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Doc, haste noch was?
Das schwarze Asphaltband verlief geradeaus über die sanften Hügel. Äcker mit dunklen, durchfurchten Böden säumten die Straße. Die Strahlen der hochstehenden Mittagssonne reflektierten sich auf der glatten Kühlerhaube unseres Autos. Laut dröhnten die Stones aus den voll aufgedrehten Boxen: „Can´t you hear me knocking?“ Mein Kumpel Jakob war bester Laune, erzählte von den großen Festivals in Deutschland, der Zeit, in der noch Jimi Hendrix, Santana oder Canned Head aufgetreten waren. Der guten alten Zeit!
Wild trommelte er auf dem Armaturenbrett im Rhythmus des Schlagzeugs. Seine Augen waren halb geschlossen, den Kopf schüttelte er im Takt der Musik. Glut löste sich von seiner locker im Mundwinkel hängenden Zigarette und bröckelte als feine, graue Asche auf seine Jacke. Jakob, so wie ich ihn kannte!
Wir waren bereits zwei Stunden unterwegs und so langsam erfasste uns die Vorfreude auf das bevorstehende Ereignis. Nach einem fast drei Jahrzehnte andauernden musikalischen Tiefschlaf waren wir endlich wieder „on the road“, auf dem Weg zu den Idolen unserer Jugend. Heute sollten wir nach langen Jahren endlich unsere ehemaligen Helden und Idole wiedersehen, die es noch - oder wieder -, gab: Hölderlin, Kraan, Amon Düül, Guru Guru, Frumpy und viele mehr.
Ich konnte mich Jakobs guter Laune nicht entziehen, der neben mir nun Jethro Tulls „Locomotive breath“ mitgrölte und sich an der Luftgitarre mächtig verausgabte. Unser stinknormaler, langweiliger, silberner Ford Focus verwandelte sich in einen alten, klapprigen, lindgrünen VW-Bus mit großem „PEACE“-Aufkleber an der Seitentür und Regenbogen-Design auf der Heckklappe. In Gedanken sah ich uns mit langen, verfilzten Haaren, Stirnbändern, Batikhemden und engsitzenden, unterhalb der Knie weit geschnittenen zweifarbigen Jeans mit breiten Ledergürteln.
Die größer werdende Autokarawane mit jungen und jung gebliebenen Musikfans war ein deutliches Zeichen auf das in greifbarer Nähe liegende Ziel. Vorsichtig lenkte ich unser Auto auf den Parkplatz, den uns ein langhaariger, missmutiger Kerl mit Lederjacke zuwies und der aus einer von einem Bauern als Parkplatz freigegebenen abgemähten, holprigen Wiese bestand. Wir konnten es kaum erwarten, packten Bierkasten und Jacken und machten uns über die weitläufige Wiese auf den Weg zur Bühne, die wenige Meter vor dem Wald aufgebaut war. Das Zelt würden wir später aufstellen, erst einmal wollten wir Musik hören. Dafür waren wir schließlich gekommen!
Es wurde ein unvergesslicher Abend. Die Musiker ließen die guten, alten Zeiten aufleben und verstanden es, jüngere und ältere Zuhörer gleichermaßen in ihren Bann zu ziehen. Wir schwelgten in Erinnerungen, tauschten Geschichten aus, fast vergessene Episoden aus unserem Leben wurden in dieser einzigartigen Atmosphäre an die Oberfläche gespült und gegenwärtig, als seien sie erst gestern passiert. Entspannt lagen wir auf der Wiese unweit der Bühne, mitten zwischen den anderen Musikfans, die aufmerksam der Musik lauschten und wie wir aufgeräumter Stimmung waren. Einige schüttelten ihre Köpfe im Takt der Musik, andere rauchten und tranken Bier oder Rotwein aus großen, bauchigen Flaschen. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft, mischte sich mit dem Duft gegrillten Fleisches und Holzkohle.
Irgendetwas fehlte!
Plötzlich kam mir ein Einfall, überkam mich die Sehnsucht nach etwas, das ich schon lange nicht mehr genossen hatte, das aber aus diesem Abend erst ein unvergessliches Erlebnis machen sollte. Ich schaute Doc, wie ich Jakob in solchen Augenblicken gerne nannte, fragend an:
„Doc, haste noch was? Ich brauch jetzt was!“
Jakob blickte zu mir rüber, grinste. Mit einer bedächtigen Bewegung öffnete er die Brusttasche seiner Jeansjacke, holte ein zerknittertes Päckchen Tabak hervor und entnahm einer kleinen, flachen Pappschachtel ein weißes Zigarettenpapierchen, auf das er mit geschickten und geübten Bewegungen den Tabak verteilte, es zu einer dicken Zigarette drehte, mit Spucke verklebte und mir rüberreichte.
„Spezialmischung. Betriebsgeheimnis, wie immer!“
Er reichte mir ein Feuerzeug und schon wenige Sekunden später hatte ich einen tiefen Zug genommen. Die Wirkung war bemerkenswert. Schwindelerregend. Neben dem Bierkasten liegend genoss ich mit geschlossenen Augen die Musik und das Feuerwerk, das sich in meinem Kopf entfaltete. Bunte, grelle, ineinanderlaufende Farben mischten sich mit dem Klang der Musik zu einem Gefühl, als ob mich fliegende Züge im Vorbeirauschen in Rotation bringen würden.
Ich verlor das Gefühl für Zeit und Raum, überließ mich der Musik wie einem infernalischen Gewitter, das in meinem Kopf tobte und mir den Sinn für das Hier und Heute raubte.
Langsam senkte sich die Müdigkeit in meine Glieder, gleichsam schwereloser Zustand, Wärme durchflutende Wohltat bemächtigte sich meines Körpers.
Guru Guru spielten gerade ihre letzte Zugabe und es muss schon weit nach Mitternacht gewesen sein, als wir uns entschlossen, zum Zeltplatz zu gehen. Der Weg schien weit und wir stolperten oft über Unebenheiten des Bodens oder über Festivalbesucher, die auf dem Boden lagen oder saßen. Hier, weitab der Bühne, war es stockdunkel. In weiter Entfernung brannte ein großes, helles Feuer, dort mussten wir hin.
Plötzlich sah ich sie! Sie saßen um das Feuer, Fetzen einer Sprache, die ich nicht verstand, drangen an mein Ohr. Ich zählte vierzig oder fünfzig, vielleicht sechzig Mann. Sie hatten lange Haare, trugen Jacken mit bunten Stickereien. Einige tanzten um das Feuer, schienen zu singen, irgendetwas vor sich hin zu murmeln. In einiger Entfernung sah ich ihre Pferde. Dunkle, stolze Pferde mit glänzendem Zaumzeug. Sie standen bewegungslos da. Einige hatten bunte Decken umgelegt, zwei Wachen standen dicht dabei, ließen sie nicht aus den Augen.
Ich packte Jakob am Arm, riss ihn nieder und deutete ihm, sich mit mir hinter einem Baum zu verstecken.
„Indianer, Doc. Das sind Indianer! Haste noch was? Ich brauch jetzt was!“
Jakob, der Schweigsame, guckte nur kurz zu mir hinüber und begann dann, erneut eine Zigarette zu drehen. Wir saßen hinter dem Baum, kaum wagte ich, das Treiben der Indianer zu beobachten. Ich sah ihr Lagerfeuer, ihre Tänze, die stolzen, wilden Krieger, ihre Pferde und eine weitere kleinere Gruppe, die zusammensaß und eine Pfeife kreisen ließ.
Tief inhalierte ich den wärmenden Rauch und wieder begann sich alles um mich zu drehen. Der Schein des Feuers vermischte sich mit den dunklen Konturen des Waldes, die Baumspitzen zogen sich über meinen Kopf zu einem Hexenkreis zusammen. Wärme durchströmte mich, ich schloss die Augen...
Jakobs Husten weckte mich. Er lehnte am Baum, zog an einer Zigarette und trank sein erstes Bier. Mir war kalt, die dünne Jacke wärmte kaum. Ich spürte den feuchten Boden unter mir. Die Dunkelheit hatte ersten, zögernden Sonnenstrahlen Platz gemacht, im Gras glitzerte der Morgentau, die Luft war klar. Es hämmerte in meinem Kopf. Da durchzuckte mich ein Gedanke: „Die Indianer, Jakob. Wo sind die Indianer?“
„Scheiß Indianer. Guck Dich mal um!“ Jakob lachte.
Ich zitterte. War es die Kälte des frühen Tages? War es das Erlebnis der vergangenen Nacht?
Ich versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen, den neuen Tag mit frischer Tatkraft zu erfüllen. Du musst im Leben mutig sein auch wenn es Dich das Leben kostet, dachte ich mir und wagte einen vorsichtigen Blick auf den Platz, auf dem in der Nacht die Indianer gelagert hatten. Wo gestern Nacht noch stolze Pferde gegrast hatten, standen jetzt schwere Motorräder, ihre Armaturen glänzten in der frühen Morgensonne, die zaghaft ihre Strahlen durch den Morgennebel schickte. Langhaarige, grimmig dreinblickende Kerle in bestickten Ledermonturen oder Jeans packten ihre Satteltaschen.
Die Motoren der Kräder brummelten, infernalischer Lärm setzte ein, als sich die schätzungsweise fünfzig Maschinen bewegten und sich rasch entfernten. Staub wirbelte auf. Der Spuk war vorbei. Mein Kopf hämmerte. Immer noch zitterte ich am ganzen Körper.
Das also waren meine Indianer!
Ich schaute zu Doc hinüber, ich brauchte jetzt was!
„Doc, haste ne Kopfschmerztablette?“