Donnerstag Abend
Zumindest konnte mir niemand vorwerfen, ich sei völlig ahnungslos gewesen. Dafür war es viel zu regelmäßig. Immer donnerstagabends. Irgendwann konnte ich schon fast die Uhr danach stellen.
Meine Frau machte sich hektisch fertig und verließ kurz vor acht Uhr unsere Wohnung – ein erwartungsvolles Lächeln auf den Lippen. Wenn sie zurückkam, war sie verschwitzt, die Wangen gerötet, erschöpft und zugleich zufrieden. Wäre sie eine Katze gewesen, hätte sie jedes Mal wohlig geschnurrt. Sie duschte dann noch, bevor sie irgendwann ins gemeinsame Schlafzimmer kam. Ich lag meist schon im Bett, drehte mich auf den Rücken und kämpfte mich nach langem Grübeln in den Schlaf.
Meine Frau hingegen schlief sofort ein und erwachte morgens frisch und ausgeruht.
Irgendwann nahm ich diese wöchentliche Routine nur noch mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Was blieb mir auch anderes übrig, als den Tatsachen ins Auge zu sehen?
Wir waren seit vielen Jahren verheiratet – und wie das eben so ist: Man verändert sich. Nicht immer zum Vorteil. Die Haare werden weniger, der Bauch mehr, und der Körper folgt zunehmend der Schwerkraft. Völlig klar, dass darunter die eigene Attraktivität leidet.
Früher oder später stellt sich dann die Frage: Geht man getrennte Wege – oder gesteht man dem anderen Freiräume zu?
Ich entschied mich für Letzteres.
Ich weiß, es klingt blöd. Vielleicht war ich auch einfach zu naiv und glaubte, dass es sich nur um eine Phase handeln würde, die bald vorbeigeht.
Ich arrangierte mich. Und irgendwann war ich einfach nur noch froh, donnerstagabends ungestört auf meiner Couch liegen zu können.
Doch nach ein paar Wochen begann eine neue Phase.
Eines Abends kam meine Frau, wie üblich zufrieden und ein wenig erschöpft, zurück – und begann begeistert davon zu erzählen, dass sie heute eine ganz neue Stellung ausprobiert hätte.
Sie muss meinen Gesichtsausdruck gesehen haben, denn sie stockte mitten im Satz.
Es zu ignorieren war das eine – ihr dafür noch Beifall zu klatschen, eine ganz andere Sache.
Ich glaube, sie wusste, dass sie den Bogen überspannt hatte. Aber nach all den Ehejahren kannte ich sie gut genug, um zu wissen: Auf ihren Donnerstagabend würde sie nicht verzichten.
Was ich immer an ihr bewundert hatte, war ihre Hartnäckigkeit. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, verfolgte sie ihr Ziel mit Ausdauer und Raffinesse.
Aber was sie mir dann vorschlug, war selbst für mich zu viel:
„Ich sehe doch, wie du leidest, wenn du hier alleine rumsitzt. Bestimmt grübelst du nur.“
Mit mitleidigem Blick – als wäre ich ein ausgesetztes Kätzchen am Straßenrand – sah sie mich an.
„Weißt du, ich brauche das. Der Donnerstag ist mir wichtig geworden. Ich zehre die ganze Woche davon.“
Abwehrend hob ich die Hände. Auf Details konnte ich gut verzichten.
Es zu wissen, ist das eine. Es aus ihrem Mund ins Gesicht gesagt zu bekommen, eine ganz andere.
„Ich merke doch, dass es dir nicht guttut, wenn ich so lange weg bin. Du schläfst schlecht, bist am Morgen wie gerädert. Ich habe eine Idee: Ich bleibe nicht mehr so lange weg. Wir könnten wieder mehr Zeit zusammen verbringen. Mehr Quality Time als Paar.“
Ihre blauen Augen funkelten, während sie mich ansah – so verheißungsvoll, dass mir beinahe die Knie weich wurden.
Meine Frau war also endlich wieder zur Vernunft gekommen.
Meine Strategie – Toleranz und Geduld – war aufgegangen.
Ich atmete erleichtert auf. Unsere Ehe bedeutete ihr noch etwas. Vielleicht, so dachte ich, könnten wir diese Krise nutzen, um gestärkt daraus hervorzugehen.
Doch ihre nächsten Worte ließen meine Hoffnungen zerplatzen wie eine Seifenblase:
„Ich stelle um auf online. Ich hoffe einfach, dass mich das Online-Format genauso zufriedenstellt wie die Präsenzveranstaltung.“
BITTE, WAS?
Digitalisierung schön und gut – aber bitte im Büro oder auf dem Amt, nicht in unserem Schlafzimmer!
Mein entsetztes, ungläubiges Gesicht muss Bände gesprochen haben, denn meine Frau beeilte sich hinzuzufügen:
„Nur erst mal zur Probe. Wir schauen dann, wie es läuft.“
Die Tage bis zum nächsten Donnerstag schleppten sich dahin.
Ich war ein einziges Durcheinander.
Wut, Trauer, Frust und Angst drohten, meinen Kopf zum Platzen zu bringen.
Aber da war noch etwas anderes, das ich erst spät bemerkte: Neugierde.
Wie würde der nächste Donnerstag ablaufen?
Als meine Frau zur gewohnten Zeit – statt aus dem Haus zu gehen – mit ihrem Laptop ins Schlafzimmer verschwand, zog ich mich demonstrativ auf meine Couch im Wohnzimmer zurück.
Schmollend wie ein trotziges Kind – der lebende Vorwurf – und zugleich bemüht, den letzten Rest von Würde und männlichem Stolz zu bewahren.
Als ich "rein zufällig" zur Toilette musste, gelang es mir, einen verstohlenen Blick in das Schlafzimmer zu werfen:
Auf dem Monitor – ein halbnackter Kerl mit durchtrainiertem Oberkörper, sonnengebräunt, Muskeln zum Niederknien.
Mein Kopfkino sprang sofort an.
Das sowieso nur eingebildete menschliche Bedürfnis war augenblicklich vergessen, und ich floh zurück auf die Couch. Und als wären die Bilder in meinem Kopf nicht schlimm genug, konnte ich durch die dünne Wand die männliche Stimme klar und deutlich hören:
„Schön, dass du wieder dabei bist – auch wenn heute nur online. Wir schaffen das gemeinsam! Ich habe mir extra etwas Neues überlegt – eine neue Stellung, die wir heute ausprobieren.“
Jedes Wort war ein Peitschenhieb auf meine Seele.
„Halte durch, noch ein bisschen. Gib alles auf der Matte. Du bist heute richtig gut. Genieße jeden Moment.“
Ich hielt mir mit den Händen die Ohren zu, aber mir gelang es nicht, die Stimme zum Verstummen zu bringen. Unerbittlich ging es weiter.
Als er schließlich anfing, seine kostenlosen Videos auf YouTube zu bewerben und meine Frau dazu aufforderte, seinen Kanal zu abonnieren, war mein Limit erreicht.
Ich sprang auf, marschierte zur Schlafzimmertür und riss sie auf – bereit, meine Frau in flagranti zu erwischen.
Sie drehte sich in aller Ruhe um, stellte den Ton leiser – und lächelte mich gelassen an.
Von Schuldbewusstsein oder Reue keine Spur:
„Willst du nicht auch dazukommen, Schatz? Das würde dir auch gut tun!“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und entgegnete mit dem kläglichen Rest an männlicher Würde, der mir noch geblieben war:
„Sicher nicht.“ Meine Stimme bebte vor Empörung.
„Ich habe dir doch gesagt, dass Yoga nichts für mich ist – und online erst recht nicht.
Du findest mich im Wohnzimmer, Schatz“, Ich drehte mich um und ging.
Endlich war auch dieser Donnerstagabend wieder vorbei.