Dinner
Nervös zog Frank an seiner Zigarette, während er seinen Plan noch mal durchging. Seit er vor zwanzig Minuten seine kleine Wohnung in der Innenstadt verlassen hatte, hatte er wieder und wieder alle Eventualitäten durchgespielt. Zumindest DAS hat er während seiner Dienstzeit bei der Hedon-City Police gelernt; stets auf alles vorbereitet zu sein.
Als er seinen alten Ford durch die verstopften Straßen von Hedon lenkte, dachte er sehnsüchtig an die halbe Flasche Scotch, die er zuhause neben seinem Bett stehen hatte. Nicht unbedingt von der teuren Sorte, dafür reichte sein Gehalt ohnehin nicht, aber immer noch besser als der Schwarzgebrannte, mit dem sich die Penner in Downtown für gewöhnlich vergifteten. Heute Morgen schien es ihm noch durchaus vernünftig, nüchtern zu bleiben, doch mittlerweile hätte er sein linkes Ei für ein oder zwei Gläschen gegeben. Nicht zu viel natürlich, nur gerade genug, um die aufkeimende Nervosität unter dem wohligen Brennen eines Schluckes Scotch zu ertränken.
„Ich muss komplett den Verstand verloren haben“ murmelte er. „Absolut und komplett den Verstand verloren…“
Er zog ein weiteres Mal an seiner Zigarette, ehe er den Rest aus dem Fenster schnippte.
„Ausgerechnet Quentin Goldberg… verdammt“
Er strich über den braunen Umschlag, der neben seiner Beretta am Beifahrersitz lag. Darin war seine Fahrkarte ins Glück. Ein Dutzend gestochen scharfer Polaroidfotos, auf denen zu sehen war, wie Quentin Goldberg, der führende Mafiosi in Hedon, einen Reporter mit einer Eisenstange totschlug. Als das arme Schwein gefunden wurde, musste er anhand seiner Fingerabdrücke identifiziert werden. Ted Mason, einer von Franks Kollegen, hatte den Fall damals untersucht. Er war sich sicher, dass Goldberg, oder zumindest einer seiner Schläger die Täter waren, aber kurz vor der Verhandlung verschwanden plötzlich zwei Zeugen und ein Großteil der brauchbaren Beweise.
Nicht, dass es jemanden sonderlich überrascht hätte. Goldberg hatte Kontakte in der ganzen Stadt, und war so schlüpfrig wie ein Aal. Niemandem war es bisher gelungen, ihn auch nur wegen Falschparkens dranzukriegen. Aber Mason ließ nicht locker. Er ermittelte auf eigene Faust weiter. Die Sache endete damit, dass Ted Mason mit einer Kugel im Genick im Barkleyriver trieb. Nach kurzer Ermittlung wanderte der Fall zu den anderen ungeklärten Todesfällen.
Vor einigen Jahren hätte es noch eine wahre Treibjagd auf den Polizistenmörder gegeben. Aber durch Wirtschaftskrise, Personalabbau und Etatsenkungen waren die Cops mittlerweile demoralisiert genug, um die Sache einfach so schnell wie möglich zu vergessen.
Frank hatte damals ein paar der Fälle übernommen, an denen Ted vor seinem Tod gearbeitet hatte. Unter einer der Akten klebte ein kleiner Schlüssel für ein Schließfach am Flughafen. Ted hatte es scheinbar als geheimen Briefkasten benutzt, um mit einem seiner Informanten in Kontakt zu bleiben. In eben jenem Schließfach entdeckte Frank schließlich die Fotos, die nun neben ihm lagen.
Als er einen Blick hineingeworfen hatte, war er zuerst überzeugt davon, Goldberg endlich festnageln zu können. Doch auf der Fahrt vom Flughafen zurück zum Department dachte er wieder an Ted Mason. Ob Ted wohl dasselbe gedacht hatte? Ob er wohl auch so sicher war, Goldberg endlich aus dem Verkehr ziehen zu können? Wohin seine Überzeugung ihn gebracht hatte, konnte man ja auf dem Westend Memorial Friedhof nachlesen. Dort war unter all den Grabsteinen auch einer, der an einen Dreißigjährigen Cop namens Mason erinnerte.
Während Frank darüber nachdachte, dass diese Fotos zu nichts anderem nütze sein würden, als ihm einen schnellen Tod zu bescheren, schlich sich ein anderer Gedanke in sein Hirn. Was, wenn er mit Goldberg Kontakt aufnehmen würde, um ihm die Fotos zum Kauf anzubieten? Wenn er ihm klar machen könnte, dass er ansonsten Kopien der Fotos an sämtliche Zeitungen der Stadt schicken würde, müsste da doch etwas zu machen sein.
Als er an diesem Abend zuhause angekommen war, hatte er bereits eine grobe Vorstellung, wie das Ganze ablaufen könnte. Dass er sich jedoch tatsächlich entschied, es zu TUN, lag schlussendlich an Vicky.
Beim Gedanken an Vicky huschte ein kleines Lächeln über Franks Gesicht. Er hatte mittlerweile die Innenstadt von Hedon hinter sich gelassen und fuhr auf der thirty-two in Richtung Downtown. Sein Blick fiel auf den Verlobungsring aus billigem Edelstahl an seinem Finger. Vicky trug seit fast neun Monaten dass passende Gegenstück dazu. Auf der Innenseite ihres Rings waren die Worte „EWIG DEIN-FRANK“ eingraviert. Er schämte sich damals, mit einem so billigen Ring um ihre Hand anzuhalten, deshalb ließ er um einen Fünfer extra die Gravur anfertigen. Mehr gab sein Kontostand nicht her.
Vicky hatte damals so wahnsinnig glücklich ausgesehen, als hätte er ihr den teuersten Diamantring in der ganzen Stadt gekauft. Das war überhaupt einer der Hauptgründe, warum er sich in Vicky verliebt hatte. Sie hatte ihm nie einen Vorwurf daraus gemacht, dass er kaum genug zum Leben verdiente, wie es die Frauen einiger seiner Kollegen ständig taten. Sie war glücklich mit dem, was sie hatten und sie hatte dieses Talent, sich auch über Kleinigkeiten ehrlich zu freuen. Wenn es mal wieder knapp wurde, machte sie einfach ein paar Überstunden in dem kleinen Lokal, in dem sie als Kellnerin arbeitete. Auf diese Art waren sie bisher jeden Monat einigermaßen über die Runden gekommen.
An jenem Abend jedoch war Vicky mit einem blauen Auge und einer aufgeplatzten Lippe nach Hause gekommen. Sie hatte mal wieder Überstunden gemacht, und war in einen Streit zwischen zwei Betrunkenen geraten.
„Keine große Sache, Frank“ hatte sie ihn damals beruhigt.
„Rico war sofort da, und hat die beiden rausgeworfen. Er mag zwar ein Idiot sein, aber zumindest ist er ein passabler Türsteher“
Und dann hatte sie ihn angelächelt, und ihm sein Essen warmgemacht.
DAS war wohl der Zeitpunkt, in dem Frank sich endgültig entschied. Seine Verlobte bekam immerhin Schläge dafür ab, dass sie versuchte, ihnen beiden ein besseres Leben zu verschaffen (was in diesem Zusammenhang soviel bedeutet wie warme Mahlzeiten und Zigaretten bis zum Monatsende- und natürlich ihren rubinroten Nagellack, den sie sich zu besonderen Gelegenheiten auftrug) und er hatte diese Fotos und eine Idee, wie er aus diesen Bildern Geld machen konnte. Eine ganze Menge Geld sogar. Noch am selben Abend hatte er Vicky seinen Plan erklärt. Sie war zwar Anfangs alles andere als begeistert, aber nachdem er ihr ihre gemeinsame Zukunft in leuchtenden Farben geschildert hatte, hatte sie schlussendlich zögernd zugestimmt. Anschließend war Vicky nervös neben ihm auf der Couch gesessen, während er Quentin Goldbergs Nummer wählte.
Frank war nun beim „le Petit“, dem nobelsten Laden in Hedons miesester Gegend, angekommen. Hier wollte sich Goldberg mit ihm treffen. Frank beobachtet die Front des Restaurants aufmerksam. Direkt neben der doppelten Eingangstür stand ein nagelneuer Mercedes, ansonsten war der Parkplatz leer. Er ließ seinen Blick über die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite schweifen. Halb verfallene Mietskasernen, Flachdächer und verwinkelte Seitengassen.
„Idealer Platz für einen Hinterhalt“ ging es ihm durch den Kopf.
„Na und, dafür ist es jetzt zu spät. Hättest du früher darüber nachgedacht, hättest du es vielleicht ändern können. Außerdem: wenn da jemand mit einem Gewehr auf der Lauer liegt, dann erwischt er dich sowieso. Du stehst alleine auf einem riesigen Parkplatz und die Straßen sind menschenleer. Sogar ein schlechter Schütze kann dich kaum verfehlen“.
Frank musste bei der nüchternen Sachlichkeit dieses Gedanken ein leichtes Frösteln unterdrücken. Er griff nach dem Umschlag und steckte ihn in die Tasche seines Jacketts. Er wollte schon aussteigen, dann zögerte er und griff nach der Beretta. Er glaubte zwar nicht, dass er damit etwas gegen einen verschanzten Schützen ausrichten konnte, aber das kalte Metall der Waffe fühlte sich beruhigend an. Er steckte die Kanone in seinen Schulterhalfter und stieg aus dem Wagen.
Er bemühte sich, nicht zu rennen, während er auf die Eingangstür zuging. Im hintersten Winkel seines Hirns rechnete er jeden Augenblick damit, das Knallen eines Gewehrs zu hören, kurz bevor sein Hirn gegen die Fassade des Restaurants klatschte. Ob er sofort sterben würde? Oder würde er noch mit ansehen können, wie der Inhalt seines eigenen Schädels über die weiße Doppeltür spritzte? Würde er noch Zeit haben, einen Schrei auszustoßen, wenn sein Schädel zerfetzt wurde? Oder würde seine Wahrnehmung einfach ausgeknipst werden wie eine Lampe?
Als Frank nach der Tür griff und sie langsam öffnete, ohne dass eine dieser Vorstellungen sich bewahrheitete, entspannte er sich ein wenig. Hinter der Eingangstür war ein Vorraum aus weißem Marmor. An einer Seite war die Garderobe, auf der anderen waren die Türen, die zu den Toiletten führten. Frank warf einen flüchtigen Blick in die beiden Toiletten. „Leer. Also, entspann dich. Goldberg wird dich schon nicht umbringen. Immerhin hast du ihm glaubhaft versichert, dass im Falle deines Todes oder auch nur deines Verschwindens sofort Kopien der Fotos an die Zeitungen gehen würden.“ Der Gedanke beruhigte Frank. Er ließ die Toiletten hinter sich und öffnete die Schwingtür zum Hauptsaal.
Im Inneren sah das „le Petit“ genau so aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Kronleuchter aus Kristallglas, rote Samtvorhänge und übertrieben verzierte Stühle und Tische in Weiß und Gold. In einer Ecke stand ein großes Aquarium, in dem exotische Fische träge hin und herschwammen. Frank sah sich aufmerksam um. Der Gastraum war nahezu quadratisch. Keine unübersichtlichen Stellen, in denen sich ein Bewaffneter verstecken konnte. Gegenüber der Eingangstür gab es eine Tür, die scheinbar zur Küche führte. Frank drehte sich weiter um den Raum in Augenschein zu nehmen, als plötzlich eine Stimme hinter ihm ertönte:
„Pünktlichkeit. Eine Tugend, die ich sehr schätze.“
Frank drehte sich erschrocken um und brachte gleichzeitig die Beretta in Anschlag. Quentin Goldberg stand an der Küchentür und hob lächelnd die Hände.
„Ich ergebe mich ja“ grinste er. Dann deutete er auf einen der Tische.
„Setzen sie sich doch bitte. Und nehmen sie freundlicherweise die Waffe runter. Wir sind immerhin beide zivilisierte Gentlemen, nicht wahr?“
Frank ließ die Kanone sinken.
„Gut, und nun setzen sie sich bitte. Ich habe ein kleines vorgezogenes Dinner für uns vorbereiten lassen.“
Frank sah Goldberg verwirrt an. Als er endlich sprach, klang seine Stimme fast heiser.
„Dinner? Mr. Goldberg, ich hoffe, sie verstehen mich nicht falsch, aber ich würde unser kleines… nun ja, unser kleines Geschäft gerne abwickeln und dann wieder gehen. Haben sie das Geld?“
Quentin Goldberg setzte sich nun selber an den Tisch.
„Selbstverständlich.“ Dabei hob er einen schwarzen Aktenkoffer hoch, der neben dem Tisch gestanden haben musste. „Fünf Millionen, in kleinen, nicht registrierten und unmarkierten Scheinen. Genau wie vereinbart.“
Er öffnete den Verschluss des Koffers und hielt ihm Frank hin. „Möchten sie es nachzählen?“
Frank atmete tief ein. Der Koffer war randvoll mit Geldscheinbündeln, Zwanziger, Fünfziger und Hunderter. Einige davon schon etwas verknittert durch die Zeit, die sie schon im Umlauf waren.
„Ich.. ich denke, das ist nicht notwendig“ Frank räusperte sich heiser. „Sieht nach Fünf Mille aus, finde ich“
Goldberg lachte auf.
„Ja, da haben sie wohl recht. Sieht tatsächlich nach Fünf Mille aus.“ Er lachte immer noch, ehe er fortfuhr: „Nachdem wir das also geklärt hätten, würde ich sie bitten, Platz zu nehmen. Es gehört sich, Geschäfte in dieser Größenordnung in einem angemessenen Rahmen abzuschließen. Immerhin sind wir ja Gentlemen und keine kleinen Crackdealer, die ihre Geschäfte an einer Straßenecke in Tijuana abwickeln, nicht wahr?“
Frank setzte sich auf den Sessel gegenüber Goldberg. Die Beretta hatte er wieder in den Halfter zurückgesteckt. Die nervöse Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm zu, dass an der Sache etwas faul sei, aber eine neue, viel lautere Stimme zerstreute seine Gedanken. „Bleib locker Frankie. Er ist genauso nervös wie du. Er hat Schiss, dass du mit der Kohle abhaust, und die Bilder trotzdem bei der Zeitung landen, also macht er einen auf netter Kerl. Gönn ihm die Freude und genieß das Essen. In so einem Laden hättest du dir bisher ohnehin nicht mal ein Stück Brot leisten können. Bleib einfach cool.“
Goldberg beobachtete, wie Frank sich entspannte und in seinem Sessel zurücklehnte.
„Gut. Nachdem dies also geklärt wäre, lassen sie uns essen.“
Während Quentin sprach, öffnete sich die Küchentür. Ein breitschultriger, glatzköpfiger Mann in einer weißen Kochjacke schob einen vollbeladenen Servierwagen an den Tisch.
Quentin strahlte regelrecht.
„Darf ich ihnen übrigens meinen Bruder Victor vorstellen? Neben vielen anderen Talenten ist er auch ein ganz hervorragender Koch“
Frank zuckte bei der Erwähnung des Namens unmerklich zusammen. Durch seine Arbeit bei der Polizei hatte er einen ganz guten Einblick in die angesprochenen „anderen Talente“ von Victor Goldberg.
Mord, Totschlag, Brandstiftung, Menschenhandel und etwa zwei Dutzend anderer Tatbestände, die jeder für sich schon für lebenslange Haft (oder, in diesem speziellen Fall, auch Psychiatrie mit besonders strengen Sicherheitsauflagen) reichen würden.
Victor nickte ihm kurz zu, und begann dann, den Tisch zu decken. Frank beobachtete, wie der zweitgefährlichste Kriminelle in Hedon vor ihm dieses undurchschaubare Gewirr aus Messern Gabeln, verschiedenen Tellern und Gläsern aufbaute, dass man nur aus Fernsehserien oder edlen Kochshows kannte.
„Hedons Vorzeigeirrer Nummer eins hat dich zum Essen eingeladen und sein Bruder spielt den Kellner. Fehlt nur noch Charles Manson, der die Drinks an der Bar mixt und Ted Bundy, der am Klavier leise vor sich hin klimpert, nicht wahr?“ Frank musste bei diesem Gedanken ein Lächeln unterdrücken.
Victor war unterdessen wieder in die Küche gegangen und erschien kurz darauf mit einem weiteren Servierwagen. Wortlos nahm er eine Flasche Wein vom Wagen und hielt sie Frank hin. Der nickte nur kurz (was auch daran lag, dass er anhand des Etiketts wahrscheinlich nicht mal Wein von Kamelpisse unterscheiden könnte- aber wenn Victor unbedingt den perfekten Oberkellner spielen wollte, dann würde ER eben den perfekten Gast mimen.)
Victor hatte die beiden Weingläser am Tisch gefüllt, und Quentin hob seines an, um Frank zuzuprosten.
„Also dann. Auf gute Geschäfte, mein Freund“
Frank wollte sein Glas gerade zum Mund führen, hielt dann jedoch inne und sah Quentin zweifelnd an. „Vergiftet?“
Goldberg sah in einen Moment überrascht an, und prustete dann lauthals lachend los.
„Vergiftet… das ist köstlich… KÖST-LICH…!!! In all den Jahren, in denen ich schon im Geschäft bin, habe ich noch nie jemanden vergiftet…“
Immer noch lachend beugte er sich vor und nahm Frank das Glas aus der Hand.
„Wenn sie sich danach besser fühlen, kann ich ja gerne ihr Vorkoster sein. Wir können auch die Gläser tauschen, wenn ihnen das lieber ist.“
Frank spürte, wie ihm Schamesröte ins Gesicht stieg.
„Tut mir leid, ich wollte nur…“
„Ach was. Ich hätte wohl genau dieselbe Frage gestellt, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre.“
Goldberg wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und gab Frank das Glas zurück.
„Aber seien sie versichert, dass ich nichts dergleichen vorhabe. Ich freue mich, die Fotos zu bekommen, bevor sie in irgendeinem Schmierblatt auftauchen. Ich habe immerhin auch einen gewissen Ruf zu verlieren. Und ihr Preis scheint mir durchaus angemessen. Fünf Millionen für meine Freiheit. Oh ja, das ist ein überaus guter Preis. Also entspannen sie sich einfach. Leisten sie mir beim Essen Gesellschaft, trinken sie ein- zwei Gläser Wein mit mir und dann nehmen sie ihr Geld und gehen ihres Weges. Nur ein Geschäft, nicht mehr“
„Nur ein Geschäft“ wiederholte Frank. Die Erleichterung in seiner Stimme war kaum zu überhören. Als Quentin diesmal sein Glas hob, tat es Frank ihm gleich, und nahm einen großen Schluck.
Der Wein schmeckte süß und schwer. Frank behielt den Schluck einen Augenblick im Mund und genoss den außergewöhnlichen Geschmack.
„Ein edler Tropfen, nicht wahr?“ erkundigte sich Quentin Goldberg.
Frank nickte, während er sein Weinglas abstellte.
Victor hatte in der Zwischenzeit mehrere Platten mit dampfenden Fleischstücken auf dem Tisch abgestellt. Gegrilltes, Gedünstetes und Gebratenes lag vor Frank ausgebreitet, eingebettet in einen Rahmen aus Röstkartoffeln und jungem Gemüse. Frank bemerkte, wie sein Magen vernehmlich knurrte, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Ein betörend würziger Geruch stieg von den Platten auf.
„Guten Appetit, mein Freund“
Mit diesen Worten griff Quentin nach dem Vorlegebesteck und begann, sich Fleisch auf den Teller zu schaufeln.
Frank griff ebenfalls zu, doch in seinem Hinterkopf warnte ihn die leise Stimme der Vernunft eindringlich: „DAS ist nicht in Ordnung. Irgendwas läuft nicht nach Plan. Irgendetwas an der Situation ist einfach FALSCH.“
Im Gegenzug rief eine andere Stimme (wahrscheinlich die des Hungers): „Halt doch die Klappe, Hasenfuß. Du hast es doch gehört. Ist nur ein GESCHÄFT! Also hör auf, uns mit deiner Nörgelei das Essen zu verderben.“
Als Frank sich den ersten Bissen Fleisch in den Mund steckte, schienen die Geschmacksknospen auf seiner Zunge förmlich zu explodieren. Der Fleischgeschmack war so überwältigend, so saftig und würzig, dass Frank sich nicht erinnern konnte, jemals so etwas Ausgezeichnetes gegessen zu haben.
Als er wieder sprach, klang ehrliche Anerkennung aus seiner Stimme.
„In einem Punkt muss ich ihnen recht geben, Mister Goldberg. Ihr Bruder hier ist tatsächlich ein fabelhafter Koch.“
Victor stand hinter seinem Servierwagen und schien das Lob gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen sprach Quentin für seinen Bruder.
„Oh ja, das ist er allerdings. Fragen sie mich nur nicht, woher er das hat. Ich wüsste jedenfalls niemanden sonst in unserer Familie, der auch nur annähernd etwas Genießbares auf den Tisch zaubern könnte. Ich habe ihn mal nach seinem Geheimnis gefragt, und wissen sie, was er mir geantwortet hat?“
Frank wartete, bis Quentin seine Frage selbst beantwortete.
„Geheimzutat hatte er gesagt, und das war`s. Keine Chance, aus dem Großen hier auch nur ein einziges Wort mehr rauszubekommen.“
Wieder wollte Franks Vernunftstimme piepsend losprotestieren, doch die Hungerstimme war abermals lauter: „KLAPPE ZU, Weichei. Du hast doch gerade selber diesen Wahnsinnsgeschmack mitbekommen. Genieß einfach das Essen, und sei still!“
Frank hatte unterdessen sein zweites Stück Fleisch gegessen, und den letzten Bissen mit einem weiteren Schluck des Weins nachgespült. Quentin deutete ihm mit einer Handbewegung, sich weiter zu bedienen, und Frank ließ sich nicht zweimal bitten. Victor schenkte ihm derweil ein neues Glas Wein ein.
„Also, DAS ist wirklich toll. Ich habe noch nie etwas so dermaßen gut zubereitetes gegessen. Was für Fleisch haben sie da überhaupt benutzt? Zuerst dachte ich, es wäre Schwein, aber mittlerweile bin ich mir nicht ganz sicher“
Victor sah ihn kurz an, ehe er tonlos antwortete: „Geheimzutat“
Quentin zuckte bloß schmunzelnd mit der Schulter, als wollte er sagen „Bitte, ich habs ihnen ja gesagt.“
Wieder meldete sich die Vernunftstimme, doch die Hungerstimme schrie erneut dazwischen: Was? Denkst du, er serviert dir da irgendwas SELTSAMES oder EKELIGES? Schau mal genau hin. Quentin isst es immerhin AUCH!“
Das genügte Frank, um weiter herzhaft zuzulangen. Aber tief hinten in seinem Hals fühlte er einen leichten Anfall von Übelkeit, der sich langsam nach oben kämpfte. Zwischen zwei Bissen trank er sein Glas Wein mit großen Schlucken leer. Sofort schenkte Victor wieder nach.
Nach zwei weiteren Stücken Fleisch kehrte die Übelkeit jedoch zurück. Frank ließ die Gabel sinken, und nahm noch einen Schluck vom Wein. Doch das kratzende, würgende Gefühl ließ sich nicht wieder zurück in seine Höhle drängen. Zudem tat der Wein schön langsam seine Wirkung. Eine warme Behaglichkeit breitete sich in Franks Hirn aus, während in seiner Kehle die Übelkeit weiter empor kroch.
Goldberg sah ihn fragend an. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Doch, alles bestens. Aber ich denke, ich sollte nun wirklich langsam gehen.“
Beunruhigt bemerkte Frank, dass er bereits ein wenig lallte.
Goldberg sah ihn bedauernd an.
„Nun, es gibt eigentlich noch einen weiteren Gang. Sozusagen die Krönung des Ganzen. Den sollten sie auf keinen Fall verpassen, Frank.“
Frank wollte etwas erwidern, als es ihm plötzlich dämmerte. Er hatte Goldberg seinen Namen natürlich nicht gesagt. Woher wusste er ihn also? Woher KONNTE er ihn wissen? „Es kommt sogar noch schlimmer“ meldete sich die Vernunftstimme vorsichtig. „Wenn er weiß, wer DU bist, dann weiß er vielleicht auch, wer Vicky ist. Oder er weiß sogar, dass Vicky dein Joker mit den Kopien der Fotos ist. Und da ich dir gerade den Tag verderbe- Möglicherweise weiß Quentin sogar, WO sich Vicky versteckt hält, bis der Deal abgeschlossen ist…“
Goldberg lächelte immer noch, doch dieses Lächeln hatte nun einen bösartigen Beigeschmack bekommen.
Victor ging zur Küche und kehrte kurz darauf mit einem weiteren Servierwagen zurück. Frank wollte etwas sagen, doch seine Zunge klebte plötzlich wie abgestorben an seinem Gaumen. Er hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen.
„Kennen sie eigentlich Lovandim? Ein äußerst patentes Mittel, dass bereits in geringsten Dosen zu Muskellähmungen führt.“ Quentin sprach immer noch in diesem gut gelaunten Plauderton, doch seine Stimme klang jetzt, als würde er aus weiter Ferne sprechen. Franks Gedanken krochen dahin wie zähflüssige Lava, und er brauchte einige Augenblicke, bis sein Hirn die Information verarbeiten konnte, die es eben erhalten hatte.
Goldberg fuhr plaudernd fort, als würde er einem Freund eine wahnsinnig spannende Geschichte erzählen („vielleicht die mit der Pointe, dass der Erpresserbulle am Arsch ist“ schien die Vernunftstimme zu flüstern.)
„Das Tolle daran ist, dass es zwar den Muskel lähmt, das Schmerzempfinden dabei jedoch in vollem Umfang erhalten bleibt. Und dazu braucht es nicht mal viel von dem Zeug. Eigentlich genügt die Menge, die man unauffällig auf ein Besteck auftragen kann- eine Gabel zum Beispiel“
Kalte Panik durchbrach Franks Gedanken. Er wollte nach seiner Waffe greifen, doch sein Arm hing nur nutzlos an seinem Körper und bewegte sich nicht. Hysterische Angst jagten durch Franks Schädel. Die Übelkeit war mittlerweile zu einem galligen Klumpen in seinem Hals geworden. Er schien kaum noch atmen zu können.
„Mal ganz ehrlich- Dachten sie ernsthaft, dass ich sie einfach so mit Fünf Millionen hier raus spazieren lasse? Dachten sie tatsächlich, ich mache Geschäfte mit einem Erpresser?“
Quentins Stimme schien aus immer weiterer Ferne zu kommen.
„Ohh nein, Frankie-Boy. Ganz bestimmt nicht. Aaaber- falls dich das ein wenig aufmuntert, Victor hat entschieden, dir wenigstens seine geheime Zutat zu verraten. Immerhin kannst du sie ja niemandem mehr verraten, nicht wahr?“
Mit diesen Worten zog Victor den Deckel von der letzten Platte auf dem Servierwagen und hielt die Platte direkt vor Franks Gesicht.
Frank wollte schreien, doch seine Stimmbänder schienen zu staubigen, sinnlosen Drahtseilen vertrocknet zu sein.
Auf der weißen Fleischplatte lag eine abgetrennte Hand- Eine menschliche Hand. Knusprig angebraten verströmte sie denselben verführerischen Duft, der Frank schon bei den vorherigen Gängen wahrgenommen hatte. Ein Klecks Kräuterbutter schmolz auf der Handfläche, und feine Kräuterschlieren zeichneten die Handlinien nach, die Wahrsager manchmal als Glückslinien bezeichneten. Rot (…rubinrot!...)lackierte, lange Fingernägel bildeten die Enden der schlanken Finger, deren Haut über den Gelenken aufgeplatzt war wie die Kruste eines Schweinebratens. Rund um dieses Stück Fleisch (…Mensch…) waren Röstkartoffel und junges Gemüse als ansprechende Dekoration drapiert. Nun, da die Wahrheit enthüllt worden war, verfiel seine Hunger-Stimme in betroffenes Schweigen. Die Vernunft-Stimme nutzte die Ruhe und schrie hysterisch. „Ich hab es doch gesagt, ich hab es dir gesagt, oh Gott, ich wusste doch, dass etwas faul war, ich wusste es, wusste, wusste, wusste es…“
Durch seine Benommenheit, der ihn umfing wie die tödliche Umarmung einer Würgeschlange, stach ein Detail dieses grausigen Fleischtellers mit übelkeiterregender Deutlichkeit hervor. (Nein… ). Sein letzter Rest rationalen Denkens wurde von einer gewaltigen Woge nackter Panik weggeschwemmt. (nicht DAS….nicht SIE!)
An dem Ringfinger dieser Hand saß ein billiger Edelstahlring (Nein!). Frank hatte nicht mehr genug Kontrolle über seinen Körper, um nach dem Ring (oh Gott, Nein, bittebitte nein) zu greifen. Doch das war auch nicht notwendig. Er wusste auch so, dass an der Innenseite die Worte „EWIG DEIN-FRANK“ eingraviert waren(NEEEIIIN…Vicky!). Er spürte, wie ein entsetzter Schrei in seiner Brust anschwoll, (Vicky!) der jedoch von seinen nutzlos gewordenen Stimmbändern (Vicky!) nur als schluchzendes Gurgeln weitergegeben wurde (ohherrimhimmel VICKY!)
Wie durch Watte hörte er Quentins Stimme murmeln.
„Und nachdem wir die Sache nun geklärt hätten entschuldigen sie mich bitte. Ich muss mich noch ein wenig frisch machen für heute Abend.“ Er lachte kurz auf, und diesmal war es definitiv ein bösartiges Lachen. „ Da erwarte ich noch Gäste….zum Essen“
Man sagt, vor dem Tod würde das ganze Leben an einem wie ein Film vorüberziehen. Frank sah keinen Film; Keine Szenen aus seiner Kindheit, keine schönen Erinnerungen. Frank sah nur Victor Goldberg, der ihm einen glänzenden Metzgerhaken in das weiche Fleisch unter seinem Kinn rammte, und ihm dann mit einem Ruck vom Sessel riss. Quentin hatte nicht gelogen, als er sagte, dass Schmerzempfinden würde erhalten bleiben. Greller Schmerz schoss durch Franks Gesicht. Während sich sein Sichtfeld langsam auf einen schwarzen Punkt reduzierte, sah er Victors riesenhaft scheinenden Umriss, der seinen gelähmten Körper grob hinter sich her zog- direkt auf die Küche des „le Petit“ zu.
Quentin Goldbergs letzte Worte hallten wie Echos in Franks Gedanken nach, während sein sterbendes Gehirn sich panisch weigern wollte, den vollen Sinn dieser Worte zu begreifen.
„…zum Essen...“ hatte er gesagt.
„…zum Essen……“