Doktor Poncher
Heute jährt sich das Ereignis zum zehnten Male und ist immer noch nicht in der wohltuenden Vergessenheit versunken, die jeder von uns so sehr herbeigesehnt hätte. Es gelang uns einfach nicht, zu verdrängen, was dieses Wesen uns angetan hatte mit seiner Existenz. Das Wesen, von dem ich berichte, wohnte in einem schäbigen kleinen Holzhaus am Rande der Stadt, das jeder vernünftige Mensch in weitem Bogen umging, wenn es ihm nur möglich war. Man weiß nicht sehr viel über den Bewohner des Häuschens, der stets zurückgezogen und in fortwährender Isolation sein Leben zubrachte. Niemand riss sich darum, ihn kennenzulernen. Viele wussten nicht einmal, welchen Beruf er ausübte. Doch was allen bekannt war, war sein Name. Ein Name, der kaum ein Jahr nach seinem Einzug in unsere idyllische kleine Stadt auf den Titelseiten der Zeitungen erscheinen und die Blicke auf sich fesseln sollte: Poncher. Man konnte ihn, so erinnere ich mich, in den ersten Wochen anscheinend ziellos um sein Haus gehen und zuweilen in den kleinen Teich neben seinem Haus starren sehen, wenn man an diesem unseligen Orte vorbeikam. Mit der Zeit berichteten seine Nachbarn von Schreien, die gedämpft aus dem Inneren der Baracke drangen und von merkwürdigen Geräuschen, die selbst in der Nacht nicht verklangen. Es hörte sich an, als würden Möbel mit einer Axt zerschlagen. Zu dieser Zeit wohl begannen die Begegnungen mit dem Mann, den jeder Poncher nannte, weniger zu werden. Er verkroch sich in seiner Höhle und tauchte nur noch sehr selten in der Öffentlichkeit auf. Viele mochten sich, wenn schon nicht an ihn gewöhnt, so doch zumindest vergessen haben, dass es einen Fremden gab, der dort am Stadtrand wohnte. Ich erinnere mich genau daran, wie alles angefangen hatte, wann sich die Spirale des Verhängnisses über unserer Kleinstadt in Bewegung setzte und Veränderungen mit sich brachte, Veränderungen für uns alle. Veränderungen, von denen wir heute noch zehren. Eines Tages kam Poncher, in einen schweren schwarzen Mantel gehüllt, in meinen Laden, um Farbe zu kaufen. Er war kurz angebunden, wie immer wenn ich ihn traf und es sich nicht vermeiden ließ, das eine oder andere Wort mit ihm zu wechseln, und sagte mir er wolle auf die Fassade seines Hauses neue Farbe auftragen. Sicherlich nichts, was in irgendeiner Weise ungewöhnlich oder seltsam zu nennen wäre. Wäre es nicht die Farbe gewesen, die er ausgewählt hatte. Er wollte sein Haus in schwarze Farbe hüllen. Ich muss ihn wohl sehr verwirrt angestarrt haben, doch den Fremden kümmerte das nicht und er verließ den Laden. Auf der Ladentheke lag das Geld für die schwarze Farbe. Doch ich wagte nicht es zu berühren. Ich hatte Angst. Furchtbare Angst, wie ich sie nie zuvor kennengelernt habe und auch nicht wieder kennenlernen würde. Am darauffolgenden Morgen erstrahlte das kleine Häuschen am Stadtrand in einer neuen Farbe und es sah inmitten der blendend weißen Nachbarshäuser wie ein Fremdkörper aus. Wie ein Krebsgeschwür. Ich habe Poncher danach nie wieder gesehen und kenne die ganze Geschichte nur von den Berichten anderer. Zu dieser Zeit verschwanden die ersten Menschen in unserer friedlichen Gemeinde. Viele wurden nie gefunden, manche lagen verkohlt und wie in einem Ritual vor den Toren des Friedhofs mit umgedrehten Kreuzen in den geschlossenen Händen. Manche lagen im nahegelegenen Wald unter den Bäumen und man konnte glauben, sie schliefen nur. Jemand hatte sie ermordet, "geopfert" schwirrte es in unseren Köpfen umher, und jeder wusste wer der Schuldige war. Poncher. Er verhielt sich auffällig, war stets nervös, wenn man ihm einmal auf der Straße begegnete, was eher die Ausnahme war. Sein Haus umgab von nun an eine Aura des Schreckens und der Furcht. Die Nachbarn sagten, dass die Schreie in letzter Zeit lauter und flehender geworden seien. Ich glaubte ihnen. Der Schrecken war bald wieder vorbei und als der Sommer kam, war Poncher wieder in Vergessenheit geraten und ein vorbestrafter Mann aus einer kleinen Gemeinde, nur einen Katzensprung von der Stadt entfernt, wegen dringendem Tatverdacht festgenommen worden. Nun hatten sie ihren Schuldigen und waren zufrieden. Jeder wusste, dass der wahre Täter noch in unseren Straßen und Gassen umherging und immer wieder zuschlagen konnte, doch wir schwiegen, ich weiß nicht aus welchem Grunde. Irgendwann konnte man das Brummen von Maschinen in Ponchers Garten hören und ehe man sich versah, war der Teich einer gleichmässigen Rasenfläche gewichen. In den Nächten konnte man laute Schreie und das Klirren von Glas in den Wänden der Hütte hören, wenn man auf dem Weg zum nächsten Zigarettenautomaten daran vorbeischlenderte. Kaum jemandem wird aufgefallen sein, dass Poncher von nun an leichte Handschuhe trug, wenn er das Haus verließ. Dabei war doch Sommer und die Luft flirrte vor Hitze! Aber er war nun einmal als komischer Kauz verschrien und konnte nun ungeniert seine Gewohnheiten ausleben. Sein Ruf war eh schon ruiniert. Der Sommer ging vorbei und als sich die kalten Klauen des Herbstes und dann des Winters in das Land krallten gab es wieder die ersten gewaltsamen Tode zu beklagen und man beeilte sich, den damals Angeklagten wieder freizulassen und gebührend zu entschädigen. Wir hätten Poncher wohl nie überführt, hätte er nicht diesen kleinen Fehler begangen. Eines Tages hatte er, als er mit seinem Wagen auf die Straße zurücksetzte, ein Verkehrsschild umgefahren ohne den Vorfall bei der Polizei zu melden. Dies taten dann seine wachsamen Nachbarn freundlicherweise für ihn und Polizeibeamten wurden zu seiner Wohnung geschickt. Doch er schien nie daheim zu sein und als Poncher einen Monat darauf immer noch kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte wurde die Tür zu seinem Haus gewaltsam geöffnet. Die Polizisten waren entsetzt, was sie dort vorfanden. Alle Wände waren mit schwarzer Farbe bemalt, jeder Spiegel zerschlagen worden. Die Möbel waren zerfetzt und lagen zerbrochen am Boden. An manchen Wänden prangten weiße Pentagramme auf schwarzem Grund. Die Fenster waren mit dunkeln Vorhängen versehen, so dass kein Lichtstrahl hindurchdrang. Über allem lag der schwere Geruch von Weihrauch, der einem fast den Atem raubte. Ein anderer süßlicher Geruch mischte sich darunter. Der schwarze Fußboden war übersät mit feinen Bluttröpfchen, die in den Keller führten. Dort fanden sie ihn dann, auf einem alten Stuhl vor seinem Schreibtisch sitzend mit gläsernem Blick und einem zur Fratze erstarrten Grinsen auf seinem Gesicht. Er hatte sich mit einem Messer selbst die Kehle durchgeschnitten, was sehr schmerzhaft gewesen sein musste, wie die Spezialisten der Rechtsmedizin später feststellten. Eine Kerze stand heruntergebrannt auf seinem Schreibtisch, gemeinsam mit dem Schädel eines seiner Opfer. Er hatte viele Briefe an sich selbst geschrieben, hochtrabend und wirr, doch aus ihnen ging eindeutig hervor, dass er der Mörder war. Aber auch, dass sein Geist lange krank gewesen und getrübt war. Denn er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er von seiner Mutter verstoßen und in ein Waisenheim gesteckt worden war. In der Dunkelheit, die seine Seele umnächtigte, hatte er sich dem Satanismus zugewandt und sich dem Studium der Medizin gewidmet. Auf seinem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Buch. Das Kapitel handelte von Erkrankungen der Geschlechtsorgane und groß prangerte die Überschrift "Phimose" über der Seite. Und wie er da saß schien er tatsächlich über Phimose zu philosophieren. Seine Patienten hatten sich wohl eher unfreiwillig einer eingehenden Obduktion unterzogen.
Das Haus am Stadtrand gibt es schon lange nicht mehr. Es wurde vor acht Jahren abgerissen und durch einen Kindergarten ersetzt. Und wenn man des Nachts auf dem Weg zum nächsten Zigarettenautomaten daran vorbeischlendert kann man laute Schreie und das Klirren von Glas hinter den mit dunklen Vorhängen versehenen Fenstern hören. Und dann weiß man: Doktor Ponchers Praxis hat wieder geöffnet.