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Djaroollie oder Der blaue Mustang
Hauptbahnhof, Gewusel. Leute in Eile, aber auch solche, die den Tag totschlagen. Djaroollie betritt den Laden mit der Aufschrift 'Ersatzschlüssel, Gravuren, Schuhreparatur'.
Der vielseitige Mann hilft ihr gern. Als sie ihn anspricht, trotz des seidenen Saris in glockenreinem Deutsch, mit wundervoll schimmernden Zähnen, dem verrückt aufgetürmten roten Haar mit tausend Löckchen, und ihn anschaut, dass er sich strafft und wächst, da legt er die Feile beiseite und kümmert sich beflissen um ihre Sandale.
Er benötigt zwei Minuten.
„Oh“, sagt Djaroollie, „ganz wunderbar! Das haben Sie wirklich prima gemacht. Und so schnell. Was bin ich schuldig?“
„Aber ich bitte Sie, meine Dame, das war doch ein Klacks. Nicht der Rede wert.“
“Ja, aber ... ich muss doch...“
„Nein, müssen Sie nicht. Lassen Sie nur, hab’s gern gemacht.“ Dann sagt er: „So eine schöne Frau und bezahlen? Das geht wirklich nicht.“
„Wow, jetzt bekomm’ ich noch ein tolles Kompliment obendrauf! Ja dann vielen, vielen Dank!“ Dabei formen ihre Lippen einen Kuss, er schließt die Augen und verzieht schmachtend das Gesicht.
Frau Schumann geht zum Bahnhofsausgang. Die Fahrpreise würden ihr Budget übersteigen, es wird sich eine andere Möglichkeit finden. Ihren Vornamen Djaroollie hat sie selbst erfunden, Bärbel erschien ihr zu dürftig.
Sie trampt gerne, reist ohne Unterlass, war fast schon überall und hat vor, auch den letzten Erdenwinkel zu besuchen. Wo auch immer sie auftaucht, trifft sie auf freundliche, sehr entgegenkommende Menschen und erfährt stets echte und herzliche Gastfreundschaft. Sie wird zu Essen und Trinken eingeladen, zu Party und Konzert, und übernachten darf sie gratis.
Zur Zeit befindet sie sich in Honduras. Hier ist man besonders nett zu ihr.
Djaroollie streift durch das bunte Städtchen am Meer, die Menschen lächeln sie an, sie darf von den gebackenen Krabben probieren, wird auf einen Drink eingeladen und es gibt so unendlich viel zu erzählen, auf beiden Seiten. Die junge Frau Schumann könnte hier geboren sein, so heiter und unbeschwert sie ist.
Das Leben pulsiert und sie ist mittendrin, mit großem Herzen, staunenden Augen und allen Sinnen.
Es ist heiß, obwohl eine leichte Brise von der See durch die Straßen weht. Doch statt zu kühlen, bringt sie Feuchtigkeit. Feinste Tröpfchen bilden sich auf der Haut.
Der Mensch wird schlaff, schlummert in Hängematten, döst auf Barhockern und Kaffeehausstühlen, ist zu träge, einen angefangenen Gedanken zu Ende zu denken und will seine Lebensgeister mit dem vierten Rumcocktail aufschrecken, damit der Tag nicht völlig inhaltslos verstreicht.
Ganz anders wirkt die Seebrise auf die junge Frau Djaroollie Schumann aus Alemania. Die hat die Poren empfangsbereit geöffnet, nach Art der Schwämme. Alles wird begierig aufgesogen. Gesichter, Vokabeln, Gerüche, Musik. Sie will alles wissen – von den Marktfrauen, von den Fischern, von den Handwerkern, von den Sozialarbeitern. Sie muss alles begutachten, betasten und beriechen. Mit Kindern kann sie besonders gut. Sie zeigt ihnen simple, aber lustige Zauberkunststücke, kann ein bisschen jonglieren und ist charmant. Zu Jungen und Alten – Herzen und Türen öffnen sich.
Mit großen Augen geht sie durchs Land, kommt aus dem Staunen nicht heraus, kann nicht glauben, dass der rasende Planet so besonnen und schön ist.
Schon vor Sonnenaufgang ist sie mit den Fischern im Auf und Ab der Wellen.
Die haben zwei Metallstäbe als Kreuz verschweißt und an den vier Enden Köder befestigt.
Tief hinab lassen sie diese bewährte Konstruktion. Sie sieht, wie schnell die Schnur von der Rolle spult, einige hundert Meter.
Nach verblüffend kurzer Zeit zieht der Bootschef das Angelkreuz wieder ein. Vier stattliche Tiefseebarsche landen im Boot, die Stimmung ist allerbestens. Als nach Stunden die Männer mit der Ausbeute zufrieden sind, ist Zeit für die Calderada. Meerwasser, Fischstücke, einige Kartoffeln, zerdrückte Tomaten, Lorbeer, Knoblauch, auch eine Languste und ein paar Krabben. Sie faltet die Hände, als die Männer vor dem Essen ein paar einfache Worte sagen und sich bekreuzigen.
Nach dem Anlegen an der Pier und dem Entladen des Fanges bieten sie ihr noch den schönsten Barsch als Abschiedsgeschenk an. Sie greift gern zu; bei ihrem gestrigen Rundgang hat sie viel gesehen, auch Trauriges. Sie weiß, wem sie eine Riesenfreude mit diesem Königsfisch machen kann. Und wird wieder neue Freunde gewinnen.
Die Leute freuen sich, einer Fremden zu begegnen, wollen viel wissen von ihr, auch wie sie Honduras und seine Bewohner empfindet, und es macht sie stolz, weil Djaroollie nur das Beste berichten kann.
Sie interessiert sich im Blumenladen für die verschiedenen Orchideenarten und, nachdem alles beredet ist, verabschiedet man sie mit einem tropischen Blumenstrauß der Extraklasse.
In der Bäckerei kauft sie zwei Brötchen und ihr wird dazu Schokoladenkuchen eingepackt, als Reiseverpflegung.
Heute war ein langer Tag, aber das ist keine Klage, sondern eine frohe Bilanz. Wie viele sympathische Leute hat sie an diesem einen Tag getroffen! Wie sind Kriege vorstellbar, wenn doch die Menschen so gut miteinander auskommen?
Djaroollie ist auf dem Weg heim zu ihrer Gastfamilie, bald wird es nach Tropenart schnell und heftig dunkeln. In der unanständigen Bar gegenüber gehen schon die Lichter an; sie muss auf ihrer Seite noch an einer langen Reihe sorgfältig polierter Autos vorbei, im Fischgrätenmuster aufgestellt; über ihnen sind Hunderte bunter Fähnchen und Wimpel aufgehangen – vielleicht ist morgen Nationalfeiertag. Gedankenverloren betrachtet sie die verschiedenen Modelle. Alte und neue, protzige und elegante. Wie schnell sich Geschmack ändern kann! Doch es gibt auch zeitlos schöne Formen wie diesen blauen Mustang. Oben offen, weiße Ledersitze, alles blitzt. Djaroollies Hand streicht über den gepflegten Lack, über die blanken Chromstreifen – und eine tiefe Samtstimme fragt Frau Schumann, ob sie dieses Modell haben möchte.
Die zuckt zusammen, kommt langsam aus ihrer Versunkenheit, versucht Wahr und Trug auseinanderzuhalten und sagt wie im Märchen: Ja.
Sie ist nicht ganz bei sich; der riesengroße Mann mit gestreifter Krawatte nimmt ein Schild vom Armaturenbrett, drückt ihr freundlich die Autoschlüssel in die Hand und spricht viel zu schnell, als dass sie das alles verstehen könnte, aber er hält ihr schon die Wagentür auf und sie weiß nichts zu erwidern, führt den Schlüssel ins Schloss und startet.
Der große Mann sagt noch etwas Freundliches, irgendetwas Scherzhaftes; sie lässt langsam die Kupplung kommen, der blaue Mustang mit den weißen Ledersitzen setzt sich vorsichtig in Bewegung, dann im zweiten und gleich darauf im dritten Gang schon viel temperamentvoller. Im Rückspiegel springt der nette Mann auf der Straße herum und fuchtelt mit den Armen – Vaya con Dios! Lateinamerikaner sind herzlich.
Es ist wenig Verkehr auf der Küstenstraße, obwohl diese Stunde die schönste des Tages ist.
Der grandiose Sonnenuntergang, der Pazifik voller Frieden, ein strahlender Himmel – mit einer Hand greift sie in ihren Lockenturm und entwirrt ihr schönes Haar, damit es wie im Film malerisch im Abendwind wehen kann. Sie schaltet die Lichter ein und das Radio, gleitet dahin, Tijuana Brass und rosa Bonbonhimmel – sie kann es einfach nicht glauben.
Schon morgen wird sie in den Bergen die kühle Luft genießen, in tiefklaren Kraterseen schwimmen, dann einen Tee bestellen und ein wenig ruhen.
Die Felsen rücken näher ans Wasser, die Straße verlässt die Küste und führt ins Gebirge. Auf dem Meer blinken vereinzelt Lichter, wie Morsezeichen in der Nacht. Schwarzer Himmel spannt sich über die Berge. Überraschend schnell erreicht sie den ersten Pass; von hier hätte man bei Tage einen wundervollen Blick über Land und Meer. Die Straße macht einen Knick und muss ein Tal durchqueren. Steil geht die Fahrt bergab.
Der Wagen wird immer schneller, sie tritt auf die Bremse, wieder und wieder - keine Reaktion. Die Kurve ist von einer niedrigen Mauer eingefasst, der Mustang kracht frontal dagegen, bäumt sich auf und überschlägt sich. Djaroollie wird herausgeschleudert, der Sari entfaltet sich wie ein bunter Schmetterling.