Doktor Frank Breidendiek
Kaufmann Fritz Meyer lag im Krankenhaus. Zwei Tage und Nächte war er allein. Auf einer Trage schleppten sie am Montag einen langen Kerl herein. Er maß von Kopf bis Fuß einmetersiebenundneunzig, war klapperdürr, mit Hakennase und schütterem Haar.
"Habe auch einen Doktor ", sagte er, als er sich vorstellte, "den lassen Sie einfach weg, für Sie bin ich Patient Frank! Komme aus Raum 18, dort liegt nun ein Schwerkranker, hört und spricht nicht mehr, soll seine Ruhe haben."
Nun ja, dachte der Händler, biste nicht mehr allein, vielleicht kannst'e mit dem Typ mal vernünftig quatschen. In den nächsten Stunden fragte er ihn nach seinem woher, wohin und weshalb er denn hier wäre und was ihm sonst noch alles einfiel. Der Große war redselig und erzählte seine Lebensgeschichte. Studium der Philosophie, Promotion, dann ausgestiegen, 35 Jahre Kneipe im Ruhrgebiet. Schluß gemacht und später an der Schlei ein kleines Haus gekauft. Lebensgefährtin weggelaufen, war zu wenig los hier am Meer, neues Glück gefunden und so wäre es nun. Er habe immer starke Schmerzen, aber die Doktoren würden ihm sicher helfen, in diesem Haus wären sie alle sehr gut. Vor zwei Jahren habe er schon mit seinem Schlaganfall hier gelegen und "schauen Sie mich an, sehe doch noch gut aus und meine Katrin ist mit mir noch immer sehr zufrieden."
Inzwischen war Schwester Uschi da und Frank meckerte über sein kurzes Bett. Zwei Sanitäter erschienen mit einer neuen, langen Liege. Breidendiek war nicht mehr da, im Eingang vom Krankenhaus rauchte er seine Zigarette. Später, am Nachmittag pünktlich zum Tee, kam Katrin. Selbstbewußt, groß und stabil, blond und blauäugig, Germania gleichend, etwas herb nach strengen Parfum duftend, polterte sie herein. Jetzt war der Schmerzensmann wieder da, klagte und jammerte, meckerte aber nicht mehr über das Bett. Die Besucherin beruhigte den Kranken. Später gingen sie zusammen im herbstlichen Park spazieren und rauchten.
Am nächsten Tag war um zehn Uhr Visite. Großer Auflauf, Herr Professor Doktor, der Chef, Herr Oberarzt Doktor, Herr Abteilungsarzt Doktor, Assistenten, Studenten und Schwestern, alle in blütenweiß, arielreingewaschenen Kitteln, Hosen und Gamaschen. Jovial der Boss:
„Na, mein lieber Herr Breidendiek, wie gefällt es uns denn hier im neuen Zimmer?"
„Gut, gut, Herr Professor, das Bett paßt nun auch und wenn ich keine Schmerzen hätte, dann ginge es mir noch besser!"
„Schauen wir mal," der große Meister sah sich die Krankenakte an.
„Ja, wir haben schon einiges gemacht, Medikamente und Anwendungen. Die Fangopackungen müssen doch geholfen haben, immerhin haben Sie acht davon bekommen."
„Was für Fangopackungen? Ich habe bis jetzt keine gesehen, habe nur Schmerzen, halte es bald nicht mehr aus!"
Bedeutungsvoll schaute der Allgewaltige seinen Oberarzt an, doch dieser zuckte nur mit den Schultern.
„Also, wir probieren noch etwas aus, damit Sie Linderung erhalten. Sie bekommen heute Abend eine Schmerztablette, die nehmen Sie vor dem Einschlafen. Es ist ein Versuch, aber ich sage Ihnen, das ist unsere letzte Möglichkeit! Das schwerste Geschütz, das ich habe!"
Damit verschwand der ganze Schwarm aus der weißgekalkten Bleibe. Der ehemalige Kneipenwirt krabbelte aus seinem Bett, zog sich seine Hose über und ging rauchen. Nach einigen Minuten kam ein Mann im weißen Anzug.
„Sagen Sie mal", wandte er sich an Fritz Meyer „liegt bei Ihnen ein Herr Doktor Breidendiek? Wo iss'en der? Hier ist doch Raum 31?"
„Stimmt! Der ist rauchen, draussen, irgendwo wird er mit seinem Zigarettchen stehen!"
„Verdammt noch mal! Ich hab einen Anschiß bekommen! Angeblich hätte er keine Fangopackungen erhalten! Mein Gott, ist der Kerl denn schon länger hier? Hat er etwa auf 18 gelegen?"
„Kann schon sein," war die dünne Antwort.
„Halten Sie ihn unbedingt fest, ich bin in einer halben Stunde wieder hier!"
Wupps, war er wieder weg, der weißgewandete Herr. Frank tauchte auch wieder auf und Fritz sagte ihm, er müsse nun hierbleiben, irgend etwas würde mit Fango sein. Der Meister käme gleich wieder. Knurrend und ächzend lagerte sich der Kranke auf seinem Bett. Das ganze Zimmer stank inzwischen wie ein alter Aschenbecher. Der Weiße tauchte wieder auf.
„Da sind Sie ja! Heißen Sie Breidendiek, Frank, Geburtsdatum 7.12.32? Waren Sie vorher auf 18?"
„Also mal langsam mit den jungen Pferden. Für Sie noch immer Herr Doktor Breidendiek, was sein muß, muß sein. Ansonsten liegen Sie richtig mit Ihrer Fragerei."
„Verdammt, hab ich es doch geahnt! Hab dem Alten auf 18 immer ihr Fango verpaßt! Mein Gott, der hat nie was gesagt, nur immer erwartungsvoll gelächelt und über das ganze Gesicht gestrahlt! Jetzt erinnere ich mich auch. Sie lagen doch im Bett an der Wand. Warum haben Sie denn nicht ihren Mund aufgemacht und gesagt, daß Sie die Anwendung bekommen?"
„Wußte ich doch nicht, daß sie meine Packungen dem Anderen unterjubelten. Es ist doch nicht meine Aufgabe Sie zu überwachen und außerdem haben Sie nie gefragt! Der arme Kerl konnte sich nicht wehren, denn er ist doch taub und stumm!"
„Na, Mahlzeit, schöner Mist, bleiben Sie jetzt hier, ich hol schnell Ihre erste Sendung!"
Die Kranken wunderten sich, doch meinten sie, sicherlich menschliches Versagen von dem Herrn Masseur, kann passieren und damit war der Vorfall erledigt.
Der Nachmittag verlief wie immer, Katrin kam und der Lange erzählte ihr die Fangogeschichte und beide gingen an die frische Luft, um eine zu qualmen. Der Abend kam und mit ihm die Nachtschwester. Frank war wieder rauchen. Uschi sah sehr, sehr müde aus, zwölf Stunden Tagesschicht hatte sie hinter sich und jetzt mußte sie in der Nacht noch eine Kollegin vertreten. „Ich leg die Pille für Herrn Doktor Breidendiek hier auf ein weißes Schälchen. Sagen Sie ihm, das wäre die Tablette vom Herrn Professor. Er solle sie unbedingt mit etwas Wasser, gleich wenn er wieder da ist, einnehmen. Bitte, achten Sie darauf, es ist sehr wichtig, ich muß weiter, habe keine Zeit."
Irgendwie war Fritz schon im Halbschlaf, als Frank herein stolperte. Er stieß gegen seinen Nachttischschrank und irgend etwas kollerte auf den Fußboden. Der Geschäftsmann war so verdammt müde.
Der nächste Tag begann und dann war auch Visite. Wieder kamen alle in Weiß, doch Uschi war nicht dabei.
„Nun, mein Herr, wie haben Sie geschlafen?" begann der Herr Professor, gleichzeitig fühlte er Frank den Puls. Dieser begann sofort mit seiner Meckerei. Er hätte kein Auge zu bekommen, überhaupt keinen Schlaf gehabt und sich die ganze Nacht wegen der Schmerzen hin und her gewälzt. Auf die Frage, ob er denn die Tablette genommen hätte, antwortete er nur, er hätte keine bekommen und nie eine gesehen. Der Herr Chef schaute verunsichert in sein Gefolge. Die Oberschwester zuckte heute, wie gestern der Oberarzt, mit ihren Schultern. Die Visite wurde abgebrochen. Im Hinausgehen hörte der Kaufmann den Boss murmeln, der Herr bekommt von uns noch Bescheid! Der Kaufmann hatte einfach vergessen, seinen Bettnachbar an die Pille zu erinnern. Viele Jahre machte er sich deshalb große Vorwürfe.
Seit diesem Vorfall hatte sich das Verhältnis vom Arzt zum Patienten gewandelt. Der Chef ließ den Meckerer unbeachtet liegen, er übersah ihn einfach bei seinen Visiten. Nun kümmerte sich der Oberarzt um den ehemaligen Kneipenwirt.
Die Tage vergingen und Meyer sollte bald als geheilt entlassen werden. Irgendwann, ungefähr eine Woche später, am Dienstagmittag, stocherte jeder von den beiden in seinem Kartoffelbrei.
„Mensch, was iss´n das? Das gibt es doch nicht! Sehen Sie sich das mal an! Die wollen mich wohl umbringen!"
Fritz drehte sich zu seinem Nachbarn. Auf dessenTellerrand lag silbrig glänzend eine Spirale! Irgend so ein Stahlding, das zum Reinigen von großen Töpfen oder Kesseln benutzt wird. Er staunte nicht schlecht. Frank drückte auf die Notschelle. Uschi kam und Breidendiek wurde laut. Das arme Mädchen hingegen wurde blaß, schnappte sich den Teller mit dem Stahl und verschwand. Später kam ein Mann, ach was, ein Hüne, ein Staatskerl in Kochmontur! Pickobelloblütenweiß, der Chef der Küche, seine Mütze reichte fast bis an die Zimmerdecke. Er brachte eine Schale voll mit Äpfel, Birnen, Pflaumen und Trauben. Er entschuldigte sich. Frank lächelte huldvoll, murmelte aber noch, „ich hätte tot sein können!". Der Koch schaute verschämt zu Boden. Kaufmann Fritz Meyer dachte, dieser Kumpel ist doch ein richtiger Pechvogel!