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Doctor Cool und Mister Ungeschickt Oder
Doctor Cool und Mister Ungeschickt
Doctor Cool und Mister Ungeschickt
Oder: Back to the Eighties
Der Gegenhang des Höhlenwegs wurde zu meinem Verhängnis. Kratsch-bumm!
„Scheiße!“ Die Kette war wieder raus… und blockierte das Hinterrad.
Mit einem spektakulären Stunt legte ich mich aufs Maul. Knie, Hand und Arsch auf hartem Asphalt. Das tut weh.
Ich stand langsam auf. Die Hand aufgerissen, blutend. Ich wischte mir den Dreck von der Jeans, setzte den heruntergefallenen Ranzen wieder auf den Gepäckträger und schaute mir das rostige, sperrmüllreife Unfallgefährt an. Nichts zu machen.
Ich nahm das Lenkrad und schob das Fahrrad mit dem blockiert schliddernden Hinterrad den Hügel hinauf. Zwei Sextanerinnen mit blondem Pferdeschwanz überholten mich mit funkelnagelneuen Mädchenfahrrädern im Zeitlupentempo (im ersten Gang).
„Ist der blöd, oder was?“, hörte ich die eine tuscheln, fast unverständlich wegen ihrer Zahnklammer.
Als ich den Oberstufenhof wütend grummelnd erreichte, sah ich schon von weitem Georgs unglaublich cooles Lächeln, als er an seiner Zigarette lässig schnippend in hellblauer Jeansjacke neben Uta (der bestaussehendsten Frau unserer Stufe) und Anja (der bestaussehendsten Frau der Stufe unter uns) mit seinen Autoschlüsseln in der Luft schlenkernd ein Witzchen machte.
Als ich mich an den drei - humpelnd, blutend, stöhnend - vorbeischleppte (es klingelte zum zweiten Mal, das heißt zum Unterrichtsbeginn), drehte Sunnyboy den Kopf zu mir: „Hallo Wolfgang! Ein Problem mit dem Fahrrad?“ Grinsen.
„Jaaaaa.“, seufzte ich herzerbarmend.
Die drei prusteten (diskret in meinem Rücken) los. Und Georg drückte locker die Zigarette an den Sohlen seiner Cowboystiefel, um sich anschließend bei den Schönheiten zu verabschieden.
„Doctor Cool sofort in den OP! Notaufnahme! Ein neues Opfer von Mister Ungeschickt! Bitte beginnen Sie sofort die Notoperation und retten Sie, was noch zu retten ist. Ich wiederhole: Doctor Cool, Sie werden gebeten, sich unverzüglich in den OP zu begeben…“
Georg schob mir das abgerissene Löschpapier rüber und tat dann wieder so, als ob er Herrn Schmidt (Reli-Lehrer: Laber Rhabarber…) zuhören würde.
Ich entdeckte auf dem Löschblatt nur eine Sonne, die mich anlachte. „Wie geht es …?“, stand darunter.
Ach ja, „Sonnenschein“ war unsere interne Abkürzung für Tanja (blond, lieb, sportlich und … ich war heftigst in sie verknallt).
„So lala. Anruf fehlgeschlagen.“, schrieb ich aufs Löschblatt.
Doctor Cool hob seine Augenbrauen. Das verschlimmerte natürlich den Zustand des Patienten. Was war passiert?
Vor einigen Tagen war ich in der Freistunde vor Sport den ungemütlichen Weg in das Schuluntergeschoss hinabgestiegen, wo sich im Halbdunkel der abgestandenen Luft und in der Kellerskälte das einzige Telefonhäuschen der ganzen Schule befand. Natürlich hatte ich keine drei Groschen zum Telefonieren. Also musste ich ein Markstück investieren.
Das Telefonbuch gab Auskunft über „Gnöbel“ auf dem Brüser Berg. Ich wählte mit zittrigen Fingern die Nummer.
Tuten.
Mutter Gnöbel nahm ab.
„Guten .. Tag…äh hier ist der… Wolfgang… Urach. Ich wollte fragen…äh… ob… ob der Gunnar da ist.“
Gunnar, der mega-sportliche Bruder von Tanja, unerreichbarer Stufenkollege von mir, den ich sonst nie zu Hause anrief (was sollte ich auch dem stufenbesten Athleten sagen?), bekam den Hörer.
Ich hoffte nur, dass sich mein Zittern nicht hörbar machen würde.
„Hallo Gunnar.“
Totales Unverständnis am anderen Ende der Leitung
„Na? Ach, ich rufe an, um zu fragen… hast du eigentlich die Platte von Scorpions?“
Gunnar: „Hä? Nein!“
„Nein? … Ach OK… äh sag mal, kannst du mir mal …deine Schwester geben?“
Pause. Entstehen eines instinktiven Misstrauens.
„Kurz, nur ganz kurz…“
Quasi hörbares Kopfschütteln seiner Schwester. Gunnar flüsternd zu ihr: „Oh, Mann, was will denn der von dir?“
Feenhaftes Säuseln: „Hallo Wolfgang.“
„Hallo, Tanja. Ich wollte dich nur fragen, ob … ob wir uns mal treffen können?“
Schlucken, so was Schreckliches bekommen auch gut aussehende Frauen nur selten zu hören: „Irgendwann vielleicht…“, fügte ich schnell an.
Erleichterung am anderen Ende: „Warum nicht?“
„Irgendwann mal,…“, versuchte ich das entstehende Pausenloch zu stopfen.
Ein paar nette unverbindliche Feenworte bis zum Auflegen: Da muss frau improvisieren: „Da können wir ja noch morgen drüber reden. Das ist nett, dass du mich angerufen hast.“
„… is ja nich eilig…“
Hoffte sie ja auch.
„OK tschüss.“, sagte ich schließlich.
Sehr erleichterte Fee: „Tschüss.“
Das Telefongespräch war so schnell zu Ende, dass mir noch 70 Pfennig von der Mark geblieben wäre, wäre es kein Markstück gewesen. So hängte ich auf, und das schöne Markstück verschwand im Orkus.
Doctor Cool hörte mir mit ernstem Gesicht zu. Unser Lehrer tat jetzt so, als ob wir ihm zuhören würden, sprich: er ignorierte uns.
„Was sonst noch?“, fragte der behandelnde Arzt.
Ich hatte noch einen Brief geschrieben. Mit dem mir eigenen Humor hatte ich mich an „das Burgfräulein Tanja“ gewandt und mich als „Euer untertänigster und herzverbundener Minnesänger“.
Dieser pompöse und aus meiner damaligen Sicht höchst witzige Brief war leider auch ohne Antwort geblieben.
Georg nickte ernst. Es ist so schwer, unheilbar Kranken die Wahrheit zu sagen.
„Wolfgang, was meinst du denn zur Rolle von Johannes dem Täufer in diesem Textauszug?“, sprach mich Herr Schmidt an.
Das Thema wurde erst gute zehn Jahre später wieder aufgenommen. Wir waren dabei, unsere Zehn-Jahres-Abiturfeier vorzubereiten. Was schwelgten wir in schönen Schulerinnerungen! Guido die Niete, Georg der Frauenheld, Petra die Fünfenschreiberin …bis Julia (zweitbestaussehendste Frau unserer Stufe) mir schulterklopfend sagte: „Ja, da war doch noch das Burgfräulein Tanja!“
Georg grölte los, und mit ihm das ganze Pack der so genannten Stufenkameraden, die sich freuten, mir eins auszuwischen, und ich wusste, dass mein Burgfräulein-Komplex gerade noch einmal auf 10 Jahre fest zementiert wurde. Dann natürlich legte Georg, der gerade seine Doktorarbeit in innerer Medizin schrieb, seine Hand auf meinen Arm. Ohne Worte. Wird schon wieder.
Doch Doctor Cool schaltete sich wieder ein, als Mister Ungeschickt noch am selben Tag ein neues Kapitel der Never Ending Story aufschlug.
„Julia?“, fragte er erstaunt und zog an seiner Zigarette. „Bist du dir sicher?“
Mein ernstes Nicken wurde vom Therapeuten richtig verstanden: „Mensch, die will doch gar nichts von dir“, versuchte er sofort, mir diese spinnerte Idee auszureden.
‚Höchstens von mir’, dachte sich Sunnyboy Doctor Cool im Stillen…
Doch am Ende der Sitzung hatte ich gegen ärztlichen Ratschlag und auf eigene Verantwortung meinen Entschluss gefasst.
Schließlich hatte sich Georg sogar breitschlagen lassen, mir zu helfen.
Wir trafen uns in der Nacht vom 30.4. auf den 1. Mai im Gewerbegebiet; ich mit dem Maibaum, und er mit…
„Hast du nicht etwas vergessen?“, nickte er ernst und holte aus seinem Kofferraum verschieden farbiges Kreppband hervor, das er bereits in schmale Streifen geschnitten hatte.
„Danke.“, nuschelte ich. Wir fingen an, den Baum zu schmücken.
„Bist du dir sicher, dass es hier ist?“
Ich zeigte auf den Eingangsbereich des unscheinbaren Bürogebäudes: „Siehst du die Messingplatte mit dem Redaktionsname drauf? Sie macht doch ihr Praktikum in der Redaktion…“, beharrte ich.
„Ja sicher, aber warum willst du den Maibaum denn nicht bei ihr zuhause aufstellen?“, hakte er nach.
In diesem Moment fragte ich mich, ob ich nicht besser den Arzt hätte wechseln sollen: „Sie wohnt doch jetzt in dieser WG !!!! Mit Tanja!!!!“
„Ach ja! Richtig!“, entschuldigte sich Georg.
Wir stellten den Baum auf, die Kreppbänder flatterten fröhlich im Wind. Die Arbeit war getan. Jetzt war alles nur noch eine Frage meines angeborenen Charmes, um mich im rechten Moment als potenzieller Lover zu produzieren.
Später erfuhr ich, dass Julia am 2. Mai morgens bei Arbeitsbeginn lediglich bemerkt hatte, dass der Hausmeister daran arbeitete, einen schlechten Maischerz von der Häuserfront des Redaktionsgebäudes zu entfernen…
Bonn, März 1998. Es war kühl, aber der rheinische Himmel war wolkenfrei, die Sonne wärmte unsere Gesichter und Wintermäntel.
Georg war in Begleitung dieser Brünetten gekommen, die ohne Ende lachte, so unglaublich locker war und verdammt gut aussah.
Ich kannte Georg soweit, dass ich wusste, dass er wieder ganze Arbeit geleistet hatte. Wildern in den jüngeren Medizinjahrgängen… Kinderspiel.
Wir saßen also auf der Strassenterrasse eines Cafés und beobachteten die Passanten am Kinderkarussell. Wir schlürften einen Cappuccino.
Ich erwähnte meine Freundin Agnes.
Georg verschluckte sich: „Freundin?“
„Öh, ja.“ Ich versuchte, wirklich locker auszusehen.
„Und wie… wie ist sie so?“, fragte Georg genauso unsicher wie der Forscher im Jurassic Park, der nicht weiß, was ihn auf der anderen Seite erwartet.
„Nett.“
„Mmh.“, kommentierte mein Leibarzt vorsichtig. „Und wie lange kennst du sie?“
„Einen Monat.“
Da kam dieses altvertraute Lächeln wieder, den Arm um seine hübsche Begleiterin gebreitet: „Ja, Susanne und ich sind ja auch erst einen Monat zusammen.“
„Karneval?“, fragte ich schüchtern an.
Georg geheimnisvoll lächelnd zu Susanne: „Tja, Karneval eben.“
Wie war das möglich? Wenn Georg auf Jagd ging, erlegte er zu Karneval immer die hübscheste, im Rheinland verfügbare Elchkuh.
Ich war oft extra zu Karneval zurück nach Bonn gekommen, solo natürlich… Ich kam, sah und blieb solo, und meine Solitude ersoff ich in viel zu viel Karnevals-Kölsch bis zum bitterem Aspirin-Ende.
Agnes kam erst am späten Nachmittag mit dem ICE aus Hamburg.
Der Abend wurde nett beim Italiener begossen. Übernachtet wurde bei uns. Georg und Susanne machten sich auf umgerechnet 4,5 Quadratmeter breit, mehr gab mein Appartement nicht her. Am nächsten Tag hatte Georg kleine Augen.
„Lange Nacht?“, versuchte ich einen Witz.
„Vor allem bin ich es nicht mehr gewohnt, auf einer Luftmatratze zu schlafen“, war die eher banale Antwort meines Idols.
Irgendetwas fehlte. Das Frühstück verlief eher stumm. Und doch hatte ich an alles gedacht. Plötzlich fiel mir auf, was fehlte.
„Warum rauchst du denn nicht mehr?“, fragte ich Georg.
„Ach, ich muss endlich damit aufhören.“, meinte er entschlossen, etwas uncool, fast zornig. Ich war erstaunt. War das noch Doctor Cool? Cool man? The very best of them all?
Hatte ich bei meiner ganzen Nabelschauerei nicht bemerkt, dass auch Georgs Leben weitergegangen war?
Susanne blinzelte mich verschwörerisch an, da wusste ich, dass auch Georg sich geändert hatte.