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DISKUSSIONEN
Man kennt das ja.
Es ist eine jener Feiern, von denen man hinterher immer behauptet, man sei nie da gewesen. Eine jener Feiern, von denen man nie weiß, wie man überhaupt dorthin gekommen ist; geschweige denn, mit wem.
Kurz: Eine jener Feiern, die man selber nie feiern würde, aus denen aber 80 % des aktiven Partyleben eines knapp Dreißig- Jährigen zu bestehen scheinen.
Es ist kurz nach Mitternacht, der beste Kumpel hat sich nach der verstohlen auf dem Balkon entzündeten und gerauchten Tüte aus dem Staub gemacht und einen hinter den feindlichen Linien alleine gelassen.
Man lümmelt auf einem abgewetzten Kord- Sofa herum, reißt das Etikett der lauwarmen Bierflasche in kleine Streifen, weil man zu faul ist, sich ein neues, lauwarmes Bier zu holen und versucht, im Rausch zu schwelgen.
Natürlich gelingt dies nicht zur befriedigenden Gänze, da ja niemand mehr da ist, um den Rausch mit einem zu teilen.
Überhaupt scheint niemand mehr da zu sein. Niemand außer ziemlich vielen Menschen, von denen man die Hälfte überhaupt nicht kennt und die andere Hälfte eigentlich gar nicht kennen möchte.
Verzweifelt versucht man die, rotwangige und leicht gehetzt wirkende Jura- Erstsemesterin neben sich zu ignorieren, die einen kurz vorher noch verwirrt hat, indem sie auf DIE Floskel überhaupt reagiert hat.
"Und? Was machst Du so?" hat man gefragt, weil man das eben so fragt, wenn man neben einem wildfremden Menschen auf einer langweiligen Party sitzt, und ist wenig später schon Ohrenzeuge ihres bewegten Studien- Lebens geworden. Weiß, daß sie sich auf Europa- Recht spezialisieren will, daß sie im Studentenwohnheim wohnt und es eine „supertolle Erfahrung" findet, mit so vielen fremden Menschen einen Lebensraum zu teilen und solch essentiell wichtige Erfahrungen machen zu dürfen, wie sich frühmorgens eine halbe Stunde vor dem Klo
anzustellen und schimmliges Geschirr von ca. 30 Leuten abzuwaschen.
Sie findet es auch "superwitzig", das ständig ihre Lebensmittel aus dem Kühlschrank verschwinden, weil es im "Heim" ja auch Leute gibt, die nicht so viel Geld von Zuhause bekommen und sie gerne teilt.
Nur der Alkohol und die Drogen stören sie etwas, sagt sie, weil einige Leute das Studium wohl nicht so ernst nehmen und lieber feiern.
Zielsicher tippt man auf die Damen und Herren Drogenkonsumenten als Angehörige der Fachbereiche "Sport" und "Sozialpädagogik" und erntet prompt einen erstaunten und irgendwie ganz niedlichen "Erstsemester- Blick", der, so armselig das ist, dem Ego gut tut.
Man spürt das Oberwasser unterm Kiel, demonstriert gekonnt die "offen- progressive Gesprächshaltung" aus dem, im Halbschlaf durchlaufenen, Rhetorikseminar von vor sechs Jahren und macht sich gerade dazu bereit, sein Gegenüber mit guten Ratschlägen und Kniffen aus der Trick- Kiste des Studentenlebens zu beeindrucken, als urplötzlich Töne an das Ohr dringen, die einen dazu bringen, eine fötale Stellung einnehmen oder etwas zerstören zu wollen, eben IRGENDETWAS gegen den Schmerz zu tun.
ANGELO BRANDUARDI !!!!!!!!
Der alte Feind; der Versucher; der Anti- Christ !!!
Der Mann, der zusammen mit BAP, Grönemeier, Akne und Vanilla- Hosen die Achtziger zu einem scheinbar nie enden wollenden Alptraum gemacht hat !
Schlagartig wird das Gehirn überschwemmt von Erinnerungsbruchstücken an Lagerfeuer, Woll- Pullover, Stulpen und Friedenstauben- Pins an abgewetzten Second- Hand- Wildlederjacken, die man für teuer Geld kaufen mußte und die ALLE aus der "Szene" trugen, um ihr Non- Konformistentum und ihre Unangepasstheit zur Schau zu stellen.
Pech nur, das sich die damals Angebetete ( Schulsprecherin und JUSO- Mitglied ) natürlich gerade in dieser Szene bewegte, man schamhaft seine Heavy- Metal- Platten versteckte und seinen Freunden das plötzliche Auftauchen eben jener BAP- und Grönemeier- Alben erklären mußte.
Peinlich berührt schaut man unter sich, als man sich an die zutiefst selbstverleugnerische aber dennoch Oskar- reife Vorstellung erinnert, die man gab, als sie einem ihr Exemplar von "Die letzten Kinder von Schevenborn" und die Kassette mit eben jenem unsäglichen ANGELO BRANDUARDI überreichte.
Nächtelang hatte man damals nicht geschlafen in der Angst vor einem Atomkrieg; vor Grauen, auch seine neugeborene und von der Strahlung mißgestaltete Schwester hinter dem Schuppen vergraben zu müssen. Und wenn man dann Schlaf fand, so war dieser durchzogen von Visionen von ANGELO BRANDUARDI, dem italienischen Barden und erklärtem Gegner jeglicher, auch nur entfernt ans Menschliche erinnernden Frisuren.
Der Mann ist einfach Scheiße und die Tatsache, nach so vielen Jahren wieder seine "Musik" hören zu müssen, lähmt auch den letzten Willen, etwas anderes von sich geben zu wollen, als wüste Beschimpfungen; Flüche und Todesdrohungen gegen den Besitzer der Kassette, die gerade gespielt wird.
Der Satz: "Wenn jetzt noch "CITY" kommt, steche ich Einen ab. Ich schwörs!" ist es wohl, der die aufkeimende Gesprächsknospe verblühen und die Gesprächspartnerin erschrocken und ängstlich das Weite suchen läßt.
Kurz und gut: Man ist wieder alleine, ANGELO wird von einem Leidensgenossen, den man aus Dankbarkeit am liebsten heiraten möchte, mitten im "DaDaDi- DaDaDumm" abgewürgt und durch PHIL COLLINS ersetzt.
Da Niemand da ist, der wiederum den Hasstiraden über Phil Collins lauschen könnte, beschließt man, doch noch den Versuch zu wagen, sich auf die Suche nach einem kalten Bier zu machen.
Man steht auf, bleibt einen Moment lang unsicher stehen und wird sich schlagartig EINER Sache bewußt: Man hat gekifft!
Staksigen Schrittes bahnt man sich einen Weg durch die am Boden ( ! ) Lagernden, ascht, späte Rache übend, auf den Flokati in der Diele und betritt die Küche.
Die Küche! Herzstück einer jeden Haus- Party.
Sag mir, was in der Küche passiert, und ich sag Dir, wie die Feier ist.
Entweder VIP- Raum oder Abstellkammer. Kein anderes Zimmer kann so Vieles sein!
Diese spezielle Küche ist so wenig.
Will heißen; es wimmelt dort von Gestalten, die so sind, wie man manchmal auch gerne sein möchte, wenn es Einen wieder zurückzieht in die Intellektuellen- Herde, der man gerade glaubt, durch übermäßigen Drogenkonsum, Big Brother sehen, bedruckte T-Shirts und TAKESHIS CASTLE entronnen zu sein... und die man deshalb so haßt.
Und während man gemessenen Schrittes und leise betend, keiner möge einen ansprechen, zum Kühlschrank tapert, ihn öffnet und zwischen Prosecco, den Resten des Tofu- Nudelsalates und Rotwein ( ! ) in zunehmender Verzweiflung und Panik nach einen kalten Bier sucht, das einen vollends zur Randgruppe stempelt, hört man sie doch... die Diskussion.
Hände werden zittriger, Bewegungen fahriger und mit einem Ohr ist man immer beim Gespräch.
Bittenichtansprechenbittenichtansprechenbittenichtansprechen!
AH! Endlich! Ein Bier! Export zwar, aber kalt. Das Leben hat wieder einen Sinn und schon wird man, ob des Glücksgefühls überheblich und unachtsam.
Man läßt den ersten Schluck durch die Kehle rennen, lehnt sich entspannt gegen die Anrichte und beschließt, der Diskussion ein wenig zuzuhören. Und sei es auch nur, um neuen Stoff zur
Untermauerung seiner These zu finden, Gott möge doch wieder zu seiner alttestamentarischen willkürlichen Rachsucht zurückfinden und die Weltbevölkerung auf 2000 - 3000 Menschen reduzieren.
Sie sind alle versammelt; die Archetypen des Schreckens und der politischen Korrektheit.
Da ist SIE, der Typus "ASTA- Sprecherin mit Kaffee- Überdosis"; matronenhaft und gewandet in ein Batik- Oberteil und einen Wickelrock; beides Kleidungsstücke, die in Hessen beispielsweise seit 1987 per Erlaß verboten sind und umwölkt von jenem "dezenten" Patschuli- Odeur, das bei weniger standfesten Naturen durchaus zu Nasenbluten und Spontan- Regressionen führen kann.
Die Haare Henna- gefärbt und ca. 14 Ying- Yang- Stecker in jedem Ohr.
Flankiert wird sie von IHM; vom Habitus eher fragil, der die ganze Kraft seiner Vierzig Kilogramm in die Waagschale wirft, um den 800 Gramm- Samson- Sparpack aus der Jeansjacke zu wuchten.
Ein kurzgeschorener Haarkranz läßt tiefe Blicke auf die Denkerstirn zu und die Nickelbrille will uns sagen: "Bitte sprecht mich nur an, wenn Ihr mindestens einen Nebensatz einbaut!"
Die abgewetzte Wildleder- Hose eine augenzwinkernde und kecke Auflehnung gegen die Vollwert- Kost- , zu der er mit Sicherheit von IHR gezwungen wird, weil sie stärker ist als ER.
Gleich daneben kommt die SCHWESTERNSCHÜLERIN.
Herrlich anzusehen in ihrer Strickjacke und der weißen Bluse; die Hände züchtig um ihr Mineralwasser- Glas gelegt, harrt sie in ihrer angeborenen demütigen Grundhaltung aus, bereit, immer zu nicken, zu lächeln und nach Feier- Ende all die Betrunkenen nach Hause zu fahren und um halb Sechs morgens todmüde und mit leer gefahrenem Tank nach Hause zu kommen und dem Herrn zu danken, das er sie ein weiteres Wochenende unbefleckt hat überstehen lassen.
Ihr Gegenüber ist der PHILOSOPHIE- STUDENT; die Haare wirr vom Kopf abstehend, die Hornbrille immer wieder nach oben schiebend schwitzt er und das kleine, böse Wörtchen FICKEN steht deutlich lesbar auf seiner Stirn.
Neben ihm sitzt das GROUPIE. Hübsch und gut gebaut lauscht sie ihm, seinen Ausführungen; seinen wohlfeilen Formulierungen, seinen Phrasen, die genauso leer sind wie ihr Geist. Eine nette Kombination, die viel Stoff für Tragödien oder Komödien bietet; es kommt immer darauf an, wen von Beiden man näher kennt.
Und sie haben all die Themen parat, von denen man dachte, es gäbe sie in dieser Häufung und Vehemenz nur in seltsamen Geschichten und bei Jürgen Fliege.
Die anfängliche Irritierung der Runde über den Zaungast, der stillvergnügt lächelnd einfach nur dasteht, weicht wieder der Lust am Diskutieren, am Sich- selber- reden hören und schon bald werden wieder alle wichtigen und spannenden Themen de Welt kontrovers und ergebnisoffen diskutiert.
Vom Walfang über die Quotenregelung in der Politik bis hin zum immer wieder gern genommenen "Gewalt in der Familie" ist alles dabei und man lauscht immer gebannter diesem modernen Monstrositäten- Kabinett, und dem, was es an Vorschlägen zur Gesundung der Welt hat.
Und je länger man lauscht, desto mehr dankt man dem Afghanen, der einen friedlich, nachgerade duldsam macht und der verhindert, das man sich ein Küchenmesser schnappt, sich langsam anschleicht und sie allesamt dem Gott der gepflegten Party- Unterhaltung opfert.
Nicht, das man etwas gegen tiefschürfende Gespräche in entspannter und anregender Atmosphäre einzuwenden hat, an die sich am nächsten Morgen keiner mehr erinnern kann.
Man selber hat diese Gespräche auch oft geführt. Hat die Probleme der Welt zwischen einem Pils und einem Whisky gelöst. Hat Pläne ersonnen, Ideen gesponnen und sie wieder verworfen.
Aber man hatte dabei nie den Hintern so fest zusammengekniffen, sich so sehr dem Spaß und dem Witz verschlossen wie diese Fünf Reiter der Konversations- Apokalypse.
Der Rausch kehrt den Helden hervor und mannhaft tritt man näher, schnappt sich den Stuhl neben dem Groupie und versucht zu retten, was noch zu retten ist.
Eine Viertelstunde später.....
Undank ist der Welten Lohn .
Dieser alte und weise Satz erfährt schmerzhafte Bestätigung, den weder der Beitrag zur Gewalt unter Jugendlichen ( "Die Leute sollten einfach mehr TAKESHIS CASTLE schauen!" ) noch der Einwurf zum Diskurs über moderne Frauenliteratur ( "Meint Ihr nicht auch, das Hera Lind einfach nur mal richtig durchgevögelt werden sollte?") und schon gar nicht die Äußerung zur modernen Kultur ( "Also... HELLBOY ist so ein Typ aus der Hölle, der gegen Nazis und Frosch- Götter mit so... äh... Tentakeln kämpft. Total geil gezeichnet!") finden die gewünschte
Resonanz.
Feedback kommt einzig vom Philosophen, der mit trotzig vorgerecktem Kinn zum Besten gibt, schon mal ein SANDMAN- Comic gelesen zu haben. Na klar... als ob SANDMAN ein Comic wäre.
Man gibt auf. Ist deprimiert. Mit der kraft am Ende. Diese Fünf wollen offenbar nicht errettet werden!
Niedergeschlagen ( und zu faul, aufzustehen und zu gehen ) gibt man sich dann doch dem Prosecco hin, schnorrt Malboro- lights und versucht, sich alle nackt vorzustellen, was zugegebenermaßen auch nicht sonderlich erheiternd ist.
Einige kurze Momente der Spannung gibt es noch, als zum Beispiel der Philosoph mit schwerer Zunge bekennt, Oralverkehr zu mögen und prompt von IHR mit einer herrlichen Alice Schwarzer- Parodie beinahe zur Selbst- Kastration gezwungen wird oder die Schwesternschülerin unter Tränen bekennt, das ihr im Seminar von einem Bekannten immer ihr Frühstücksbrot weggegessen wird und sie sich wünscht, ihn in die Schranken weisen zu können.
Und wieder ist es SIE, die antwortet, die jenen Satzanfang aller Satzanfänge benutzt, der einem die Galle die Luftröhre nach oben treibt und wieder heimlich nach dem Messer schielen läßt.
"Ja!", sagt sie und blickt weise und großmütterlich daher. "Habe den Mut, Dich ein Stück weit...."
Was folgt, ist der BLACKOUT!
Und als man am nächsten Mittag durch das Telefonklingeln aufwacht, und einem der beste Freund mit lachtränenerstickter Stimme erzählt, man habe sich dann doch ein wenig danebenbenommen und alle seien ziemlich sauer und "irgendwie verletzt" ( Ein neuerlicher Lachanfall folgt ); da ist man wieder einigermaßen mit der Welt versöhnt.
Lächelnd steht man auf, heißt den Kopfschmerz wie einen alten Freund willkommen, zieht seine Schuhe aus, geht duschen und würgt ein paar Henna gefärbte Haare aus.
Anschließend hängt man den abgerissenen Kragen einer weißen Bluse, der irgendwie in der Hosentasche gelandet ist, an die Pinwand und gibt sich den Wonnen eines verkaterten Sonntags hin.
Die Couch umarmt einen wie einen lang vermißten Freund, die Fernbedienung schmiegt sich in die Innenseite der Hand.
Keine Diskussionen mehr!
Komisch! Da liegt ja eine zerbrochene Nickelbrille auf dem Boden? Seltsam!
(c) Andreas Gröger 2002