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Dimitris Geschenk
Die Haare sind platt gedrückt, kleben an meiner schweißnassen Stirn. Unter der Strumpfmaske kratzt es, und ich bekomme schlecht Luft. Aber diese Probleme sind sekundär. Primär ist unsere Mission: Rettet Rudi.
Sergej hat seine Strumpfmaske nur bis über die Nase gestülpt und zieht an dem Joint, inhaliert tief und fragt mit piepsig kratziger Stimme: „Will jemand?“
Dann bläst er den Rauch gen Halbmond.
„Nein“, antworte ich, „wenn du meinst, du müsstest dich jetzt zudröhnen, schön und gut, aber ich muss mich konzentrieren. Wenn alles glatt läuft, können wir feiern.“
Flo sagt: „Ja, Mann, mach den jetzt mal aus. Wir riskieren hier echt unsere Ärsche.“
Ich sitze im Gras, den Rücken an den Bauzaun gelehnt. Neben mir hocken Sergej und Flo.
Sie wollen mich bei dieser Mission unterstützen. Nicht etwa, weil ihnen Rudi was bedeutet, nein, sie wollen mir imponieren. Sex hatte ich bereits mit beiden. Mit Sergej war ich schon oft im Bett. Das eine Mal mit Flo zähle ich eher als Trunkenheit beim Verkehr. Sergej hat nun mal den Größeren. Es kommt auf die Technik an, ist doch bloß eine Notlüge für Männer mit kleinen Schwänzen.
Auch ich stülpe die Maske so weit nach oben, bis mein Mund frei liegt, um deutlicher sprechen zu können.
„So“, sage ich, „alles wie besprochen. Bereit?“ Beide nicken. Bei Sergej sieht es allerdings so aus, als hätte er gegen Sekundenschlaf anzukämpfen. „Das Wichtigste: seid still. Es braucht bloß eines der Tiere anfangen zu kreischen, und schon sind diese Bastarde zur Stelle. Kapiert?“
„Ja.“
„Voll klar.“
„Gut, dann los.“
Wir richten uns auf. Flo hebt den Bauzaun aus seinem Betonklotz und zieht ihn ein Stück zurück. Wir schlüpfen hindurch, gehen auf die Knie und krabbeln an den Käfigen entlang. Hinter mir müht sich Flo mit dem Bollerwagen ab. Er stützt sich mit einer Hand ab; mit der anderen hält er den Griff umklammert. Zwei Flutlichter tauchen den Platz in künstliches Licht.
Ein diabolischer Gestank nach Stroh, Urin und Kot dringt durch den Stoff der Maske. Vor uns liegt eine riesige Pfütze. Meine Jeans saugt sich mit dem Dreckwasser voll, und zwischen meinen Fingern quillt der Matsch hervor. Es ist widerlich. Ich höre das Schnarchen der Tiger im Käfig über uns.
Euch hole ich beim nächsten Besuch, sage ich zu mir, obwohl ich weiß, wie verrückt das ist.
Alles läuft nach Plan, bis …
Kichern.
„Was ist so komisch?“, zische ich nach vorne, wo Sergej krabbelt.
„Ach nichts“, sagt er, bemüht, sich weiteres Gekicher zu verkneifen. „Hatte nur gerade so ´ne Vorstellung.“
„Schluss damit, klar?“
Er antwortet nicht, sondern presst sich die schlammige Hand auf den Mund, um nicht lauthals in Gelächter auszubrechen.
Wir warten kurz und krabbeln im Gänsemarsch weiter. Ich kann den Käfig schon sehen.
Dann höre ich, wie eine Tür auf und wieder zugemacht wird. Ich erstarre.
„Los, ab unter den Wagen“, sagt Flo. Wir legen uns auf den Bauch, wodurch sich mein schwarzer Pulli ebenfalls mit Wasser vollsaugt. Dann rollen wir uns unter den Wagen. Sogar Sergej bringt das fertig.
Am Kopfende des kleinen Bauwagens sehe ich Stiefel durch den Matsch waten. Sie bleiben stehen. Danach höre ich es plätschern. Ein feiner Strahl landet vor den Stiefeln.
Haben die hier keine Toiletten?
Von einer dunklen Eingebung erfasst, schaue ich rüber zu Sergej, der sich diesmal beide Hände vor den Mund gepresst hält. Am liebsten würde ich ihn mit einem Psst! ermahnen. Aber dieses Risiko kann ich nicht eingehen. Der Strahl ebbt ab. Dann kommt doch noch was. Pause. Und noch ein Spruz. Längere Pause. Dann geht es nochmal kurz weiter, und Sergejs Lachen platzt durch seine Hände hindurch. Der Strahl bricht abrupt ab, und der Reißverschluss wird zugezogen. Sergej hat die Hände zurück auf den Mund geschlagen, aber das Lachen war unüberhörbar.
Die Stiefel entfernen sich ein Stück vom Wagen.
„Wo seid ihr?“, fragt eine tiefe Männerstimme. „Kommt raus, verdammt.“
Dann verschwinden die Stiefel wieder.
„Wir müssen hier weg“, sagt Flo, während Sergej in sich hineinkichert. „Weg hier, sofort.“
„Wartet“, sage ich.
„Wieso?“, fragt er verdutzt. „Lass uns rennen. Jetzt!“
„Nein.“
„Warum? So ein Schwachsinn.“
Dieses verdammte Gekicher.
„Haltet beide die Fresse, und lasst mich nachdenken!“, zische ich sie an.
Ich höre Stimmen; Türen, die aufgeschlagen werden. Die Tiere werden wach und beginnen zu toben. Ich komme mir vor wie in einem Alptraum, in dem ich allein durch einen Dschungel haste, auf der Flucht vor wilden Tieren und kannibalistischen Eingeborenen.
Was ist das für eine Sprache? Rumänisch? Ukrainisch?
Ich muss an Rudi denken. An die Tränen, die er schon vergossen hat und noch vergießen wird. Affen weinen wie Menschen.
Die beiden halten die Klappe. Ich schließe die Augen, schlage sie aber sofort wieder auf, als ich Sergejs Schrei höre.
Ein Tiger kommt zu uns heruntergekrabbelt. Er ist auf Sergejs Höhe und fährt die Krallen nach ihm aus, verfehlt knapp. Auch ich kreische. Wir reagieren schnell, rollen uns auf der entgegengesetzten Seite wieder hervor und springen auf.
Drei Männer und eine Frau bauen sich vor uns auf.
„Fuck!“, schreit Sergej. „Was soll das? Wollt ihr uns umbringen?“
Das möchte ich auch gern wissen, aber ich bin stumm und erstarrt. Ein vor Schreck emotionsloser Klotz.
„Halt´s Maul“, sagt ein muskelbepackter Zwerg. Er zieht uns nacheinander die Masken vom Kopf und wirft sie in den Dreck. Ich glaube, das ist die Stimme, die uns entdeckt hat. Ich schaue auf seine Stiefel, die das bestätigen. Er betrachtet den Bollerwagen, dann wieder uns. „Was wollt ihr hier?“
„Wir wollten euren Affen klauen“, posaunt es Sergej heraus. „Ihr verfickten Tierquäler.“
Der Muskelzwerg schmunzelt, während die andern beiden Männer lachen. Sie sind beide etwa zwei Köpfe größer als Muskelzwerg, glatzköpfig, könnten Brüder sein.
„Was war das gerade für ein Tier? Ein prähistorisches Ungeheuer? Ein Scheiß-Säbelzahntiger? Was soll das?“
Ich weiß nicht, was Sergej damit meint. Wahrscheinlich nur eine kleine Halluzination. Aber eines weiß ich: er sollte besser das tun, was ihm Muskelzwerg geraten hat und das Maul halten.
Ich sehe zu Flo rüber. Er wirkt apathisch, stammelt etwas, dass sich wie Mähne anhört. Immer wieder dieses Wort: Mähne.
Der eine redet von prähistorischen Monstern, der andere faselt etwas von einer Mähne. Als wäre ich nicht so schon verwirrt genug.
Ich inspiziere die Gesichter der Fremden. Sie sind blass. Aber in diesem Licht ist alles blass. Doch dann konzentriere ich mich auf das Lächeln der Frau. Sie ist eine typische Zigeunerbraut. Krisseliges, schwarzes Haar, klobige Goldohrringe und …
Spitze Zähne. Wie zu Pfeilspitzen gefeilt. Mir ist nun klar, dass es nicht Mähne war, was er da von sich gab.
Diesmal kreischt Flo laut auf, als der Tiger um die Ecke kommt. Nun verstehe ich auch, was Sergej mit Säbelzahntiger meinte. Unter dem Wagen, in all der Dunkelheit und Hektik, hatte ich die ellenlangen Eckzähne gar nicht bemerkt. Erst denke ich, der Tiger würde uns unmittelbar anspringen, aber dann kommt ein Mann um die Ecke des Wagens gelaufen, der eine Leine in der Hand hält.
„Guten Abend meine lieben Gäste.“ Er sieht auf sein linkes Handgelenk, wo sich allerdings keine Uhr befindet. „Oder sollte ich besser guten Morgen sagen? Egal. Willkommen im Zirkus Kundus.“
Der Tiger starrt uns bloß an. Und ich starre zurück. Sein Blick sagt mir, dass er hungrig ist.
„Hören Sie“, sagt Sergej, an den Neuen gewandt, „Wir können die Sache doch sicher anders regeln. Mein Vater hat seine eigene Firma, hat viel Asche, vielleicht könnte er dem Zirkus ja eine kleine Spende zukommen lassen.“
„Meinst du, wir sind auf Spenden angewiesen, du arroganter Pisser“, fährt Muskelzwerg ihn an.
„Hey, pass auf, wie du mich nennst.“ Sergej steuert mit erhobenem Zeigefinger auf ihn zu. Als er in Reichweite ist, packt sich der Kleine den Finger und knickt ihn um hundertachtzig Grad nach hinten.
Sergej reißt den Kopf in den Nacken und schreit laut auf. Die Tiere stimmen freudig mit ein. Leider wird das niemand hören, da der Zirkus auf einer abgelegenen Wiese gastiert, flankiert von einem Waldstück und einem kleinen Flughafen für Sportflieger, knapp einen Kilometer von der Stadt entfernt.
Muskelzwerg lässt den Finger los und Sergej fällt zu Boden. Er hört nicht mehr auf zu schreien. Flo will sich nach Sergej bücken, doch in der Bewegung rammt ihm einer der Glatzen das Knie ins Gesicht. Kurz darauf liegt er neben Sergej und hält sich die Nase.
„Mein Name ist übrigens Dimitri“, sagt der mit dem mutierten Tiger an der Leine. „Ich würde sie gerne bitten, mit in mein Zelt zu kommen. Ich verspreche Ihnen eine kleine Extravorstellung, um Ihnen zu beweisen, dass es unseren Tieren einfach hervorragend geht.“
Seine Stimme ist ruhig und klar, völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen.
„Ein toller Name“, sagt Dimitri. „Ich glaube, ich habe schon einmal ein Mädchen geliebt, das so hieß. Aber nur für eine Nacht. Länger lieben wird schnell langweilig.“
Er steht vor mir, sieht auf mich herab. Unter seiner aufgesetzten Freundlichkeit ist nur Schwarz.
Schwarz wie seine Lackschuhe. Schwarz wie seine Hose. Schwarz wie seine Augen. Als würden Oliven in den Höhlen stecken.
Sein Jackett ist dunkelblau. Darunter trägt er ein weißes Unterhemd.
„Außer natürlich Emilia. Sie zu lieben, ist wie eine Reise. Eine Reise zum Strand mit Ausblick auf die Weite des Meeres, doch mit der Ruine eines alten Hotels im Nacken. Weißt du, was ich meine?“
Er zieht sie an sich und fährt mit seiner Zunge über ihr Kinn bis hoch zu ihren geschlossenen Lippen. Dabei bleibt ihr Gesicht absolut emotionslos.
Die Manege wird von mehreren Scheinwerfern ausgeleuchtet, die extra für uns und unsere Sondervorstellung brennen. Die Zuschauerränge sind absolut dunkel.
„Emilia, Schatz, kannst du unseren Freund Rudi holen? Nur wegen ihm sind unsere Gäste doch hier.“
Sergej und Flo stöhnen. Auf Grund ihres Geschreis haben Dimitris Handlanger sie geknebelt. Mich jedoch nicht. Mir fehlt ohnehin die Luft, um zu schreien. Es kommt mir so vor, als würden die einzelnen Scheinwerfer flackern. Emilia drückt die Zeltplane beiseite und schlüpft durch den Spalt. Hinter ihr, an der Leine, trottet Rudi hinein. Er hat ebenfalls lange Eckzähne und noch dazu Fledermausflügel, mit denen er versucht abzuheben. Aber es gelingt ihm nicht. Die Lichter werden dunkler, und gehen schließlich ganz aus.
Ich spüre ein leichtes Tätscheln an meiner rechten Wange.
„Schätzchen, Zeit zum Aufstehen. Die Sonne wird bereits in einer Stunde aufgehen, und wir haben hier noch eine Show abzuliefern, bevor um zehn die nächste Vorstellung beginnt.
„Was?“ Als ich in sein Gesicht sehe, weiß ich wieder, was los ist. „Was wollen Sie?“, frage ich, endlich wieder fähig, einen Ton von mir zu geben.
„Ich? Ich bin ein sehr selbstloses Wesen. Ich will nichts. Aber meine Freunde wollen etwas.“ Er deutet auf den Säbelzahntiger und auf Rudi. „Blut.“
Ich atme tief durch. „Lassen Sie uns gehen, ja?“
„Tut mir leid.“
Jetzt laufen mir warme Tränen über die Wangen.
Rudi schreit wie am Spieß. Auch der Tiger beginnt langsam nervös zu knurren.
„Aber ich will dir eine Chance geben“, sagt er.
Ich winde meine Hände in der Schlaufe des Seils. Doch es tut sich nichts, außer, dass sich meine Haut aufschürft.
„Das hier wird jetzt so eine Art - ähm - Bewerbungsgespräch, wie ihr das nennt.“ Überaffektiert wedelt er mit seinen Händen herum. „Kannst du irgendwas, Schätzchen?“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
„Kannst du irgendwas? Egal was.“
„Ja.“
„Was? Erzähl´s mir.“
„Ich weiß nicht, was ich Ihnen erzählen soll.“
„Emilia, meine Liebe, sie glaubt tatsächlich, sie könne nichts“, sagt er, mit einem Schmollmund an sie gewandt. „Wir müssen ihr wohl auf die Sprünge helfen. Gib Rudi mal ´ne Kostprobe von diesem Leckerbissen da.“
Er zeigt auf Flo, dessen Stöhnen lauter wird.
Emilia führt Rudi zu dem Stuhl, an dem Flo gefesselt ist. Die mickrigen Flügel flattern auf und ab. Als die Entfernung stimmt, springt Rudi Flo ins Gesicht und beißt zu. Ich sehe es, aber schlimmer ist das Geräusch. Brechende Knochen, reißendes Fleisch.
Emilia zieht ihn wieder von Flo herunter, und dort, wo mal Flos Nase war, klafft jetzt ein blutiges Loch. Der Affe kaut vergnügt.
„Was kannst du?“
Die Lichter werden wieder dunkler, flackern aber gleich wieder auf.
„Ich kann gut rechnen.“
„Das interessiert mich nicht. Ich meine, was kannst du, was für den Zirkus eine Bedeutung hätte. Könntest du eine Show liefern?“
„Ich weiß nicht. Ich …“
„Emilia, gib ihm mehr.“
„Nein! Nein! Ich kann was!“
Immer mehr Blut sickert aus der Wunde, tränkt das Tuch, mit dem ihm der Mund verbunden wurde.
„Dann sag es mir.“
Ich lasse den Blick in der Manege schweifen. Betrachte verschiedene Requisiten. Ein Seil. Eine kleine Kiste. Ich sehe hoch zum fliegenden Trapez, und als ich wieder nach unten blicke, sehe ich das Einrad, das auf den Dielen der kleinen Bühne liegt.
„Da! Das Einrad. Ich kann damit fahren.“
„Ehrlich? Na, dann zeig mal, was du drauf hast.“ Sein Grinsen füllt beinah das ganze Gesicht aus. „Wir machen ein Spiel daraus. Immer, wenn du fallen solltest, darf einer meiner Freunde von einem deiner Freunde naschen, okay? Stellst du dich geschickt an, dürfen sie leben.“
Er bindet mich los. Ich versuche mich aufzurichten, falle aber zurück in den Stuhl.
„Brauchst du etwas Wasser, Kleine?“, fragt Emilia.
„Nein.“ Ich bin durstig, aber bevor ich mir von ihr ein Wasser bringen lasse, verdurste ich lieber.
Ich versuche es erneut, und diesmal klappt es. Es kommt mir vor, als würde ich auf vertikal stehenden Streichhölzern gehen, immer das Einrad im Fokus. Ich hebe es auf.
Du warst mal gut, sage ich zu mir. Du warst mal Kreissiegerin. Aber hier ging es nicht um einen blöden Pokal.
Ich setze mich auf, versuche die Balance zu finden und beginne zu treten. Fest fixiere ich den Boden vor mir, stets konzentriert. Nur Rudis ständiges Gebrüll lenkt mich ab. Es hört sich fast menschlich an.
„Mach mal eine Drehung“, sagt Dimitri. Seine Worte lassen mich zusammenfahren.
Das Rad macht einen Satz nach vorne, und ich knalle mit Rücken und Hinterkopf auf die Bretter.
Durch den Tränenschleier wirkt alles verschwommen. Blasse, lachende Gesichter tauchen in den dunklen Zuschauerreihen auf.
„Lass Valko als erstes fressen. Er wird immer stinkig, wenn er nicht als erstes bedient wird.“
Danach dumpfe Schmerzensschreie und wieder das Geräusch von reißendem Fleisch.
Ich wische mir die Tränen aus den Augen und sehe, wie sich Valko, der Säbelzahntiger, mit den Vorderpfoten auf Sergejs Schoß stützt und seinen Magen aushöhlt. Mir wird kalt und schlecht. Ich kotze einen Schwall warme Brühe, spucke die kaum verdauten Überreste aus.
Ein Stück von Sergejs Darm ist um Valkos Hals gewickelt. Sergej schreit nicht mehr, seine Augen sind absolut leer.
Dieses schmatzende Geräusch lässt mich erneut würgen, aber es kommt nur Galle meine Speiseröhre hochgestiegen.
„Komm hoch“, sagt Dimitri. „Ich möchte noch mehr sehen.“
Alles noch mal auf Anfang. Ich setzte mich auf das Rad und strample los. Immer auf einen Punkt vor mir auf dem Boden fixiert. Rudi schreit wieder wie verrückt.
Es klingt, als würde er meinen Namen kreischen. Lena! Lena! Lena!
Ich steuere auf die Wand am linken Ende der Bühne zu, gehe in mich, blende alles aus. Stille. Dann vollziehe ich eine Drehung.
Dimitri klatscht wild in die Hände. „Prima. Zugabe! Zugabe!“
Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Sergejs Stuhl mit ihm nach hinten gekippt ist. Valko kaut an seinem Gesicht herum. Ich muss die Augen zusammenkneifen und …
Stürze. Das Fallen kommt mir unendlich lang vor. Als ich erneut auf den Rücken aufschlage, beiße ich mir auf die Unterlippe und ein kupfriger Geschmack breitet sich aus.
„Emilia, Schatz, nun lasse auch Rudi weiter kosten.“
„Nein“, flehe ich. „Nein! Nein!“
Ich blicke auf. Emilia lässt die Leine los, und Rudi stürzt sich kreischend auf Flos Gesicht. Er beginnt, weiter am blutigen Loch herumzunagen.
Von Geisterhand wird das Licht erneut gedimmt. Müde, ich bin so verdammt müde.
„Hey!“ Dimitris Aufschrei holt mich zurück in die Hölle. Er wartet kurz ab, bis ich wieder voll da bin. „Aber ich habe gute Neuigkeiten für dich, Lena. Ich mag deine Augen, dieses besondere Funkeln. Ich werde dich nicht töten.“
Er kommt näher auf mich zu. Ich höre keinen seiner Schritte, kein Knarren der Dielen. Er muss über den Boden gleiten; absolut schwerelos.
„Du hast Talent. Weißt du, beim Zirkus ist es von Bedeutung, dass man auch in äußersten Stresssituationen Haltung bewahrt. Das hast du eben bewiesen. Ich möchte dich dabei haben, dich als vollwertiges Mitglied im Zirkus Kundus, den wohl ältesten Wanderzirkus der Welt, willkommen heißen. Nun bist du bereit, mein Geschenk zu empfangen.“
Er beugt sich über mich. Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, so dass ich seinen Atem riechen kann. Er riecht nach Zahnpasta, die jedoch die feine Note der Verwesung nicht überdecken kann.
„Natürlich hast du noch viel Übung nötig, aber wir haben ja nun eine Ewigkeit Zeit, nicht wahr? Ich möchte jetzt deinen Nacken küssen. Halt bitte still. Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben.“
Er beugt sich noch weiter über mich, leckt mit seiner kalten, rauen Zunge über meinen Hals und …
Beißt zu. Eine Welle der Lust durchströmt mich, kurz darauf …
Nichts. Black out.