig wie die anderen, er wirkte beinahe schmutzig, unsymphatisch, obwohl Sterne eigentlich niemals unsymphatisch auf Menschen wirkten. Ganz im Gegenteil! "Idiot!", fluchte ich und richtete mich auf. Auf die Beine zu kommen war nicht einfach, da starke Krämpfe mich immer wieder schmerzhaft zusammenbrechen ließen. Nach einiger Zeit schaffte ich es. Ich sah noch einmal zu dem Loch und glaubte, ein leises Summen zu hören, sicher war ich mir jedoch nicht. Mühsam schleppte ich mich zur Hütte zurück, vorbei an meinem Volvo, auf dessen Rücksitz immer noch die fünfzigtausend Dollar lagen.
In der Hütte angekommen, war mein Ziel die Schublade in der Kochnische. Pledge hatte Recht gehabt. Als ich die Schublade langsam hervorzog, lag eine Flasche Scotch drin. Ich nahm die Flasche und stellte sie vor mir auf die Ablage. Ich zögerte kurz, dann schob ich die Schublade zurück. Einige Augenblicke ließ ich verstreichen, bevor ich sie wieder öffnete. "Unmöglich!" Ich stellte die zweite Flasche neben die erste. Minuten vergingen. Schließlich standen dreizehn Flaschen Scotch gleicher Marke vor mir auf der kleinen Ablage. "Halleluhja! Ich habe den Jungbrunnen entdeckt!" Verbittert nahm ich eine der Flaschen und öffnete den Verschluss. Kurz zögerte ich, aber dann setzte ich an und schüttete die warme, in der Kehle brennenden Flüssigkeit in mich hinein. Nach einiger Zeit fiel ich auf die schmutzige Matratze. Pledges altes Gesicht erschien vor meinem geistigen, gleichzeitig vernebelten Auge. "Wer... Wer warn alles da... damals dabei, hm? Hm?", hörte ich mich lallen. Dann kippte ich nach hinten. Die Flasche Scotch entglitt meiner Hand und rollte über den Holzboden. Sie verursachte ein Geräusch, dass so laut war, dass ich mir die Hände gegen die Ohren pressen mußte. Ich schloss die Augen und war nur ganz kurz im Traumland, zusammen mit James T. Fletcher und seinem bluttriefenden Messer. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich Judy Carlyes Gesicht. "Bedienen Sie sich!", flüsterte ich lächelnd. Schwerfällig drehte ich meinen Kopf in Richtung Kochnische. Die Scotchflaschen schienen zu tanzen, mal waren sie etwas weiter vorn, dann wieder ein gutes Stück hinten. "Es ist genug für alle da..." Ich hörte mich noch rülpsen, und ich fühlte den faulen Gestank in meinem Mund. Dann war es soweit. Ich konnte nur hoffen, dass ich besoffen genug war, um den Alptraum James T. Fletcher anständig zu genießen.
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06
Jemand schüttete mir kaltes Wasser über den Kopf. Panisch riss ich die Augen auf und rollte mich schreiend von der Matratze. "Was zum..." Keuchend hockte ich auf allen Vieren und zitterte am ganzen Körper, wie ein Tier, dass man in die Enge getrieben hatte, und nun auf den sicheren Tod wartete. Alles um mich herum wirkte noch etwas verschwommen, dazu hämmerte es in meinem Schädel, so stark, dass ich die Zähne zusammenpressen mußte, um nicht noch einmal zu schreien. Vor mir stand Judy Carlye. In ihrer Hand hielt sie ein großes leeres Glas. Wasser tropfte wie in Zeitlupe zu Boden. "Judy!", stammelte ich und versuchte zu lächeln.
Sie warf das Glas auf die Matratze. "Wo ist Gerald Pledge?", wollte sie wissen.
Ich versuchte aufzustehen, doch alles, was mir gelang, war, mich plump und unbequem hinzusetzen. Das Glas, was Judy geworfen hatte, rollte über die Matratze, eigentlich unmöglich, doch es rollte weiter, bis über den Rand. Es gab nicht einmal ein Geräusch, als es sich weiter über den Boden bewegte, wie von unsichtbarer Hand angetrieben. Erst als das Glas gegen die Holzwand prallte, drehte es sich einmal um die eigene Achse und rührte sich nicht mehr. Einige Sekunden sah ich gebannt auf das Glas. Ich war mir sicher, dass es gleich wieder in Richtung Matratze rollen würde. "Pledge?", flüsterte ich. Und tatsächlich. Langsam setzte sich das Glas wieder in Bewegung, wechselte nach gut einem Meter die Richtung und rollte zur Kochnische, wo es in einer dunklen Ecke verschwand, und ich es nicht mehr sehen konnte. So gut es ging sagte ich klar und deutlich: "Das Loch hat Pledge verschluckt. Zuerst den Baseballschläger, und dann den Sheriff selbst!" Ich zeigte mit der Hand zur Kochnische. "Haben Sie das gesehen? Judy? Haben Sie das Glas gesehen?"
Es schien sie nicht zu interessieren. "Pledge ist in das Loch gefallen?" Sie setzte sich auf den Stuhl.
"Sie wissen von dem Loch?" Es gelang mir, eine halbwegs vernünftige Sitzposition einzunehmen.
Kaum merklich nickte sie. "Er hat es mir mal gezeigt. Ein paar Tage, nachdem die erste Frau verschwand." Judy fuhr mit der flachen Hand über den alten Tisch. Dann betrachtete sie den Dreck und den Staub auf ihrer Haut. "Ich war nicht oft hier...", murmelte sie. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch sich hier wohlfühlen kann."
Ich dachte an den grauenvollen Verschlag hinter der Hütte und konnte Judy nur zu gut verstehen. "Ja..." Mir kamen die verschwundenen Frauen in den Sinn, dazu die Trostlosigkeit von Doody Falls. Zudem ging es mir bereits erheblich besser. "Darf ich Sie was fragen, Judy?"
Sie zuckte mit den Schultern. Judy Carlye sah wie ein Mensch aus, der den letzten Funken Hoffnung in sich verloren hatte. "Nur zu..."
"Und wenn es gar keine Morde... Ich meine... Was, wenn es gar keine Entführungen gibt?"
Sie schüttelte den Kopf. "Wie meinen Sie das?"
"Wenn Sie einfach gegangen sind? Geflohen aus Doody Falls!"
Judy lehnte sich etwas zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. "Nein, das glaube ich nicht."
"Und warum nicht?"
"Weil es seit geraumer Zeit unmöglich ist, einfach so Doody Falls zu verlassen! Sie sind ja schließlich auch noch hier!" Sie stand auf und ging zur Kochnische, betrachtete die vielen Flaschen auf der kleinen Ablage. "Eine Zeit lang war es möglich, ja..." Judy nahm eine Flasche in die Hand. "Wo hatte er nur den vielen Scotch her?"
Ich war versucht, ihr den Trick mit der Schublade zu erzählen, doch ich ließ es sein. "Weiß auch nicht..."
"Gerald meinte zu mir, dass das Loch mit den Frauen nichts zu tun hatte", sagte Judy. Sie stellte die Flasche weg und ging zum Fenster.
Was mich eigentlich schon die ganze Zeit beschäftigen hätte müssen, brachte ich nun in Form einer Frage zustande: "Wer ist eigentlich vermißt? Und seit wann?"
"Nicht hier!", sagte Judy. "Ich fühle mich hier unwohl!"
"Was schlagen Sie vor?"
"Fährt Ihr Wagen noch?"
Ich mußte mir eingestehen, es nicht zu wissen. "Nun, Pledge hat ihn wohl gefahren, als ich bewußtlos war." Die Sache mit den Bäumen wollte ich ihr später erzählen. "Ja, vermutlich fährt er trotz der vielen Beulen und Schrammen. Was ist denn mit Ihrem?"
Sie zog erstaunt die linke Augenbraue nach oben. "Reden Sie von einem Auto?"
"Von was denn sonst!"
"Nein!", sagte sie spöttisch. "Doody Falls kann sich keinen Polizeiwagen leisten."
Ich lachte laut auf. "Das ist doch lächerlich!" Dennoch nickte ich ihr zu. "Und wohin fahren wir?"
"Zur Polizeistation zurück."
"Das Loch?"
Judy zögerte einen Moment, bevor sie sagte: "Nein! Vergessen wir das Loch, okay?"
Sie hatte wohl eine unheimliche Angst davor. Und ich im Grunde genommen auch, schließlich hatte es Pledge einfach so verschluckt, denn aus freien Stücken, redete ich mir ein, hatte er das Nichts wohl kaum betreten. "Einverstanden."
Fast erleichtert atmete Judy tief durch. "Die Schlüssel stecken noch im Zündschloss. Ich konnte es durch die Scheiben sehen. Können wir?" Sie wartete eine Antwort nicht ab und verließ schnell die Hütte.
In einer Ecke lag meine Jacke, von einer eigenartig schimmernden Substanz bedeckt. Ich hatte die Jacke für vierhundert Dollar maßschneidern lassen. Ein einzigartiges Unikat, das es nur einmal auf der Welt gab. "Scheiß drauf!", murmelte ich und stand auf. Meine Fußknöchel schmerzten, und bei jedem Schritt zog sich der Schmerz bis zu den Kniekehlen hinauf. Als ich die Tür erreichte, rollte das Glas aus der dunklen Ecke der Kochnische in die Mitte des Zimmers. Der Stuhl stand in Reichweite. Ich hob ihn an und warf ihn in Richtung des Glases. Wie nicht anders zu erwarten, rollte das Glas zur Seite, bevor der Stuhl krachend auf dem Boden aufschlug. "War ja klar..." Kaum, dass ich die Tür hinter mir schloss, mußte ich mir die Hand schützend vor die Augen halten, so sehr blendete die Sonne mich. Vor wenigen Sekunden, als Judy und ich noch in Pledges Hütte waren, fiel kein Sonnenlicht durch die schmutzige Glasscheibe. Ganz im Gegenteil. "Verdammt nochmal!" Ich sah Judy am Wagen stehen. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf das Dach des Volvos. "In Doody Falls herrschen eigene Regeln, nicht wahr? Es ist wie ein anderer Planet, wo ständig alles auf den Kopf gestellt wird."
"Kann sein", sagte sie.
"Hm..." Ich öffnete die Wagentür. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit den schmerzenden Füßen überhaupt fahren konnte. Judy öffnete ebenfalls die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz. Also blieb mir keine andere Wahl. Ich quälte mich in den Wagen und legte den Gurt um. "Wo sind wir überhaupt?"
"Etwas mehr als zwei Meilen außerhalb von Doody Falls", sagte Judy. "Was ist in der Tasche da hinten auf der Rückbank?"
Meine Hände verkrampften und fingen an zu zittern. "Einen Moment mal! Wir sind nicht mehr in Doody Falls?" Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. "Wir könnten also einfach..."
"Nein, können wir nicht!", beeilte sich Judy zu sagen. "Ich habe mich wohl etwas mißverständlich ausgedrückt. Die schmale Straße vor uns führt nur in eine Richtung!"
Ich verstand. "Verstehe...", murmelte ich zähneknirschend und drehte den Zündschlüssel um. Bewußt vermied ich es, wie sonst üblich auf die Uhr zu schauen. Ich war mir sicher, dass sie eine absolut abstrakte Zeit angab.
"Was ist in der Tasche?", wiederholte Judy ihre Frage.
Eine weitere Drehung des Zündschlüsseld nach vorn, verbunden mit der abwechselnden Betätigung von Kupplung und Gas, ließ den Volvo langsam losrollen. "Fünfzigtausend Dollar."
Judy schluckte. "Viel Geld..."
Ich winkte ab. "Nicht wirklich!" Ich brauchte unbedingt eine Zigarette. "Haben Sie Zigaretten dabei?"
"Nein, tut mir Leid."
"In Ihrem Schreibtisch vielleicht? In einer Schublade?" Vielleicht waren alle Schubladen in Doody Falls verzaubert. In der einen gab es Scotch, in einer anderen dicke Geldbündel, und wieder in einer anderen Zigaretten. Ich stellte mir vor, wie ich stundenlang eine Schublade des Schreibtischs der Polizeistation öffnete und schloß, und jedes Mal mir eine Packung Zigaretten entgegensprang.
"Glaub schon", murmelte Judy.
"Sehr schön!", murmelte ich zurück.
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07
Normalerweise dauerte es nicht einmal drei Minuten, um eine Distanz von zwei Meilen zu überwinden. Doch ich fuhr vorsichtig und langsam. Die Kastanienbäume hatte ich noch zu gut in Erinnerung. Judy sah während der Fahrt zurück nach Doody Falls träumerisch aus dem Fenster. Wir fuhren an unzähligen Kastanienbäumen vorbei, von denen die meisten keine Blätter mehr hatten, nur noch aus totem Holz bestanden. Ich gestand mir ein, dass sie gut aussah, dem von ihr verwendeten billigen Haarwaschmittel zum Trotz. Eigentlich kam es darauf ja auch gar nicht an... Sie sagte nichts, saß einfach nur da. "Judy?" Zu gern hätte ich gewußt, an was die junge Frau neben mir wohl gerade dachte.
Sie räusperte sich. "Mister Friedkin?"
Unwillkürlich mußte ich lächeln. "Nennen Sie mich Andrew!"
"Okay, Andrew also..."
"Bevor Pledge in das Loch fiel, sagte er, dass es kurz nach Fletchers Tod erschienen ist. Er machte auch seltsame Andeutungen."
Judy nickte interessiert. "Was für Andeutungen?"
"Er meinte, dass es damals Fletcher gab, der die Frauen in den Wald brachte und ermordete. Dann gab es ihn, den Sheriff, der Fletcher verhaftete. Und es gab einen zehnjährigen Jungen..."
"Er meinte Sie!", sagte Judy.
"Richtig." Wir ließen die Bäume hinter uns und erreichten die ersten Häuser von Doody Falls. "Wissen Sie was? Pledge meinte wohl, wenn alle Teile des Puzzles verschwinden, nicht mehr da sind, dann verschwindet das Puzzle endgültig."
"Klingt logisch."
Ich warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. "Möglich, ja. Aber damals waren es nicht nur drei Leute, verstehen Sie?" Wir fuhren an Häusern vorbei, die Eisengitter vor den Fenstern hatten. Und wieder sah ich schemenhafte Gestalten bewegungslos hinter den schmutzigen Gardinen. Vielleicht waren sie alle tot und konnten nicht weg. Mir kam der Gedanke, dass ich mich in einer Geisterstadt befand und ich der einzig lebende Mensch war, auf dem alle Hoffnungen der Toten ruhten. "Da waren die drei alten Damen, die anderen Polizisten, Leute von außerhalb!" Ich hielt den Wagen an. "Die Menschen im Gerichtssaal, im Gefängnis! Was ist mit denen?"
Judy berührte meine rechte Hand und leise sagte sie: "Darüber gibt es einen dicken Ordner, den Pledge einst angelegt hatte."
"Was für einen Ordner? Wird da aufgelistet, wie alle Beteiligten gestorben sind?"
Ihr Gesicht wurde zu einer beinahe steinernen Maske. "So in etwa", sagte sie, und ihre Stimme klang wie die eines Geistlichen, der an einem Tag einhundert Begräbnisse über sich ergehen lassen mußte.
"Was soll das heißen?" Ich schüttelte Judys Hand ab.
"Sie sind alle tot, Andrew!"
Während der Fahrt hatten meine Beine mich in Ruhe gelassen, vernünftig reagiert, wenn Befehle meinen Kopf nach unten verließen. Jetzt schienen meine Fußknöchel sich aufzublähen. Ich schrie vor Schmerzen und schlug mit den Händen wie wild gegen das Lenkrad. "Verlucht!"
Judy gurtete sich und mich los, stieg aus dem Wagen, umrundete diesen und öffnete die Fahrertür. "Los! Kommen Sie, Andrew!" Sie zerrte mich vom Sitz.
Kraftlos fiel ich auf die Straße. Der Schmerz hatte nachgelassen, aber jede Bewegung tat weh. "Das ist alles zuviel für mich!", stammelte ich.
Judy ging in die Hocke und berührte mein Gesicht. "Ich kann Sie verstehen." Ohne ein Wort zu verlieren packte sie mich und zog mich hoch. "Erstmal zur Polizeistation!", erklärte sie. "Dort sehen wir weiter."
Jeder Schritt verursachte bei mir lautes Stöhnen und tiefes Seufzen. "Flet..." Ich hustete und spuckte grünlichen Schleim auf die Straße. "Fletchers Haus..."
"Was ist damit?", keuchte Judy.
"Steht es noch?"
"Ja. Still jetzt! Wir sind gleich da!"
Wir befanden uns im Zentrum von Doody Falls. Mir war es gar nicht aufgefallen. Als Judy mich die Stufen zur Polizeistation hochschleppte, fiel mein Blick auf das Gitter vor dem Fenster. Es war windstill, dennoch klapperte es, ohne ein hörbares Geräusch von sich zu geben. Mir war es egal. "Zig... Zigarette!", flehte ich hustend.
Judy stieß mit dem Fuß die Tür auf. "Klar, können Sie haben!"
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08
Sie durchwühlte sämtliche Schubladen des Tisches auf der Suche nach Zigaretten, während ich wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl saß und unglücklich meine zuckenden Füße betrachtete. "Ich weiß, dass sie hier sind, hier sein müssen!", fluchte Judy. "Ah!" Zufrieden wedelte sich mit der linken Hand, in der sich ein Päckchen Zigaretten befand. "Marlboro...", sagte sie. "Die Sorte rauchen Sie doch, nicht wahr, Andrew?" Judy warf die Packung zu mir rüber. Sie landete in meinem Schoß. "Feuer haben Sie?"
Ich nickte und lächelte gequält. Mühsam nestelte ich eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie mir in den Mundwinkel. Umständlich holte ich mein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete mir mit zitternden Händen die Zigarette an. Gierig zog ich mehrmals, ohne den Qualm herauszulassen. Erst ein kurzer, dennoch heftiger Hustenanfall zwang mich dazu. "Danke!", krächzte ich. Hinter Judy auf der Fensterbank stand die Kaffeemaschine. Sie war sauber, wirkte fast wie neu. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder hatte Judy angefangen, Kaffee zu trinken. Oder es war nur eine weitere Provokation von Doody Falls, um mich noch tiefer in den Wahnsinn zu treiben. Scheinbare Kleinigkeiten wie eine urplötzlich von dicken Staubschichten befreite Kaffeemaschine waren ein gutes Mittel, wie ich fand. Ich ließ es drauf ankommen: "Haben Sie einen Kaffee für mich?" Ich deutete zum Fensterbrett.
Judy, die auf ihrem Stuhl hinter dem Schreibtisch saß, drehte sich um. "Kaffee?", fragte sie erstaunt. "Die Kaffeemaschine ist schon seit Ewigkeiten kaputt!" Sie schüttelte den Kopf und sah mich traurig an. "Tut mir Leid. Ich könnte Ihnen Wasser anbieten, wenn Sie wollen."
Ich reagierte nicht, sondern starrte gebannt auf die Kaffeemaschine. Ich hörte Judys Stimme wie ein fernes Eche in meinen Ohren hallen, aber das Ding hinter ihr auf dem Fensterbrett war im Moment einfach interessanter. Blinzelte ich, bedeckten Staubmassen das metallblaue Plastikgehäuse, blinzelte ich erneut, erstrahlte alles in einem fast schon perversen Glanz. "Ja, Wasser!", hörte ich mich sagen. Blinzeln. Dreck. Blinzeln. Sauberkeit. Blinzeln. Alt. Blinzeln. Neu. Es war faszinierend.
"Andrew!"
"Was?" Ich fiel fast vom Stuhl. Judy stand vor mir und hielt eine kleine Flasche Mineralwasser in der Hand. "Oh... Danke." Sie sah mich komisch an. Langsam schraubte ich den Verschluß ab. Judy setzte sich wieder. Ich trank einen Schluck. "Was ist?" Mit dem Handrücken wischte ich mir über den Mund.
"Lassen Sie uns es noch einmal durchgehen!", sagte sie und kniff die Augen zusammen.
Ich zog an der Zigarette. "Okay."
Mit ihren Fingerknöcheln klopfte Judy an die dicken Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch. "Sehen Sie, ich habe es folgendermaßen verstanden: Vor zwanzig Jahren brachte James T. Fletcher achtzehn Frauen um. Es gibt darüber fünf prall gefüllte Ordner hinten im Archiv, neben den Zellen. Sie, Andrew, waren zufällig im Wald und haben ihn beobachtet." Judy legte ihre Hände vor sich flach auf den Tisch. "Sie fliehen, entkommen ihm. Es gelingt Ihnen, die Stadt zu erreichen. Kurz darauf wird Fletcher festgenommen. Ihre Familie verläßt Doody Falls, Fletcher wird hingerichtet. Soweit ist alles in Ordnung!"
Was sie sagte, stimmte. "Richtig", murmelte ich leise und drückte die Zigarette am Stuhl aus. Sofort zündete ich mir eine weitere an.
"Gut." Judy fuhr fort: "Wenig später erscheint ein Loch, zwei Meilen außerhalb der Stadt. Pledge entdeckt es im Wald."
"Stimmt auch. Er sagte, dass es anfangs sehr klein war, kaum zu sehen..."
"Also wächst es mit der Zeit. Dennoch passiert in der Stadt selbst nichts ungewöhnliches. Vor acht Jahren schließlich erhalten Sie den Doody Falls News, eine Zeitung, die es eigentlich gar nicht gibt."
"Sie war äußerst real! Ich habe die Ausgaben in meinen Händen gehalten, die Schlagzeilen gelesen!"
"Mag sein!" Judy winkte verächtlich ab. Sie wirkte gefaßt, beinahe gleichgültig. "Das Loch wächst, Sie erhalten eine nicht existierende Zeitung, aber in Doody Falls herrscht weiterhin Normalität, richtig?"
"Wenn Sie langsamen Verfall als normal erachten, dann ist es sicherlich richtig, Judy." Die Schmerzen in meinen Füßen waren fast verschwunden. Ich brachte diesen Umstand mit den Zigaretten in Zusammenhang.
Judy zeigte sich von meiner Provokation unbeeindruckt, und wenn, dann ließ sie sich nichts anmerken. "Weiter! Vor wenigen Tagen bekommen Sie die Zeitung mit der Schlagzeile, dass wieder eine Frau verschwunden ist."
Protestierend hob ich die Arme. "Das ist ein gewaltiger Sprung, Judy! Was ist mit den Häusern? Den Menschen?"
"Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun!", sagte Judy wütend.
Vielleicht war es für sie wirklich nicht relevant. Schließlich wurde Doody Falls nicht schlagartig zu dem Ort, in dem ich mich jetzt befand. "Okay, gut..."
"Es sind zwei Frauen verschwunden, mehr nicht! Die Tankstelle wird immer noch beliefert, im Supermarkt gibt es noch immer Lebensmittel, und die Kinder..."
"Die Kinder müssen nicht nach Greenlake, ja, ich weiß!" Ich stand auf und lachte. "Und alles ist normal, nicht wahr?"
"Werden Sie nicht zynisch!" Nun klang Judy beinahe erbost. "Das hilft uns nicht weiter!"
Ich gab nach. Was hatte es auch einen Sinn, danach zu fragen, wann von den Menschen hier jemand das letzte Mal das Haus verlassen hatte. Mir fielen die Kinder ein, die ich bei meiner Ankunft gesehen hatte. Aber waren es wirklich Kinder gewesen, und nicht eher Schatten einer Illusion, erschaffen von Doody Falls selbst? Ich fragte auch nicht nach der Tankstelle und nach dem Supermarkt. Judy Carlye war offensichtlich der einzige Mensch in Doody Falls, der jeden Tag das Haus verließ, zur Polizeistation ging, und dann stundenlang zwischen Akten saß und tat, was auch immer getan werden mußte. "Sie haben Recht." Ich holte tief Luft. "Weiter?"
Judy murmelte ein kaum verständliches "Danke". Sie stand auf und ging zum Fenster. Dort berührte sie die Kaffeemaschine. "Blödes Ding..." Fast war es so, als ob sie die Maschine vom Fensterbrett schmeißen würde, aber nur fast. Sie vergrub ihre Hände in den Hosentaschen.
Draußen, stellte ich fest, war es wieder dunkel geworden. Richtig dunkel. "Wie spät ist es?", fragte ich.
Judy zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht. Die Uhren funktionieren nicht mehr so, wie sie sollten. Ist auch unwichtig!" Sie drehte sich um und lehnte sich gegen das Fensterbrett. "Jedenfalls... Es gibt zwei vermißte Frauen. Behörden von außerhalb waren da, nur ganz kurz. Und dann, tja..." Sie lächelte mich an. "Dann erscheinen Sie auf der Bildfläche, Andrew!" Sie wippte auf und ab. "Sie kommen mit einem tollen Wagen an, mit fünfzigtausend Dollar im Gepäck. Und Gerald Pledge wird einfach so vom Loch verschluckt!"
"Er ist hineingegangen!"
"Was ist mit dem Geld?"
Eine gute Frage. Warum hatte ich dermaßen viel Geld mitgenommen? "Keine Ahnung", sagte ich schulterzuckend. "Ist das Verhör jetzt vorbei?"
Sie ging vom Fenster weg, zu ihrem Schreibtisch. "Sie haben von einem Puzzle geredet!"
Ich nickte. "Und so wie es aussieht, gibt es nur noch Fletchers Haus und mich!"
"Wissen Sie, was ich denke, Andrew?"
"Ich fürchte ja." Es gab nur einem möglichen Weg.
Judy schluckte und sagte leise: "Wir fahren jetzt zu Fletchers Haus!"
Ich steckte mir eine neue Zigarette in den Mund. "Wie passen die zwei Frauen in die ganze Geschichte?" Judy sagte nichts. "Sie wissen es also auch nicht." Ich lehnte mich nach hinten, hob den Kopf und pustete den Zigarettenqualm nach oben. Es wunderte mich nicht, dass der Rauch sich zu einer Kugel formte, die einige Zentimeter im Zickzackkurs nach oben schwebte, bis sie sich auflöste.
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09
Höchstens zehn Minuten hatte die Fahrt zu Fletchers Haus gedauert. Der Zeiger für den Benzinstand war kurz vor der grellroten Null, ich hatte also noch für gut zwanzig Meilen Benzin im Tank. Optimistisch geschätzt vielleicht sogar für dreißig. Während der Fahrt hatte Judy an ihren Fingernägeln gekaut, und ich hatte immer wieder zu den Häusern gesehen, an denen wir vorbeifuhren. Bei jedem Haus erblickte ich genauere Details des Untergangs: Verwelkte Blumen, kaputte Holzzäune, dutzende Müllsäcke vor den Türen, Tierkadaver auf der Treppe, leblose Schatten hinter den Gardinen.
"Wir sind da!", hatte Judy kurz angebunden gesagt.
Ich hielt den Wagen an, wir stiegen wortlos aus und gingen auf das Haus zu, welches vor uns lag. Mir waren die blühenden Blumen im Vorgarten aufgefallen, das saftige Grün des Rasens. Alles wirkte sauber, ordentlich und vorbildlich. Und auch die Reifenspuren hatte ich nicht übersehen. Kleine Rillen waren im Sand, und wenn man sich Mühe gab, konnte man zwischen diesen Rillen Buchstaben erkennen: A und F. Eine Reifenfirma namens AF kannte ich nicht. Ich unterdrückte erfolgreich aufkeimende Gedanken über das Warum. Wir standen vor der Eingangstür, ich bot ihr eine Zigarette an, Judy verneinte dankend, ich lächelte, und irgendeiner von uns beiden öffnete schließlich die nicht verschlossene Tür.
"Riechen Sie das?" Ich presste meine Hand gegen Nase und Mund.
Judy tat es ebenfalls. "Schrecklich", sagte sie dumpf zwischen ihren Fingern durch.
Es roch nach Tod. Es roch nicht nach Verwesung, wo ein Leichnam wochenlang in einem Raum lag, ohne entdeckt zu werden. Es roch nach frischem Tod, als ob jemand vor sehr kurzer Zeit gestorben war. Obwohl es dunkel war, konnte ich an den gelben Tapeten kleine Striche sehen, die oben schmal waren, und unten dicker wurden. Es sah wie Blut aus. Ich machte Judy darauf aufmerksam.
"Was soll ich machen?", fragte sie. "Es anfassen?"
Es war erstaunlich, wie schnell wir uns an das Haus angepaßt hatten. Mir fiel es auf, weil wir nicht mehr krampfhaft gegen den Geruch ankämpften. Natürlich sollte sie es nicht anfassen. "Nein, das habe ich nicht gemeint!", entgegnete ich gereizt. "Bloß sehen!"
Judy schüttelte den Kopf. "Schon gut!"
"Okay." Wir hätten mit solchen Dingen rechnen sollen. "Wir sind im Haus, Judy. Und nun?"
"Moment mal..." Sie ging zur Tür zurück und betätigte einen Schalter. Obzön wirkendes Licht durchflutete das Haus und blendete uns.
Wir mußten die Augen schließen. "Judy?"
"Ich bin hier! Alles okay!", hörte ich sie sagen, ohne sie zu sehen.
Das Licht tat weh, obwohl ich grelles Licht gewohnt war. In meinem Haus brannte immer Licht. Ich blinzelte mit den Augen, und schon wenige Momente später ging es wieder. Was ich sah, ließ mich zusammenzucken. Und Judy wohl auch. "Judy?" Sie lehnte an der Wand, und ihr Blick sagte alles. "Ja, furchtbar...", flüsterte ich. Eigentlich hätten wir es wissen müssen. Schon damals war Fletchers Haus von außen betrachtet schmuck und sauber, aber eben nur Fassade... Der Boden war übersät mit Zigarettenstummeln. Ich sah genauer hin. "Marlboro..." Langsam ging Judy in die Hocke und nahm einen Stummel in die Hand. "Seien Sie vorsichtig!"
"Keine Angst..." Sie hielt es sich vor die Nase, verzog das Gesicht und warf den Zigarettenstummel schnell weg.
"Was ist?"
"Es riecht nach Urin!" Sie stand wieder auf. "Und sehen Sie das?" Judy machte mit der Hand eine Bewgung von der Tür über den Boden hinweg. "Am Eingang liegen Zigaretten, an denen vielleicht einmal gezogen wurde. Und dort drüben an der Treppe sind alle bis zum Filter aufgeraucht."
Ich folgte der Bewegung ihrer Hand, und schließlich blieb mein Blick an der Treppe haften. Die ersten Stufen waren mit einer braunen Masse überzogen. "Oh Scheiße!" Fletcher hatte damals nackt im Bett gelegen, während seine tote Mutter unten ihm Wohnzimmer saß. "Das Schlafzimmer", murmelte ich.
Judy schüttelte den Kopf. "Ich habe eine bessere Idee, Andrew!"
"Wir sollten..."
"Wir brennen es einfach ab!", sagte Judy bestimmend. Und plötzlich ertönte das Bellen eines Hundes von oben. "Was zum..."
Ungläubig starrte ich die Treppe nach oben. Man konnte nicht viel erkennen, nur ein Flackern. "Das ist Porky!"
"Wer?"
"Mein Hund", sagte ich lächelnd. "Wir haben ihn einschläfern lassen. Aber das da oben ist eindeutig Porky. Kein Hund auf der Welt bellt so wie er!" Ich ging auf die Treppe zu. Judy rief mir irgendwas zu, aber ich hörte nur noch das Bellen. Wie in Trance übersprang ich die Stufen mit der braunen Masse und schwebte die Treppe hinauf. Das Flackern wurde von Kerzen verursacht, die unregelmäßig auf dem Boden verteilt waren. Sie schienen uralt zu sein, dennoch kam es mir vor, als ob sie erst kürzlich angezündet wurden. Das Bellen wurde lauter. Ich drehte mich zu Judy um. "Kommen Sie! Porky ist ein guter Hund!" Das Geräusch kam aus dem Zimmer, welches ganz hinten lag. Es war das Schlafzimmer, der Ort, wo Pledge vor zwanzig Jahren den Lehrer des Jahres verhaftete.
"Warten Sie auf mich!", rief Judy. Schnell lief sie die Treppe hoch. "Ihnen ist doch klar, dass das unmöglich sein kann!" Sie sah zu den Kerzen. "Wer hat die aufgestellt?"
Sie hatte Recht. Natürlich hatte sie das. Dennoch sagte ich: "Ich glaube, dass hier in Doody Falls Dinge möglich sind, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Seltsame Zeitungen, geheimnisvolle Löcher, verrückte Gläser, kaputte Uhren... Und Porky, der da hinten bellt!" Ich zeigte zur Tür. "Ich weiß, dass es nicht Porky ist, und trotzdem ist er es! Verstehen Sie?"
"Nein!", sagte Judy. "Ich verstehe es nicht. Andrew!" Sie packte mich am Arm. "Lassen Sie uns von hier verschwinden! Es war falsch, Fletchers Haus zu betreten. Wir brennen es ab und alles wird gut!"
Ich riss mich von ihr los. Das Bellen wurde leiser und verwandelte sich in ein klägliches Winseln. "Nichts wird gut! Ich bin dann immer noch da!" Und dann hörte ich noch etwas. "Still!"
"Was ist los?", flüsterte Judy.
"Ruhe!", zischte ich wütend. Es war ein Stöhnen, Porkys Winseln nicht unnähnlich, nur, dass es nicht von einem Hund kam, sondern von einem Menschen. Vielleicht sogar von mehreren. Ich spürte Judys Atem in meinem Nacken. Sie hatte Angst, es war eindeutig. Ohne es zu merken, waren wir weiter gegangen und fanden uns nun vor der Tür zum Schlafzimmer wieder. Ein weiteres Geräusch kam zu dem Winseln und dem Stöhnen hinzu. Ein Summen, kaum wahrnehmbar. Fast automatisch bewegte sich meine Hand zur Türklinke. "Hinter dieser Tür liegen alle Antworten!", hörte ich mich sagen. Meine Hand begann zu zittern. "Ich weiß, was hinter dieser Tür ist!"
Judy berührte mich an der Schulter. "Andrew! Lassen Sie uns gehen!"
Ich runzelte die Stirn. "Vielleicht sollten wir das." Langsam drehte ich mich zu ihr. "Aber was dann, Judy?"
"Dann ist es vorbei!"
Ich schüttelte den Kopf. "Nichts wird vorbei sein! Die Reifenspuren draußen vor dem Haus. Haben Sie sie gesehen?"
"Ich..."
In meinem Kopf machte es Klack, es hatte nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde gedauert. "Ich habe dieses zwei Frauen entführt!", sagte ich leise, klar und deutlich.
Judy ging einen Schritt zurück und sah mich entsetzt an. "Was? Völliger Blödsinn!"
"Sie sitzen unten im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Vermutlich ist er eingeschaltet, und irgendeine beschissene Quizshow läuft. Vermutlich haben sie in ihren Händen Cracker. Vermutlich sind diese bereits verschimmelt. Judy!" Ich sah traurig zu ihr. "Die Reifenspuren vor dem Haus! Ich habe sie gesehen! A und F! Andrew und Friedkin! Niemand sonst hat solche Reifen, nur ein reicher Mann wie ich gönnt sich solch einen Luxus." Das gesamte Szenario lief vor meinen geistigen Auge ab, und es war logisch. Keiner hielt mich an, wenn ich mit meinem Mercedes betrunken durch die Stadt raste. Keiner sagte was, wenn ich eine Frau ansprach. Keiner tuschelte, wenn diese Frau weg war. In Doody Falls tuschelte man nicht. In der Stadt auch nicht. Ich fuhr betrunken aus der Stadt nach Doody Falls, gabelte dort Frauen auf und ließ sie verschwinden. A und F. Andrew und Friedkin. Spuren, direkt vor Fletchers Haus. Die Türklinke fühlte sich kalt an, weit unterhalb des Gefrierpunkts. "Jetzt sind Sie an der Reihe, zu gehen!", sagte ich zu Judy. "Wenn Sie draußen sind, brennen Sie das Haus ab!" Aus meiner Hosentasche holte ich das Feuerzeug heraus und hielt ihr es entgegen. "Es wird einfach sein, alles wird sofort brennen. Und dann setzen Sie sich in den Volvo und verlassen Doody Falls! Auf der Rückbank liegen fünfzigtausend Dollar. Ein guter Einstieg in ein neues Leben."
Judy schüttelte den Kopf. "Sie sind ja verrückt!"
"Nein! Ich erlebe gerade einen der klarsten Momente meines bisherigen Daseins." Ein denkwürdiger Satz, der sich gut auf meinem Grabstein machen würde. "Gehen Sie, Judy! Verlassen Sie Doody Falls! Alles wird brennen!" Die Türklinke wurde wärmer. "Wenn Sie es nicht tun, dann wird es niemals enden!"
Aus ihren Augen entkamen Tränen, die langsam über ihre Wangen liefen. "Das... Das ist doch Wahnsinn!", flüsterte sie und nahm zögerlich das Feuerzeug in die Hand. Schnell stopfte sie es in ihre Jackentasche. "Ich glaube Ihnen kein Wort, Andrew!"
Den Drang, die Tür zu öffnen, konnte ich kaum noch unterdrücken. "Es ist aber so!" Es verschwanden immer irgendwo und irgendwann irgendwelche Menschen. Und in den vergangenen Jahren war ich viele Male betrunken gewesen.
Judy griff nach ihrem letzten Strohhalm: "Aber dann hätte ich Sie schon früher sehen müssen! Andrew! Ich hätte es gesehen!"
"Sie haben das gesehen, an das Sie geglaubt haben. Ich denke, dass Sie ein guter Mensch sind, Judy. Aber nun sollten Sie wirklich gehen. Ich habe Angst, dass das, was hinter der Tür ist, Folgen für Sie haben könnte." Meine Waden verkrampften sich und ich ging etwas in die Knie. Judy rührte sich nicht von der Stelle. "Verdammt nochmal! Verschwinde endlich!", herrschte ich sie an, und schon im nächsten Moment verfluchte ich mich dafür. Judy ging ein paar Schritte zurück, drehte sich um und rannte zur Treppe. Dann war sie verschwunden. Sie lief nicht sofort aus dem Haus, das konnte ich hören. Sie wollte absolut sicher sein. Ein paar Sekunden vergingen, das Summen hinter der Tür übertönte nun das Stöhnen und Winseln. Dann hörte ich von unten einen gellenden Schrei. Judy hatte die zwei Frauen entdeckt. Milimeter um Milimeter drückte meine Hand die Türklinke nach unten. Die Haustür wurde aufgerissen. Erleichtert atmete ich tief durch. Vielleicht hätte sich unter anderen Umständen etwas zwischen Judy und mir entwickelt. Der Gedanke stimmte mich traurig, und für einen kurzen Moment war ich bereit, Judy zu folgen, zu versuchen, mit ihr gemeinsam glücklich zu werden. Das Gefühl hatte ich in den zwanzig Jahren seit damals nie gehabt. Einfach glücklich sein, das Leben genießen. Ich schloss die Augen, holte tief Luft und öffnete die Schlafzimmertür.
Ich hatte begriffen, dass Zeit in Doody Falls ohne Belang war. Auf den ersten Blick entpuppte sich der Ort, an dem ich mich am Ende einer langen Reise wähnte, als stinknormales Schlafzimmer. Weiße Gardinen hingen vor dem Fenster, das Bett war ordentlich gemacht, auf einem Stuhl lag Kleidung für Übergewichtige. Porkys Winseln und das Stöhnen waren vollends verschwunden, nur das Summen war noch zu hören. Es kam aus der Mitte des Zimmers. Ich machte drei große Schritte nach vorn. Hinter mir fiel die Tür schnell, aber völlig geräuschlos zu. Es gab einen kleinen, altmodischen Wecker, der auf einer Kommode neben dem Bett stand. Die Zeiger rasten über die Zahlen, und ich überlegte, ob möglicherweise zwei Minuten vergangen waren, oder sogar ein ganzer Tag. Unter dem Bett quetschte sich James T. Fletcher hervor. In seiner Hand hielt er ein Messer, an dessen Klinge Blut und Haare klebten. Frauenblut... Frauenhaare...
Er hatte die Sachen an, die er damals im Wald trug. "Wurde auch Zeit!", zischte er. "Bringen wir es in Ordnung!"
Ich brachte kein einziges Wort über die Lippen. Draußen wurde der Volvo gestartet und mit quitschenden Reifen über die Straße davongejagt.
Fletcher warf das Messer weg und setzte sich auf das Bett. "Schon merkwürdig, die Sache mit den Löchern, nicht wahr?" Grinsend fuhr er sich mit der Hand über den Mund.
Er hatte keine Augen, nur schwarze Höhlen. Ich stand da, zu keiner Bewegung fähig. Meine Beine schmerzten. In den Fußknöcheln wüteten kleine Nadeln, die von innen gegen meine Haut stachen. Aus den Augenwinkeln heraus entdeckte ich den kleinen Punkt. Absolut dunkel. Und eigentlich nicht wahrnehmbar. Der Punkt begann zu pulsieren und wurde größer.
Fletcher nickte zufrieden. "Hast dich nicht getraut, nach oben zu kommen, was? Dabei hat dein Köter Porky doch nach dir gerufen! Ja! Hast die Schlampen unten ins Wohnzimmer gesetzt und bist panisch geflüchtet, richtig?" Freude! Er ergötzte sich an seinen Ausführungen. "Kann ich verstehen. Ist nicht einfach, jemanden umzubringen."
Das Loch war jetzt fast so groß wie ein Basketball. Es wuchs rasend schnell, nicht so wie das Loch bei Pledges Hütte.
"Nun bist du endlich hier, Andy. Nun bringen wir endlich wieder alles in Ordnung!" Fletcher stemmte sich vom Bett hoch und kam auf mich zu.
Je näher er kam, um so mehr konnte ich Doody Falls in ihm erkennen. Aus seinen Ohren floß Eiter, seine Fingernägel waren gelb und so lang wie die eines Raubtieres. In seinen Haaren wuselten Kleinstlebewesen herum, die wie Minikakerlaken aussahen. Größtenteils wurde seine Haut von der Kleidung verdeckt, aber die Stellen, die ich sehen konnte, hangen nur noch in Fetzen an aufgedunsenem Fleisch. Verfall. Fletcher ergab ein perfektes Abbild von Doody Falls.
Fletcher stand nun direkt vor mir. "Doody Falls kann ja nichts dafür", krächzte er belustigt. "Löcher gibt es schließlich überall. Pech war nur, dass du abgehauen bist, einfach so."
Meine Stimmbänder versagten mir den Dienst. Fletchers Hand fühlte sich noch eisiger an als die Türklinke. Das Loch war nun fast anderthalb Meter groß.
"Ich habe so lange gewartet, Andy!", zischte Fletcher. "So viele Jahre..."
Wir standen vor dem Loch. Eine Handbreit von mir entfernt sah ich in das Nichts. Ich roch Rauch. Und endlich konnte ich wieder sprechen. "Riechst du das, Fettsack?", schrie ich. "Alles wird vorbei sein!"
Fletcher begann zu lachen. "Im Gegenteil! Das Ende, kleiner Andy... Das Ende ist der Anfang!"
Dann schubste er mich in das Loch hinein.
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10
In meinem Kopf hallte die Musik aus 2001, als die Affenmenschen den Monolithen berührten, als der Astronaut Dave durch die Sterne flog. Ich flog nicht durch Sterne, sondern durch unzählige Löcher. An den Rändern eines langen Korridors konnte ich vereinzelt blinkende Punkte wahrnehmen, vielleicht waren es Sterne, vielleicht aber was völlig anderes. Es tat nicht weh, fühlte sich gut an. Und nach einer kleinen Ewigkeit war ich da. Einfach so.
"Hallo?"
"Andy! Du bist da!"
"Wer bist du? Was bist du? Ich bin durch ein Loch gestoßen worden, ich..."
"Löcher sind dazu da, dass man durch sie fällt. Du darfst mich Schicksal nennen."
"Der Umschlag!"
"Unwichtig!"
"Und jetzt?"
"Jetzt bringen wir die Sache in Ordnung, einverstanden?"
"Was bringen wir in Ordnung?"
"Alles!"
"Werde ich sterben?"
"Das läßt sich leider nicht verhindern. Entschuldige..."
Meine Reise war beendet.
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Epilog
Den Jungen zu schnappen, war nicht einfach gewesen. Der Hund störte. Der zu kurz geratene Köter griff immer wieder an, wild bellend. Erst ein Glücksstoß mit dem Messer in den Hals schaffte Ruhe. Vor ihm kriecht der Junge, ein Schüler seiner Klasse, stöhnend davon. "Zur falschen Zeit am falschen Ort, Andrew Friedkin!", zischt er leise. Um die Frau, die tot einige Meter hinter ihm liegt, wird er sich später kümmern. Sie hat ein hübsches Gesicht, selbst im toten Zustand. Wie immer wird er über ihrem Leichnam urinieren, wie bei den anderen. Die Frau hat bis zuletzt gekämpft, hat ihre Hände ins Erdreich gerammt, ihre Beine bemüht... Vergebens. Langsam geht er in die Hocke, hält den Jungen an dessen Füßen fest. Es erregt ihn, als er das Messer in den Rücken von Andrew Friedkin stößt. Immer und immer wieder. Blut spritzt. Fletchers Gesicht färbt sich rot. Er ist glücklich. Alles ist in Ordnung. Er ist von den Schülern zum Lehrer des Jahres gewählt worden. Die Einwohner von Doody Falls achten ihn. Und er achtet Doody Falls. Fletcher fühlt sich der Kleinstadt verpflichtet. Zufrieden steht der dicke Mann auf. Er breitet seine Arme aus und genießt die frische Waldluft. In diesem Moment kann er sich keinen glücklicheren Menschen auf der Welt vorstellen. James T. Fletcher fühlt sich wie ein Gott. Das ist seine Welt. Alles wird zugelassen. Nichts wird verhindert. Alles ist in bester Ordnung.
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ENDE
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23.11.03 –16.12.03