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Don't pay the ferry man
Don't pay the ferry man
Drückende Hitze drängte in seinen Kopf. Tag um Tag. Stunde um Stunde. In der Dunkelheit ebenso, wie in den endlos langen Tagen, die abrupt in Schwärze versanken, wenn Die Sonne glutrot hinter den Bäumen verschwand.
Die Geräusche des Dschungels hatten sein Hirn erobert. Keinen Raum gelassen. Keine Lücke. Die Zivilisation war herausgepresst worden. An dem Tag, als er eine Ratte über dem Feuer geröstet hatte. An diesem Tag hatte er das Leben verloren, das einmal seins gewesen war.
Tage zuvor hatte Juan ihn hier abgesetzt. Nicht darauf gewartet, dass die Mission jemanden schickte, der ihn abholte. Tage, in denen er gelernt hatte, dass alles, was er je erlebt hatte, weiter entfernt von ihm war, als auf der Erde möglich. Nichts, was er wusste, würde ihn weiterführen. Keine Erfahrung war nützlich. Das Leben geschah hier zum ersten Mal. Genau an dem Ort, an dem es in jeder Sekunde bedroht war, entspann sich sein Leben zum aller ersten Mal.
Sarah. Sein Leben. Jetzt die Vergangenheit. Nicht, weil ihn die Hoffnung verlassen hatte, je zurückzukehren. Die Hoffnung hatte ihn vor Tagen verlassen. Als die Missionare nicht kamen, die erste Nacht schwärzer war, als alles, was er je erlebt hatte, die Hitze sich langsam in ihn hineinbohrte, mit jedem Moskitostich ein wenig tiefer in seine Haut senkte. Als das Lunchpaket mit lächerlich wenig Inhalt aufgegessen war, und immer noch niemand kam. Aber Sarah war nicht deshalb zur Vergangenheit geworden. An irgendeinem Punkt in dieser grünen Hölle - den Ausdruck hatte er in einem Reiseführer gelesen, zu einer Zeit, als dieses Land zwischen zwei Buchdeckeln seine verborgenen Reize zu enthüllen versprach, und auch dieses Versprechen nicht hielt - hatte er erkannt, was Sarah war. Und warum sie es nicht war.
Sarah war wundervoll. Alles, wovon er je geträumt hatte. Aber in der Hölle verschieben sich die Träume. In der Hölle beginnt man, zu hinterfragen. Solange die Hitze dem Verstand den Raum dazu lässt.
Das Wasser des Flusses war seit gestern trüb. Schlammig. Seit dem trank er nicht mehr davon. Es hatte flussaufwärts geregnet, aber über seiner Lichtung hatte er noch nicht einmal Wolken entdecken können. Dieser Fluss hatte Ausmaße, denen er sich nicht gewachsen fühlte. "Lebensader der Region". Zwischen den Buchdeckeln ein zauberhafter Ausdruck, in der Realität eine tödliche Falle. Die Gabelungen, Seen, Strömungen, wechselnde Landschaft und keine Orientierung. Niemand, der helfen kann. Niemand, der hört, wenn du schreist. Niemand, der sieht, wenn du weinst.
Er schlug den Reiseführer auf. Besah sich die Luftaufnahmen der "grünen Hölle", Seite 17, ein Farbdruck. Aufgenommen von einem Flugzeug aus. Über diesen Wald zu fliegen. Zu sehen, in welcher Richtung die Berge liegen, einen Kompass zu haben. Keine Furcht. Mehr zu entdecken, als ein paar hundert Palmen, die einen dichten Kreis um dich schließen, stündlich näher zu rücken scheinen. Dich herausfordern, sie zu durchdringen. Deinen Weg dort zu suchen, wo er dich mit Sicherheit ins Verderben führen wird.
Der Hohn, mit dem die Palmen auf ihn herunterwippten, in jeder Briese, hatte ihn toben lassen. Am zweiten Tag. Er hatte an ihren Ästen gerissen, die Blätter heruntergezerrt, seine Hände blutig zerschnitten. Bevor er resigniert an einem der Stämme zusammengesunken war.
Am zweiten Tag hatte er auch begonnen, Holz zu sammeln. Ein Feuer zu machen. Die brütende Hitze hatte ihn verhöhnt. Aber er hatte eine Sicherheit um sich herum geschaffen, die ihn diesen Hohn ertragen ließ. Das Feuer war von ihm geschaffen. Zeigte seinen Platz in dieser eigenen Landschaft, ohne Zivilisation. Ohne Spuren von Menschen. Das Feuer war seine Spur. Das, was er hinterlassen würde. Von Zeit zu Zeit warf er grüne Palmzweige auf die glimmenden Äste. Eine Rauchwolke stieg fast senkrecht nach oben. Mein Zeichen an die Welt. Ich lebe. Ich bin hier. Kommt und holt mich.
Die Hoffnung schwand am dritten Tag. Kurz nachdem die Wut auf Juan verraucht war und über der Lichtung als Zeichen aufgestiegen war. Juan würde er nicht wiedersehen. Die Hoffnung war mit ihm gegangen. Der Zweifel hatte gesiegt. Juan hatte sich verirrt. Sein ewiges "Si, si, señor!" hatte wohl nicht bedeuten sollen, dass er wusste, wo sie waren. Es hatte ihn wohl beruhigen sollen. Hatte rechtfertigen sollen, dass sie im Kreis fuhren, was er nicht einmal bemerkt hatte.
Während er ins Feuer starrte, kam ihm eine Zeile in den Sinn, aus einem Lied, das zuhause im Radio lief:
"Don't pay the ferry man, untill he brings you to the other side!"
Er begann darüber nachzudenken, warum ihm die Zeile in den Sinn kam. Die Redaktion hatte alles organisiert und bezahlt. Reportage auf Spesenkonto. Einen außergewöhnlichen Auftrag für unseren besten Mann. Mitten in den südamerikanischen Dschungel hinein mit einem kleinen Boot und wieder heraus mit einer atemberaubenden Story über das karge Leben der Missionare und ihren unerschütterlichen Glauben, das Richtige zu tun.
Die Flüge waren gebucht, kurzfristig. Die Hotels, die man sich in New York nicht vorstellen konnte, hatten tatsächlich existiert und die Funktion von Hotels übernommen, wenn sie auf ihn auch anders wirkten. Der Bootsführer war gefunden worden, hatte den Auftrag bekommen, ihn zur Mission zu fahren. In deren Nähe. Denn die Mission lag abseits des Flusses. Er hatte Bilder gesehen, die einzigen, die existierten, von einem weißen Farmhaus auf Stelzen, mit einer Veranda. Beinahe afrikanisch, hatte er gedacht. Etwas Außergewöhnliches für die Serie über "Extreme Leben und die Menschen". Die Aussicht auf eine Beförderung.
Der Bootsführer war bezahlt worden. Für den Hinweg, den Rückweg. Die Wartezeit, bis er von dem unschuldigen weißen Haus zurückkehrte zum Anlegeplatz.
Don't pay the ferry man.
Macht Sinn, von der Lichtung aus gesehen. Hätte Juan auch die Flucht angetreten, wenn er noch nicht bezahlt worden wäre? Was hätte ein New Yorker Taxifahrer getan, der noch auf sein Geld wartet? Wann hatte er jemals ein Taxi bezahlt, bevor er angekommen war? Was half es, in einem Dschungel wie New York überleben zu können, und hier draußen ohne Wasser zu sitzen, an einem Fluss, der so breit und mächtig war, dass er das gegenüberliegende Ufer nur erahnen konnte. Einen Schluck hatte er sich gegönnt, heute morgen. Am dritten Tag. Oder am vierten. Die Zahlen hatte ihre Bedeutung verloren, seit nicht damit zu rechnen war, dass sich mit dem Ablauf der Tage etwas verbesserte. Die Tage bis zu seinem Ende konnte er nicht zählen, weil er nicht einmal erahnen konnte, wie viele ihm blieben.
Er hatte versucht zu ergründen, woran er sterben würde. Damit hatte er begonnen, gleich am Tag nachdem er erkannt hatte, dass er sterben würde.
Verhungern hatte keinen Reiz für ihn. Qualvoll, langsam. Sinnlos. Die Ratte hatte ihn gerettet für etwas mehr als einen Tag. Nach der Überwindung und dem Ekel hatte er sich gefragt, woran das Tier gestorben war. Hatte die Frage aber schnell verdrängt. Der Körper war noch warm gewesen, als er ihn fand. Also konnte er Verwesung ausschließen, und musste nicht fürchten, an deren Folgen zu sterben. Was nicht ausschloss, dass es trotzdem unklug war, eine tote Ratte zu essen.
Natürlich konnte er auch am Wasser des Flusses sterben. Trüb, schlammig, aus unbekannten Tiefen dieses Waldes, der grünen Hölle. Der Durst und der Hunger brachten ihn in Gefahr. In dieser fremden Welt. In der es ebenso gefährlich war, zu verdursten oder zu verhungern.
Schwach zu sein, war hier gefährlich genug. Er hatte eine Spinne erschlagen, am zweiten Tag, die gefährlich nahe an ihn herangekommen war. Groß, haarige, dicke Beine, einen runden Körper mit noch mehr Haaren. Giftig ohne Frage. Ihr Name interessierte nicht. Diese hier war tot. Erschlagen mit einem langen schweren Ast. Danach das Feuer. Der Ast mittendrin die Spinne noch darunter. Sichergehen. Das Feuer niemals ausgehen lassen. Tiere haben Angst vor Feuer. Feuer wird gesehen. Wer weiß, wie oft das Feuerzeug noch funktionieren wird, ob es eine zweite Chance geben wird, das Feuer anzuzünden.
Die Hitze hatte seinen Verstand in stetiger Arbeit zu einer trägen, zähen Masse verarbeitet. Seine Gedanken strömten nur an der Oberfläche dahin, stürzten sich plötzlich mit atemberaubender Geschwindigkeit in einen Strudel und sogen sich in die Tiefe.
Sie erinnerten ihn an den Fluss. Den Strom. Trüb, zäh, unberechenbar. Voll von Abgründen, in die zu stürzen das sichere Ende war. Noch konnte er die Tiefen seines Verstandes umschwimmen. Noch kämpfte er sich aus jedem Strudel wieder an die Oberfläche, schnappte nach Luft und paddelte wie wild.
Er versuchte, die Geräusche zu ignorieren. Das erschreckte Kreischen der Affen, wenn sich etwas näherte. Er wollte nicht daran denken, warum sie kreischten.
Der Hunger, die unglaubliche Trockenheit in seinem Inneren und das ständige Auf und Ab der Geräusche in den Bäumen und dazwischen zerrten an ihm. Zogen mit der Hitze an einem Strang. Zerrten seinen Verstand, seine Logik, seine Rationalität aus ihm heraus. Ließen den Hirngespinsten Raum, in den sie unmittelbar hineinwuchsen.
Gaben ihm nicht mehr die Möglichkeit, sich an die Oberfläche zurückzukämpfen. Er verlor sich in den Tiefen seines Lebens, das von hier so weit entfernt schien. So unwirklich. Gar nicht als Leben.
Er verlor sich in der Schuld der ganzen 35 Jahre, in denen er gelebt hatte. In denen er gehandelt hatte. Benutzt und genommen. Er verlor den Überblick über sich selbst, als er zwischen die Wurzeln tauchte. Als er auf der einzigen kleinen Lichtung Platz nahm und versuchte, Licht in die Dunkelheit zu bringen, während von Außen langsam das Fieber die Oberhand gewann.
Sein Leben zog nicht als Film an im vorbei. Es blitzte auf wie hervorspringende Geister in einer Achterbahn. Verschwand in atemberaubendem Tempo wieder in der Dunkelheit, während sein Zug weiterraste. Er wollte die Bilder stoppen. Wollte aussteigen, konnte nicht mehr ertragen, was er sah.
35 Jahre, und er befand sich in einer Achterbahn. Einer Geisterbahn. Nichts, das ihm Halt gab. Nichts, woran er seinen Stolz befestigen könnte, auf den er so viel gegeben hatte, vor dieser Sache.
Nichts, was hinter der Fassade seines Auftretens stand, um sie zu stützen. Allein zu sein, hatte ihn erschreckt. In den Tagen auf der Lichtung hatte es ihn beinahe zu Tode geängstigt. Jetzt erkannte er warum. Er hatte nicht für möglich gehalten, so allein zu sein. Nicht ohne sich selbst.
Die Erkenntnis über Sarah und die Fassade, hinter der sie nicht war, hatte sich als Vorboten dieser letzten Erkenntnis in seine Gedanken geschoben. Jetzt kam das nach, was ihm den Verstand raubte.
Zusammengesunken kauerte er neben dem Feuer, von Fieberkrämpfen geschüttelt, innerlich abgestorben. Er wartete.
Nur darauf, dass es zu Ende ging. Die grüne Hölle ihn auf ihre Weise schluckte.
Das leise Tuckern des Dieselmotors drang nicht zu ihm durch. Auch nicht, als es lauter wurde. Das Plätschern zu hören war. Das Boot anlegte.
Zu diesem Zeitpunkt fühlte er sich bereits eins mit der grünen Hölle. In seinen Ohre hallte von Zeit zu Zeit eine höhnische Zeile. Weisheit, die er nicht beachtet hatte, weil sie ihm so trivial aus dem Radio entgegenträllerte, in einer Welt aus leeren Fassaden.
Don't pay the ferry man.
Viel später schrieb er, was niemand verstand. Hörte das Getuschel nicht. Über sein Trauma, den Verstand, den er verloren hätte und die Mutmaßungen, was geschehen war.
Viel später hatte er verstanden. Nur er allein.