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Don Juan
„Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt! Meine letzte Beichte war …“.
Es folgte eine Stille, in der ich Zeit hatte, mir ein Bild vom Sprecher zu machen. Es war eine Stimme gewesen, die auf seltsame Weise mit den Geräuschen beim Betreten des Beichtstuhles zusammenpasste; langsame, bedächtige Bewegungen hatte ich vernommen, vielleicht mit „schlurfend“ korrekt bezeichnete Schritte, und einen schwer gehenden Atem. Einen speziellen Geruch konnte ich nicht wahrnehmen, auch war mir die Stimme mit dem deutlich französischen Akzent nicht bekannt vorgekommen, aber das musste nichts zu heißen haben. Ich war damals erst kurz vorher in dieser Gemeinde nahe der Grenze nach Lothringen als junger Kaplan eingesetzt worden. Meine Neugierde, anhand der Stimme die Person zuzuordnen zu versuchen war noch nicht der Gelassenheit späterer Jahre gewichen, den reuigen Sünder, wenn er es denn wollte, schon noch von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Der Sprecher schien nicht fortfahren zu wollen, so dass ich für ihn weitersprach:“ … schon sehr lange her? Es muss nichts Schlimmes sein, wenn man nur selten zur Beichte geht – wenn denn nichts anliegt!“ Die sonst gerne von mir benutzte Floskel „mein Sohn“ hatte ich mir angesichts des vermuteten Alterunterschiedes verkniffen – wie Recht ich damit haben sollte, war mir da noch nicht klar. Der Mann auf der anderen Seite des Schnitzwerkes fuhr nun fort, und mir schwante, dass dieser Abend noch lange nicht zu Ende sein würde.
„Es ist allerdings – sonst wäre ich nicht hier!“ kam mit einem Anflug von Zorn in der Stimme die Antwort, und er fuhr fort: „Ich wurde geboren in der Nacht zum Jahre des Herrn 1838, geboren in die respektable, alte Familie eines spanischen Grande. Ich erspare Ihnen das Rechnen – morgen werde ich, so Gott will, 126 Jahre alt sein.“ Wieder folgte eine Pause, in der der Mann seinen eigenen Worten nachzulauschen schien. Da ich trotz des „gehörten“ Alters doch recht skeptisch war, zumindest was die Altersangabe betraf, war ich versucht ein ironisches „Na ja, die sechs Stunden werden Sie schon noch schaffen!“ einzuwerfen, aber ich verwarf den Gedanken schneller als er gekommen war. Es hätte das Ende des Gesprächs bedeuten können, und zumindest war meine Neugier geweckt, wie diese seltsame Geschichte weitergehen mochte. Mittlerweile zähle ich selber siebzig Jahre, da weiß man jeden Tag in Gesundheit zu schätzen.
„Nach einer in jeder Hinsicht verwöhnten Kindheit wuchs ich heran zu einem egoistischen und jähzornigen, leider aber gut aussehenden Mann. Insbesondere Frauen gegenüber verstand ich es, mich so darzustellen, wie sie mich sehen sollten – jedenfalls bis ich bekommen hatte, was ich wollte. Und wenn mich eine zu früh durchschaute, war es auch egal. Ich kannte genug der jungen Dinger, die auch nur darauf aus waren, in meine Familie hinein zu heiraten. Wenn die sich von mir verführen ließen – sollte das mein Problem sein?“
Ich versuchte, mir den vor meinem geistigen Auge erstandenen alten Mann jünger und in seiner Zeit vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Ich hatte auch nicht viel Zeit zum Nachdenken, denn er fuhr schon fort: „Eines Tages sollte es aber doch zu meinem Problem werden – oder jedenfalls auch zu meinem. Maria de Aranjuez y Corazon, älteste, noch unverheiratete Tochter eines Nachbarn und guten Freundes der Familie, leider deutlich gescheiter als hübsch – was wohl der Grund dafür war, dass sie noch unverheiratet war - sollte mit mir verheiratet werden. Ich aber wollte ihre jüngere Schwester Consuela, wenigstens für eine Nacht. Und ich bekam sie, nach nur kurzem Werben. So kurz, dass es mich fast beleidigte.“ Don Juan, wie ich ihn jetzt bei mir nannte, legte eine Verschnaufpause ein. Das lange Reden, vielleicht auch einfach sein langes Leben, schienen ihn kurzatmig gemacht zu haben.
An jenem Abend, der mittlerweile schon in die frühe Nacht übergegangen war, konnte ich seinen Ärger nicht wirklich nachvollziehen. Wiewohl jung an Jahren, wusste ich doch aus den Erzählungen älterer Brüder meines Ordens, dass die am letzten Tag eines jeden Jahres angebotene letzte Gelegenheit, das neue Jahr quasi gereinigt zu beginnen, allerlei seltsame Geschichten zu Tage brachte. Diese aber wollte in mir nicht das rechte Verständnis für eine Notlage aufkommen lassen. Worauf wollte er hinaus? Ungeduldig fing ich schon an, mir über das gerechte Maß an Buße Gedanken zu machen, als ich noch gar nicht wusste, welche Wendungen diese Geschichte noch bringen würde. Und er sprach auch schon weiter:
„Die Nacht blieb nicht folgenlos, Consuela wurde schwanger. Ich wollte sie überreden, das Ungeheuerliche ungeschehen machen zu lassen, es sei das Beste für unser beider Familien, ich würde eine alte Frau gleich am Fuße der nahen Pyrenäen kennen, die sich mit so was auskannte.
Consuela lachte. Ihr war es völlig egal, sie wollte offenbar schwanger sein, oder jedenfalls sagte sie es. Dass sie mich heiraten wollte, die Absprache zwischen unseren Vätern war ihr egal. Sie hätte es auch mir sein können, wenn nicht mein Erbe daran gehangen hätte. Sie aber – sie lachte mir ins Gesicht! Sie lachte mich aus! Sie lachte mich aus, und sie lachte noch, als sie meinen ersten Schlag abbekam. Als ich noch mal zuschlug, lachte sie nicht mehr. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer hässlichen Fratze, und als ich noch mal zuschlug, fiel sie. Im Fallen stolperte sie über einen Kerzenständer, der sich ihr in den Leib bohrte.“
Mit dieser Wendung hatte ich allerdings nicht gerechnet. Ich vergaß das rechte Maß an Buße und die wohlgesetzten Worte, die ich mir zurecht gelegt hatte.
„Als ich aus meiner Raserei erwachte, lag sie in ihrem eigenen Blut vor mir. Ich hatte sie getötet, sie und das ungeborene Kind in ihr. Es war ein Unfall! Ich hatte es nicht gewollt, oder jedenfalls das nicht gewollt!“ Ich machte mir meine eigenen Gedanken zu dem Thema, aber die standen im Moment nicht zur Diskussion.
„Ich rannte fort, rannte in die Berge hinein, rannte immer weiter, bis über den Kamm der Pyrenäen hinweg. Erst nahe einem kleinen Dorf in Frankreich gestattete ich mir eine Rast - in einer kleinen Höhle. An der Quelle, die in der Nähe der Höhle entsprang, wollte ich das Blut abzuspülen, als ich ein junges Mädchen sah, das sich der Quelle näherte. Ich versteckte mich hinter einem Felsvorsprung, als es plötzlich hell wurde – aber nicht die aufgehende Sonne erhellte die Szenerie, es war etwas anderes: die strahlende Gestalt einer Frau erschien über der Quelle. Sie schien sich mit der jungen Frau zu unterhalten, die auf die Knie gefallen war und zu beten schien. Genauso schnell wie sie gekommen war, war die Erscheinung wieder verschwunden, und auch das Mädchen ging wieder weg.
Ich näherte mich wieder der Quelle, noch ungläubig vor Staunen. Ich hatte gesehen, was ich nie wirklich geglaubt hätte. Aber wenn es das wirklich gab, dann musste ich hier Vergebung finden können. Wenn ich mir hier das Blut abwusch, wenn es mir hier gelänge, mit Gott zu reden, dann musste mir vergeben werden!!“
Wieder eine Pause. Und wieder das Gefühl in mir, dass ich nicht konform ging mit seinen Hoffnungen und Gedanken.
„Gott sprach nicht mit mir. An jenem Tag nicht, und auch später nicht mehr.“ Die Stimme hörte sich, wenn es denn möglich war, noch älter an. Resigniert, irgendwie verloren und verlassen. Und ich verstand. Das Blut hatte sich abwaschen lassen, aber die Schuld nicht. Bei allem Egoismus, allem Jähzorn, hatte der alte Mann über die Jahre tatsächlich nicht nur die Tat, sondern auch die Oberflächlichkeiten und Egoismen seiner Jugend bereut, war nun endlich in der Lage gewesen, über seine Tat zu berichten. Auch wenn er es noch eben als Unfall bezeichnet hatte – ich erkannte, dass er seine Schuld, seine ureigenste Schuld, eingestanden hatte und um Vergebung bat. Wer war ich, ihm die Absolution zu versagen? Ich versuchte, nachzuvollziehen, wie es gewesen sein musste, so lange Zeit mit dieser Schuld gelebt haben zu müssen, aber es gelang mir nicht. Auch fiel mir nichts Passendes zum Thema Buße ein – hatte er nicht lange genug gebüßt dadurch, dass er so lange an seiner Schuld hatte tragen müssen? Also wollte ich ihm die Vergebung Gottes zusagen, ohne ihn mit einer Buße zu belegen. Doch gerade, als ich mich ihm zuwenden, zu ihm sprechen wollte, hörte ich, wie er sich erhob und den Beichtstuhl verließ. Ein enttäuschter Seufzer war das letzte Geräusch, das ich vernahm – als ich aus dem Beichtstuhl kam, war die Kirche leer.
Auch vor der Kirche, im frisch gefallenen Schnee, konnte ich keine Spuren entdecken, aber trotz aller Verwunderung musste ich mich nun auf die Mitternachtsmesse vorbereiten. Quasi nur im Vorübergehen konnte ich meinem Amtsvorgänger und alten Dechanten von meinem Erlebnis erzählen, und obwohl ich um des Beichtgeheimnisses Willen nur vage wiedergeben konnte, was geschehen war, kannte er die Geschichte. Sie war ihm genauso passiert, vor über dreißig Jahren, als jungem Kaplan. Und genauso seinem Vorgänger.
Offenbar findet Don Juan keine Ruhe, bevor er nicht jemanden findet, der ihn besser versteht, der ihm ohne Vorbehalte vergeben kann. Versuchen Sie daran zu denken, wenn Sie am nächsten Sylvesterabend die Beichte abnehmen, Herr Kaplan!