Dimensionen
Dimensionen
Sie nervte mich eine halbe Nacht lang, dann schlug ich sie tot. Dauernd war sie mir ums Ohr herumgeflogen, hatte mit einer unerträglich hohen Frequenz gezirpt, war zeitweilig ganz still, vermutlich auf der Lauer. Anfangs hatte ich blindlings um mich geschlagen und dabei meist mein oben liegendes Ohr erwischt. Ich hatte die Decke über den Kopf gezogen, kurzfristig geht sowas, dann wird’s zu warm. Ich brauche nachts frische Luft! Jetzt klebt der zermatschte Körper der Stechmücke über dem Kopfende meines Bettes. Andere Menschen haben Hirschgeweihe und Leopardenfelle als Jagdtrophäen in der Wohnung. Ich nicht. Ich habe nur die tote Schnake. Sonst nichts. Ich will sie in ihrer Rauhfaserumgebung belassen; vielleicht schreckt der Kadaver ja Artgenossen ab. Das tapfere Schneiderlein weiland hatte sieben Fliegen auf einen Streich erledigt; das will ich mir nicht antun. Ich bin maßlos stolz auf die eine Schnake, mein Jagdglück, bei dem ich mich selbst selbstlos als Köder dargeboten hatte.
Doch kurz zurück zur Tapete. Ich stelle mir vor, dass die Trophäe im Zuge einer turnusmäßigen Wohnungsrenovierung verloren gehen könnte. Im Mietvertrag steht zwar, dass ich renovieren muss, man schreibt mir aber nicht vor, wie dies zu geschehen hat. Ich stelle mir eine Trophäen erhaltende Wohnungs-renovierung so vor, dass ich nicht zur großen Lammfellrolle greife und zu mordsschweren Kübeln voll Dispersionsfarbe, sondern mich auf ein umweltfreundliches Tippex-Fluid auf Wasserbasis reduziere. Bei der Dimension der Fläschchen lupfe ich mir gewiss keinen Bruch an: ein doppeltes Kirschwasser wäre schwerer! Und wenn ich dann quadratmillimeterweise im ganzen Schlafzimmer um den Schnakenleichnam herumstreiche, erfülle ich gleichzeitig die Renovierungsbedingungen des Mietvertrags. Genial, gell?
Es kommt halt im Leben oftmals auf die Dimensionen an; als bescheidener Mensch schätze ich die unausgestopfte „Muck“ wie andere Menschen einen Zwölfender à la Jägermeister. Ich streiche meine Wohnung mit Tippex-Fluid, wohlgemerkt: auf Wasserbasis, und denke über weitere Minimierungen üblicher Dimensionen nach. Beim Geschirrspülen hatte ich jüngst die Knoblauchpresse in der Hand und sinnierte, ob ich damit vielleicht auch Spätzle machen könnte. Die Spatzenpresse sieht ja ganz ähnlich aus und funktioniert genauso. Oder Kartoffelpüree. Es dauert halt verflixt lang, aber was soll's? Ich hab' ja Zeit!
Paul Rasch, Oktober 2011