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Diluvium
Max stolperte und konnte sich gerade noch am Rahmen der Wohnungstür festhalten.
„Alter, alles okay?“ Jonas fasste ihm lachend an die Schulter. Max grinste zurück.
„Ja alles gut.“
„Okay man, schön dass du da warst, komm gut nach Hause. Wir sehen uns morgen in der Uni?“ Max verzog das Gesicht.
„Joar, mal schauen. Vielleicht zum Mittag in der Mensa?“ Die beiden schlugen ein und Max verabschiedete sich ins Treppenhaus. Er fühlte sich benommen und die Stufen schienen sich, bei jedem Schritt, unter seinen Füßen davonstehlen zu wollen. Jedes Mal dasselbe. Das letzte Bier war immer schlecht. Unten angekommen trat er ins Freie und kramte in seiner Manteltasche nach einer Packung Zigaretten. Er zündete sich eine an, nahm einen tiefen Zug und lächelte. Die frische Luft nahm ihm ein wenig die Benommenheit und er bemerkte, dass er sich im Grunde wirklich gut fühlte. Er hatte an diesem Abend, auf Jonas Geburtstagsparty, eine Menge Leute kennengelernt und viele interessante Gespräche geführt; und das Verblüffende war, es war ihm leichtgefallen. Irgendwie war es ihm gelungen, das entscheidende Maß an Selbstvertrauen vorzutäuschen, um nicht nach der Hälfte des Satzes in unverständliches Gemurmel zu verfallen. Zugegeben, das passierte auch nicht ständig, zumindest nicht im Umfeld von Menschen, die er bereits ein wenig kannte. In einer durchweg fremden Umgebung allerdings, verließ ihn durchaus, hin und wieder einmal, der Mut, seine Sätze in der anfänglichen Lautstärke zu Ende zu sprechen. Seit er vor ein paar Monaten, zum Studium, nach Berlin gekommen war, hatte es öfter solche Situationen gegeben. Er hatte immer das Gefühl, er brauchte mehr Zeit um mit neuen Bekanntschaften warm zu werden als andere, achtete verstärkt darauf, was er sagte und wie er etwas sagte, um nicht anzuecken oder irgendwie komisch zu wirken. Die Vermutung, sein Gegenüber war sehr wohl in der Lage seine Nervosität zu ermitteln, wie ein Hund den Angstgeruch eines Menschen wittert, half nicht gerade dabei, das gewünschte Selbstvertrauen auszustrahlen. Doch heute Abend war es anders gelaufen. Nach ein paar Bieren, schaffte Max es meist wesentlich besser, seine Schüchternheit zu überwinden und er schien heute Abend durchgängig einen recht idealen Pegel gehabt zu haben. Und dann war da schließlich auch noch Jonas. Die beiden kamen aus derselben, niedersächsischen Kleinstadt und waren sogar auf dieselbe Schule gegangen, allerdings mit drei Jahrgängen Unterschied. Sie waren damals nicht befreundet gewesen, hatten wahrscheinlich nicht mal ein Wort miteinander gewechselt. Dementsprechend hatte Max anfangs Schwierigkeiten gehabt, Jonas Gesicht mit irgendwelchen Erinnerungen zu verknüpfen, als die beiden sich während den Einführungstagen an der Freien Universität Berlin wiederbegegneten. Selbstverständlich war Jonas zuerst auf Max zugegangen und hatte ihn mit dem herzlichsten Lächeln, das Max je untergekommen war, gefragt, ob er nicht auch aus Vechta kam und ob er nicht auch „aufs Antonianum“ gegangen sei.
Die gemeinsame Heimat hatte den Grundstein für eine sich rasch entwickelnde Freundschaft gelegt. Jonas fiel es, im Gegensatz zu Max, außerordentlich leicht, auf andere Menschen zuzugehen, wovon Max natürlich profitierte. Wenn die beiden zusammen unterwegs waren, richtete sich die Aufmerksamkeit der Leute, in der Regel, eher auf den muskulösen Lockenkopf, als auf ihn. Und da Max nicht gerne im Mittelpunkt stand, konnte er diesen Umstand nur begrüßen. Gleichzeitig lernte er eine Menge anderer Kommilitonen kennen, die er selbst vermutlich niemals angesprochen hätte. Es gab Tage, an denen er sich fragte, warum Jonas überhaupt so viel Zeit mit ihm verbrachte, wo er doch mit so vielen Menschen befreundet war, die um einiges interessanter und aufregender waren, als er. Menschen, die wie er, einen ganzen Raum alleine unterhalten konnten, oder sich ohne den geringsten Anflug von Scham zum Affen machten und es ihnen völlig egal war, was andere über sie dachten. Menschen, die Spaß machten. Es gab diese Tage, an denen seine Unsicherheit ein Maß erreichte, das ihn an Dingen zweifeln ließ, an denen nicht gezweifelt werden sollte. Und dann gab es Tage wie heute. Abende, wie den heutigen, an denen einfach alles gut lief. Und an denen Jonas es schaffte, ihn auf eine ungewohnte Art und Weise aus dem Konzept zu bringen.
„Eine rauchen?“, fragte Jonas über den Lärm der Musik hinweg.
„Klar.“ Max quetschte sich hinter Jonas her, durch die Masse von Menschen, die den Flur verstopfte. Im Wohnzimmer war es nicht mehr ganz so eng. Die meisten Partygäste saßen auf den beiden Sofas verteilt und waren in enthusiastische Gespräche vertieft. Der Rest tanzte zur dröhnenden Technomusik.
„Ich find’s echt krass, dass sich bei dem Bass noch kein Nachbar beschwert hat“, sagte Max, als die beiden an der Balkontür angelangt waren.
„Ich glaub die unten sind nicht da und den über uns, habe ich ehrlich gesagt noch nie gesehen. Wenn die Bullen kommen, machen wir halt leiser“, grinste Jonas und öffnete die Balkontür. Erstaunlicherweise waren sie allein auf dem Balkon und sie ließen sich auf das verschlissene Ledersofa fallen, das zwischen die Hauswand und ein, beunruhigend wackelig aussehendes, Holzregal gezwängt war. Jonas schüttelte zwei Zigaretten aus seinem Softpack und reichte Max eine davon herüber. Als Jonas ihm das brennende Feuerzeug hinhielt, trafen sich ihre Blicke auf eine Weise, die Max für einen Moment aus dem Konzept brachte. Im schwachen Schein der kleinen Flamme, leuchteten Jonas Augen wie Morgentau auf einem moosbedeckten Waldboden.
„Alles klar, Meister?“ sagte Jonas lachend. Max fiel vor Schreck beinahe die Zigarette aus dem Mund und er wandte abrupt den Blick ab. Jonas hielt noch immer das brennende Feuerzeug in seinem ausgestreckten Arm. Max zündete rasch seine Zigarette daran an und nahm einen tiefen Zug.
„Ja. Sorry. Ich war grad irgendwie weg“, sagte er, den Blick dem Balkongeländer zugewandt. Irgendetwas fühlte sich anders an als sonst. Die Luft war wie elektrisiert und sein Herzschlag begann sich sanft zu beschleunigen. Max spürte eine leichte Nervosität in sich aufsteigen. Dann schloss er für eine Sekunde die Augen und versuchte sich zu sammeln. Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette und wandte sich Jonas zu.
„Gefällt dir deine Party?“, fragte er, während er den Rauch zur Seite ausblies.
„Macht Spaß, oder? Ich find’s cool, dass so viele gekommen sind.“ Natürlich waren viele gekommen, dachte Max. Jonas kannte so viele Leute und ihm war bisher noch nie zu Ohren gekommen, dass jemand ihn nicht mögen würde. Er war dieser Kerl, mit dem eigentlich jeder befreundet sein wollte. Also ging man natürlich auch hin, wenn man zu seinem Geburtstag eingeladen war.
„Aber am meisten freue ich mich, dass du hier bist“, sagte Jonas grinsend. Max lächelte zurück, wenn auch etwas verhalten. Was hatte das zu bedeuten? Was hatte dieser Blick zu bedeuten? Wieder spürte Max diese Nervosität in sich aufsteigen. Die, sie umgebenden Luftpartikel luden sich auf, als würde jeden Moment ein Sommergewitter in ihrer Mitte ausbrechen. Max Gedanken begannen sich zu überschlagen. Das war ein ganz normaler Satz. Er freut sich, dass du da bist, dachte er. Aber warum diese Betonung? Warum dieser intensive Blick? Flirtete Jonas mit ihm? Vielleicht war er einfach nur betrunken. Aber dieser Blick. Diese Spannung zwischen ihnen, die zu diesem Zeitpunkt nicht zu leugnen war. Ein Teil von Max wollte sich vorbeugen, um ihn zu küssen. Aber wenn er die Situation komplett falsch einschätzte? Er bewegte sich nicht. Es war schon viel zu lange still. Und Jonas sah ihn immer noch an. Lächelnd. Auf eine Antwort wartend. Irgendetwas musste er sagen.
„Merci“, brachte er albern hervor und hob seine Bierflasche zum Prost. Jonas lachte und stieß seine eigene Flasche sanft dagegen. Die beiden nahmen einen tiefen Schluck und stellten ihr leeren Flaschen auf den kleinen, wackeligen Tisch vor dem Sofa ab.
„Wieder rein?“, fragte Jonas lächelnd.
„Ich glaube ich bleibe noch einen Moment draußen und rauche noch eine“, entgegnete Max.
„Alles klar. Dann bis gleich.“ Jonas reichte ihm die Packung Zigaretten und verschwand durch die Glastür in der tanzenden Menge. Max stand einen Moment nur da. Dann zündete er sich eine Zigarette an, lehnte sich über die Brüstung des Balkons und starrte in den sternenklaren Nachthimmel.
Er atmete die kühle Abendluft ein als er den Gehweg entlang in Richtung des großen blauen U-Bahn Schildes schlenderte. Gedankenverloren nahm er noch einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippte den glimmenden Rest auf den Gehweg. Als er die Treppen herunter zum Gleis ging, spürte er, wie sich allmählich bereits leichte Kopfschmerzen bemerkbar machten. Das fing ja früh an. Auf den Kater freute er sich schon jetzt. Der Bahnsteig war nahezu ausgestorben. Kein Wunder an einem Dienstag um diese Zeit. Die Bahn fuhr in die Station ein und von den Rädern erklang ein grelles Kreischen. Als Max einstieg, hatte er plötzlich das seltsame Gefühl beobachtet zu werden. Er drehte sich um und ließ seinen Blick über den ausgestorbenen Bahnsteig schweifen. Doch es war niemand zu sehen, außer einer älteren Frau mit dickem Wintermantel, die sich mit zitternden Händen eine Zigarette drehte. Die Türen schlossen sich und er ließ sich auf einen der Sitze am Fenster sinken. Mit dem Kopf an der Scheibe schloss er für einen kurzen Augenblick die Augen, um dann im nächsten Moment wieder aufzuschrecken. Nein, ich darf jetzt nicht einschlafen, dachte er. Er würde nur wieder an der Endstation aufwachen und das war irgendein Kaff an der Berliner Grenze, von wo aus man nicht mehr nach Hause kam. Das war ihm schon einmal passiert. Vor ein paar Monaten, mit der letzten S-Bahn nach Bernau und dann dort aufgewacht. Das war verdammt nervig gewesen, weil er ein paar Stunden warten musste, bis der Bahnbetrieb wieder einsetzte. Er setzte sich aufrecht und rieb sich die Augen. Außer ihm waren noch drei weitere Personen im Wagon. Ein älterer Herr auf einem der hinteren Sitze an der Seite, eine dunkelhaarige Frau, die auf ihr Smartphone starrte und in einer irren Geschwindigkeit darauf herum tippte und ein jüngerer Kerl im Anzug, der genauso fertig aussah wie Max sich fühlte. Die Bahn setzte sich ruckelnd in Bewegung. Wenig später verschwand der Bahnsteig aus den quadratischen Ausschnitten der Fenster und wurde durch ein tiefes Schwarz ersetzt. Max betrachtete den jungen Mann im Anzug, dessen Kopf durch die Erschütterungen der U-Bahn schlaff hin und her baumelte. Ihm war bewusst, dass er ihn anstarrte und dabei sicherlich ein wenig irre aussah, aber er musste sich auf irgendetwas konzentrieren, um nicht selbst einzuschlafen und der Kerl sah so oder so aus, als würde er nicht mehr viel mitbekommen. Er trug eine leicht verknitterte Anzugjacke, so als hätte er sie den ganzen Abend zusammengedrückt in der Hand gehalten, anstatt sie zu tragen. Vielleicht weil es beim Tanzen sonst zu warm geworden wäre, sinnierte Max. Darunter trug er ein weißes Hemd mit einem hellen Fleck auf der Brust. Die oberen drei Knöpfe waren offen und um den Kragen hing lose eine rote Krawatte. Max musste schmunzeln, weil er ihn an sich selbst erinnerte, wenn er von einer der Firmenfeiern der Kanzlei gekommen war, in der er einmal gearbeitet hatte. Nur für kurze Zeit. Der Job war furchtbar gewesen. Er hatte keine juristische Ausbildung irgendeiner Art, also hatte er mehr oder weniger als Sekretär gearbeitet. Und Sekretäre wurden in dieser Kanzlei wie Sklaven behandelt. Das einzig Gute waren die Partys, die alle 2 bis 3 Monate stattgefunden hatten und in denen er sich mit seiner liebsten Kollegin, (auch eine Sklavin) auf Kosten der Kanzlei, jedes Mal ordentlich abgeschossen hatte. Jedes Mal, waren um genau zu sein genau zweimal gewesen. Danach hatten sie beide gekündigt. Sie, weil sie ein Stipendium für ein Auslandsprojekt in Chile ergattert hatte, und er, weil er einen besser bezahlten Job von einem Freund vermittelt bekam.
Die Bahn hielt abrupt an und das Rütteln riss den jungen Kerl plötzlich aus seinem Schlummer. Er hob den Kopf und sah Max an, der in diesem Moment realisierte, dass er ihn immer noch anstarrte und ruckartig den Blick abwandte. Die Fenster waren immer noch schwarz. Sie waren irgendwo, zwischen zwei Stationen, stehen geblieben Das war ihm schon öfter passiert, vermutlich musste der Fahrer warten, bis die U-Bahn vor ihnen den Gleisabschnitt freigemacht hatte. Trotzdem kam es Max dieses Mal ungewöhnlich ruhig vor. So, als wäre die Bahn komplett abgeschaltet worden. Das schienen nun auch die übrigen Fahrgäste zu bemerken und sahen mit fragenden Blicken nach draußen. Es war selbstverständlich rein gar nichts zu sehen. Die Frau wandte sich einen Moment später wieder ihrem Smartphone zu. Der Kerl im Anzug ließ sich zurück auf seinen Sitz sacken und stieß dabei einen tiefen Seufzer aus. Der alte Mann im hinteren Bereich hatte sich erst gar nicht umgeschaut und saß nach wie vor, nach vorn gebeugt da, die Arme auf seine Oberschenkel gestützt. Als ein paar Minuten lang weiterhin überhaupt nichts passierte, stand Max auf, ging zu einer der Türen hinüber und versuchte sie durch Ziehen des Hebels zu öffnen. Natürlich passierte nichts. Die Türen waren verriegelt, schließlich befanden sie sich nicht in einem Bahnhof. Durch das Glas versuchte er in der Dunkelheit irgendeine Kontur zu erkennen. Ein Anhaltspunkt, der auf ihren Aufenthaltsort schließen lassen würde. Um die Reflexion der Beleuchtung abzuschirmen hob er beide Hände an seinen Kopf und kniff die Augen zusammen. Es war noch immer nichts zu erkennen. Alles war schwarz. Keine Wände, keine Stützpfeiler, es war rein gar nichts zu sehen. Oder doch? Je besser sich seine Pupillen auf die Dunkelheit einstellten, desto mehr hatte er das Gefühl einen schwachen Schimmer in der Ferne ausmachen zu können. Eine Art grauen Schleier, ein Bereich der sich minimal von der ihn umgebenen Schwärze abhob. Vielleicht das Licht des nächsten Bahnhofs, kam ihm zuerst in den Sinn. Doch irgendetwas an diesem Schleier wirkte seltsam auf ihn. Er bemerkte wie sein Herz schneller zu schlagen begann und konnte auf einmal seinen eigenen Atem hören. Sein Magen fühlte sich an, als hätte jemand ein Seil darumgelegt und zog es nun langsam fester und fester. Das Pochen seines Herzens war jetzt deutlich in seiner Brust zu spüren und er fühlte, wie sich die Haare auf seinen Armen langsam aufzustellen begannen. Der Schleier offenbarte eine Silhouette, zum größten Teil im Dunklen verborgen, aber dennoch deutlich zu erkennen. Die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Jemand stand dort im U-Bahn-Tunnel. Reglos. Und blickte in seine Richtung.
„Kannst du erkennen wo wir sind?“ Eine Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedanken und er löste den Blick für einen kurzen Augenblick von der dunklen Gestalt. Als er wieder hinsah, war sie verschwunden.
„Alles okay?“, fragte sie und blickte ihn stirnrunzelnd an. Max brauchte einen Moment um sich zu sortieren, bis er ein irritiertes „Ähm. Ja. Alles Gut.“ erwiderte.
„Nee, keine Ahnung, man kann nichts erkennen. Ist alles dunkel. Ich frag mich halt was da los ist und warum das so lange dauert.“
„Vielleischt Notarzt oder so“, schaltete sich der Anzugträger ein. Er lallte ein wenig und seine Augen waren rot unterlaufen. Er war aufgestanden und hielt sich schwankend an der Rückenlehne der Sitzbank fest. Max zuckte mit den Schultern.
„Ja, vielleicht“, sagte er.
„Aber es sagt auch keiner mal was durch.“ Die Frau schaute an die Decke und schien dort nach irgendetwas zu suchen.
„Man das nervt.“ Sie tappte mit dem linken Fuß auf den Boden und stemmte die Hände in die Hüften. Der Kerl im Anzug hatte sich wieder auf seinen Sitz fallen gelassen und zupfte an seiner Krawatte.
„Naja, es geht bestimmt gleich weiter“, sagte Max mehr zu sich selbst als zu den anderen und setzte sich ebenfalls wieder hin.
„Ey. Wie heiß‘ du?“ Der betrunkene Kerl schielte zu Max herüber und hob eine Hand in einer undefinierbaren Geste in seine Richtung.
„Max. Und du?“, sagte er lächelnd. Der Kerl zog die Hand zurück und hob die Brust in einem Versuch sich etwas aufrechter hin zu setzen.
„Konstantin. Hi. Coole Jacke, Bro.“ Während er die Worte aussprach, veranstaltete er irgendetwas sonderbares mit seinen Augenbrauen und wandte sich dann umgehend der Frau an der Tür zu.
„Und du?“ Sie hatte nach wie vor die Hände in die Hüften gestemmt und schien zu versuchen eine ernste und abweisende Miene aufzusetzen, was ihr aber beim Anblick, des auf seinem Sitz umherschwankenden Kerls nicht gelang. Als sie antwortete konnte sie ein kurzes Lächeln nicht unterdrücken.
„Elli.“
Ihre Antwort wurde von einem merkwürdigen Geräusch begleitet. Ein leises Plätschern. Als hätte jemand ein Getränk auf dem Boden verschüttet. Elli drehte sich um- und stieß einen spitzen Schrei aus. Max sprang auf und auch Konstantin schien es plötzlich aus seiner Trance zu reißen. Über ihre Schulter konnte er den alten Mann im hinteren Teil des Wagens sehen, sein Oberkörper weit nach vorne gebeugt. Vor ihm auf dem Boden schimmerte eine gewaltige rote Pfütze und aus seinem Mund tropfte Blut in dicken Schlieren. Sein Oberkörper zitterte so heftig, dass er jeden Moment von seinem Sitz zu fallen drohte. Ein Anfall? Scheiße, hatte der Mann einen Krampfanfall? Doch schlimmer als sein Zittern war dieses furchtbare Röcheln. Er rang nach Luft, würgte und hustete- alles gleichzeitig. Elli war zurückgewichen und starrte ihn entsetzt an.
„Was ist das?“, murmelte sie leise zu sich selbst. Konstantin gab überhaupt kein Wort von sich. Seine rot unterlaufenen Augen waren geweitet und er umklammerte die Lehne seines Sitzes so fest, dass seine Fingerknöchel weiß anliefen. Max ging ein paar Schritte auf den Mann zu, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte was er tun sollte. Ein weiterer, heftiger Ruck durchfuhr den Körper des Alten und er warf seinen Kopf nach hinten. Seine Augen und sein Mund waren weit aufgerissen und sein ganzes Gesicht war blutverschmiert. Max konnte schwören, dass er in diesem Moment einen Abdruck auf seinem Hals erkennen konnte. Als würde etwas von innen dagegen drücken. Dann folgte ein Schrei. Aber er kam nicht von Elli oder Konstantin. Auch nicht von Max. Der Schrei schien tief aus der Kehle des alten Mannes zu kommen. Es war eine Mischung aus dem Geheul einer Katze und etwas, was nicht von dieser Welt stammte. Ein Geräusch, welches jeden gesunden Menschenverstand in einen grauenhaften Wahnsinn trieb. Er spürte, wie sich ihm unmittelbar die Nackenhaare aufstellten und hielt inne. Im selben Moment warf der Mann seinen Kopf wieder nach vorn, nein, er wurde regelrecht nach vorn geschleudert, und aus seinem geöffneten Mund ergoss sich eine gewaltige Menge Blut, auf den Boden vor seinen Füßen, von denen ein paar Spritzer auch Max Schuhe benetzten. Erschrocken sprang er einen Schritt zurück. Erneut dieser grässliche Schrei. Dann ein Knacken und das Kinn des Mannes krachte ein paar Zentimeter nach unten. Ohne Zweifel war gerade sein Kiefer gebrochen. Sein Hals war angeschwollen, oder aufgeblasen und aus seinem Mund zappelte etwas Langes und Schmales heraus. Ein weiteres Knacken, diesmal lauter, und mit einem Mal riss sein Unterkiefer ab und fiel zu Boden. Aus der blutigen Öffnung zwängte sich ein Geschöpf, halb Spinne, halb Reptil, mit Zangen am Schädel und einem Maul voller winziger spitzer Zähne. Es glitt heraus und klatschte unsanft auf den Boden, während der schlaffe Körper des alten Mannes zur Seite kippte und neben dem Geschöpf auf den Boden krachte. Ein Gesicht war nicht mehr zu erkennen, der Schädel vom Hals bis zur Nase auseinandergerissen.
Max stolperte rückwärts an Konstantin vorbei, den Blick mit weit aufgerissenen Augen auf das grauenhafte Geschöpf gerichtet. Der Anblick drehte Max den Magen um und ließ ihn an seinem eigenen Verstand zweifeln. Das Geschöpf glich keiner Tierart, die Max jemals gesehen, von der er gehört, oder gelesen hatte. Sofern man überhaupt von Ähnlichkeiten zu beschriebenen Kreaturen sprechen konnte, kam noch am ehesten ein Insekt in Frage. Allerdings war es groß, wie eine Katze und wies über alle Maße groteske Verformungen des Körperbaus auf. Max konnte mindestens acht Beine erkennen, wahrscheinlich aber waren es mehr. Aus dem Vorderleib wuchs ein reptilienartiges, verstümmeltes Maul, aus dem wiederum spitze, scherenartige Mundwerkzeuge herausragten. Es waren auf Anhieb keine Augen zu erkennen und der gesamte Körper war von einer Art Panzer überzogen, über den unzählige stachel- und dornenartige Auswüchse wucherten. Max konnte Elli hinter sich schreien hören. Das Etwas zappelte wild mit seinen unzähligen Beinen und versuchte, aus der klebrigen Pfütze zu gelangen, in der es immer wieder ausrutschte. Doch bereits einen kurzen Augenblick später hatte es sich gefangen.
„Konstantin!“, brüllte Max als er sah, dass der Junge immer noch wie versteinert an seinem Sitzplatz stand.
„Verschwinde da!“ Er ging auf ihn zu und packte ihn an der Schulter, um ihn zurück zu ziehen, als die Kreatur sich plötzlich auf ihn stürzte. Er entglitt Max Griff, als sein Körper gegen die Wand geschleudert wurde. Es war so schnell gegangen, dass Max gar nicht begriffen hatte, was passiert war. Konstantins Schrei riss in dem Moment ab, als die Kreatur ihre Scheren in sein Gesicht rammte. Es sah beinahe aus, als versuchte sie sich in den Schädel des Jungen einzugraben. Blut spritze auf Max Gesicht und seine Klamotten und Fleischstücke wurden in alle Richtungen geschleudert. In Sekundenschnelle war von Konstantins Kopf nur noch ein roter, matschiger Klumpen übrig.
Max rannte zum Ende des Wagons und erreichte die Zwischentür, als das Geschöpf erneut einen entsetzlichen Schrei ausstieß. Er öffnete die Tür, durch die Elli ohne Zweifel bereits geflohen war, und hechtete hindurch. Die Wagons waren sehr dicht aneinandergekoppelt, sodass zwischen die beiden Verbindungstüren geradeso ein Mensch passte. Er schloss die erste Tür hinter sich und im selben Augenblick krachte etwas gegen die Scheibe. Das Glas knirschte und bildete Risse, brach aber nicht. Das Geschöpf schien eine Kraft und Masse zu besitzen, die jeglichen physikalischen Gesetzen widersprach. Von der anderen Seite drang ein dumpfes Fauchen zu ihm hindurch. Hektisch fummelte er an der zweiten Verbindungstür. Er zitterte so heftig, dass er den Griff kaum zu fassen bekam. Er sprang hindurch und riss die Tür umgehend hinter sich zu. Im selben Moment, in dem sie ins Schloss fiel, hörte er dahinter das Glas zersplittern.
Er drehte sich um- und der Anblick der sich ihm bot ließ ihm auf einen Schlag das Blut in den Adern gefrieren. Das gesamte Abteil war mit roten Sprenkeln übersäht. Ein paar Schritte von seinen Füßen entfernt, lagen zwei zerfetzte Körper. Im Brustkorb des einen klaffte ein gewaltiges Loch. Die Rippen waren nach außen gebogen und es hingen Fleischfetzen daran. Der Kopf des anderen war fast abgerissen und grotesk zur Seite geklappt. Nur noch ein paar Muskeln und Sehnen des Halses verbanden ihn mit dem Rumpf. Ein Stück weiter, lag eine abgetrennte Hand und dahinter vergrub ein spinnenartiges Monstrum gerade sein Maul im Brustkorb des dazugehörigen Körpers. Aus einigen Ausstülpungen des Panzers am Rücken, schien ein feiner, weißer Sprühnebel auszutreten, der sich geisterhaft in der Luft ausbreitete. Durch den Nebel hindurch, erkannte Max die Umrisse einer weiblichen Gestalt, die sich mit zitternden Beinen an eine Zwischenwand drückte. In der Hand hielt sie einen alten Gehstock, der heftig auf und ab wippte. Vor ihr kauerte eine weitere Spinnenkreatur und setzte zum Sprung an. Die Frau schaffte es genau im richtigen Moment zuzuschlagen und erwischte sie in der Luft. Die Kreatur wurde zur Seite geschleudert und krachte vor eine der metallenen Haltestangen. Doch noch ehe sie zur Flucht ansetzen konnte, hatte sich das Geschöpf schon wieder aufgerappelt. Max sah sich hektisch um. Es musste doch irgendetwas geben, was man als Waffe benutzen konnte. Er griff nach einem blutverschmierten Rucksack und riss ihn auf. Ein Schal, eine Mütze, ein Schreibblock. Scheiße. Er erspähte eine Sporttasche die unter einem der Sitze verstaut war und riss den Reißverschluss auf. Bingo! Er packte den Tennisschläger und hielt ihn fest umklammert. Die Kreatur vor ihm, war immer noch mit Fressen beschäftigt, als er sich ihr von hinten näherte. Eine feine, weiße Wolke schwebte über ihr und Max stülpte sich den Kragen seines Sweatshirts über Mund und Nase. Er hob den Schläger über seinen Kopf und schlug mit aller Kraft zu. Es knackte laut und die Kreatur stieß einen kläglichen Schrei aus. Der Schläger war zerbrochen und Teile des Rahmens baumelten an den Nylonsaiten herunter. Der Rücken der Kreatur war tief eingedrückt und der Panzer hatte Risse, aus denen eine gelbe, dickflüssige Substanz hervorquoll. Es zappelte wild mit den Beinen und versuchte sich davon zu schleppen. Max holte mit dem Fuß aus und zertrat ihm mit voller Wucht den Schädel. Gelbes Blut spritzte an seine Beine und die Kreatur hörte auf zu zappeln. Als er aufblickte, sah er wie das andere Geschöpf sich gerade im Arm der Frau festzubeißen versuchte. Sie schrie vor Schmerz und versuchte es abzuschütteln, doch es hielt sich hartnäckig fest. Sie schmetterte den Gehstock mit aller Kraft gegen den gepanzerten Körper und es fiel zu Boden, allerdings nicht ohne ein großes Stück Fleisch von ihrem Arm mitzureißen. Sie keuchte und versuchte, sich die viel zu große Wunde, mit ihrer viel zu kleinen Hand zu zuhalten. Dunkles Blut quoll durch ihre Finger. Sie sah auf und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Aus ihren Augen sprach blankes Entsetzen. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich um und eilte zur nächsten Zwischentür.
„Warte!“, rief Max. Doch im selben Moment wurde sie von den Beinen gerissen. Von einem der oberen Gepäckfächer war eine Kreatur auf ihre Schulter gesprungen und hatte sie umgeworfen. Max hechtete zu ihr, doch es war zu spät. Das grauenvolle Geschöpf hatte sich bereits in ihren Hals gebissen und ein großes Stück Fleisch von ihrem Brustbein gerissen. Ihre Schreie wurden zu einem Gurgeln, als ihr das Blut aus den Mundwinkeln zu laufen begann.
Ein paar Schritte von Max entfernt schwang sich eines der Geschöpfe zurück auf die Beine. Es schienen mindestens zwei gebrochen zu sein, was es zwar leicht humpeln ließ, aber nur unwesentlich verlangsamte. Max sprintete in Richtung der Zwischentür und hatte Mühe, nicht auf dem verschmierten Boden auszurutschen. Die Kreatur machte einen Satz und erwischte sein Bein. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn, als sie ihre Krallen in sein Fleisch rammte. Er trat mit seinem anderen Fuß, mit aller Kraft gegen den gepanzerten Körper des widerwertigen Geschöpfes und schleuderte es einige Meter zurück in das Abteil. Es war als hätte er gegen eine Eisenkugel getreten und sofort schoss ein stechender Schmerz durch seine Zehen. Bevor er durch die Tür gelangt war, hatte es schon wieder zum Sprung angesetzt und krachte neben ihm gegen die Wand. Rasiermesserscharfe Zangen schnappten durch den Türspalt. Max trat erneut zu und schmetterte mit aller Kraft die Türe ins Schloss. Er drehte sich um und zog am Hebel der zweiten Verbindungstür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Er schaute durch das Glas und blickte direkt vor eine dunkle Wand. Nein, es war keine Wand. Es waren Taschen. Koffer. Er zog erneut mit aller Kraft und diesmal schaffte er es, sie einen Spalt zu öffnen. Er steckte seinen Kopf hindurch und versuchte den Rest seines Körpers hinterher zu zwängen. Hinter ihm erklang ein dumpfes Poltern, als sich eine der Kreaturen gegen die Tür warf. Er streckte die Arme aus, bekam die Ecke eines großen Koffers zu packen und zog sich daran weiter vor. Mit einem kräftigen Ruck machte er einen Satz nach vorn und im selben Moment, als er den Innenraum des Wagons erblickte, stieß etwas mit ungeheurer Kraft gegen seinen Hinterkopf und er klatschte mit dem Gesicht auf den Boden. Ihm wurde augenblicklich schwarz vor Augen und er spürte eine heftige Übelkeit aufkommen.
„Fuck!“, hörte er eine Stimme über ihm. Dann ein Klappern und im nächsten Moment wurde er von zwei Händen unter den Armen gepackt und in den Wagon hineingezogen. Einen kurzen Moment drehte sich alles und er musste würgen. Seine Nase schmerzte und er schmeckte Blut. Dann wurde aus dem verschwommenen Nebel vor seinen Augen langsam wieder ein klares Bild. Er drehte sich um und sah wie hinter ihm eine Frau kräftig an einem Koffer zog, um ihn vor der Tür zu befestigen. Jetzt sah er, dass neben dem Koffer auch ein paar Taschen und ein Fahrrad quer zwischen den zwei Gepäckfächern verkeilt war.
„Sorry für den Tritt“, sagte Elli, während sie einen Rucksack zwischen den Sattel des Fahrrads und der Seitenkante des Koffers stopfte.
„Ich dachte du wärst eins von den Viechern.“ Er starrte die verbarrikadierte Tür an.
„Meinst du das hält sie auf?“, fragte er während er sich mit dem Ärmel seine blutige Nase abwischte. Sie tat höllisch weh. Möglicherweise war sie gebrochen. Elli hockte sich neben ihn.
„Bis jetzt hat es gehalten.“ Sie streckte die Hand aus und sah ihn an. Sie war hübsch. Vielleicht Anfang dreißig, schätzte Max. Das dunkelbraune, lockige Haar hatte sie zu einem Zopf nach hinten gebunden.
„Geht’s da weiter?“ Max nickte in die Richtung des nächsten Wagens. Doch bevor Sie antwortete, konnte er schon die beiden Fahrräder und die Taschen sehen, die vor der Tür eingeklemmt waren.
„Da geht’s schon weiter. Aber da sind alle tot. Bis auf die Spinnenechsenviecher.“ Max schluckte.
„Fuck“, war alles was er sagen konnte. Er fühlte sich benommen. Sein Kopf schmerzte, ein starkes Pochen kroch von seinem Nacken bis zu seiner Stirn. Seine Nase knirschte, wenn er die Mundwinkel verzog. Für einen Augenblick verschwamm das Abteil vor seinen Augen. Dann war es wieder klar. Er hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen.
„Ich hab‘ schon versucht, eine dieser Türen nach draußen auf zu kriegen, aber ich schaffe es nicht. Und das scheiß Glas will auch nicht brechen.“ Ihre Stimme hörte sich auf einmal weit entfernt an.
„Hey was ist los?“ Jemand rüttelte an seiner Schulter.
„Max, wach bleiben!“ Doch er driftete ab. Weg von dem was gerade vor sich ging. Weg von dem Grauen, das er nicht im Geringsten zu begreifen im Stande war. Als er aufwachte, schmerzte sein Kopf immer noch wie verrückt und aus irgendeinem Grund schmerzte seine Wange nun noch dazu. Er blinzelte. Ellis Gesicht war dicht vor seinem und sie schaute ihn durchdringend an.
„Da wärst du fast weg gewesen“, sagte sie. Er nickte benommen. Sie stützte sich mit den Händen am Boden ab und setzte sich neben ihn an die Wand des U-Bahn Wagons.
„Was für ´ne kranke Scheiße, hm?“, fragte sie leise. Er antwortete nicht sofort. Dass sie die einzigen waren, die noch lebten, war eine Ahnung, die wohl keiner von beiden laut aussprechen wollte. Eine Zeitlang blieb es still. Einzig das Flackern der Neonröhren, über den Gepäckfächern war zu hören.
„Keine Ahnung.“ Max war nicht sicher, ob er bereits annähernd verarbeitet hatte, was in den letzten Augenblicken passiert war. Er war sich nicht einmal sicher, ob sein Verstand jemals in der Lage sein würde es zu begreifen.
Das Licht im Wagon flackerte und wurde zunehmend schwächer. Die Beiden saßen auf dem Boden, mit dem Rücken an die Seitenwand gelehnt. Max versuchte seine blutigen Hände an seiner Jeans abzuwischen, was ihm aber kaum gelang. Seine Gedanken überschlugen sich und er fühlte so viele Dinge gleichzeitig, dass sie sich letztlich gegenseitig aufhoben und eine tiefe Leere in ihm hinterließen. In was für eine Hölle war er hier hineingeraten? Wie war das alles möglich? Was waren das für Kreaturen und warum waren sie hier? Mitten in Berlin, in der verdammten U-Bahn. Für einen kurzen, hoffnungsvollen Augenblick bildete er sich ein, dass alles nur ein grässlicher Traum war. Nichts von dem war real. Er schloss die Augen und flehte das Universum an. Bitte lass das alles nicht wahr sein. Aber als er seine Augen öffnete und einen Blick auf seine blutverschmierten Hände warf, wurde ihm klar, dass es aus diesem Albtraum kein Erwachen gab. Weil es keiner war. Er hatte gesehen, wie sich ein unbekannter, mit Stacheln übersäter Schrecken aus dem Rachen eines alten Mannes gezwängt und dabei sein gesamtes Gesicht zerrissen hatte. Er hatte gesehen, wie sich eine dieser Kreaturen in Konstantins Kehle hineingegraben und sein Blut den gesamten U-Bahn-Wagon besprenkelt hatte. Er hatte die Blutspritzer auf seiner Haut gespürt, während er in die vor Entsetzen aufgerissenen Augen des sterbenden Jungen geblickt hatte. Fassungslos starrte er seine Hände an und bemerkte zunächst nicht, dass sich Elli neben ihm aufzurichten begann und sich mit schmerzverzerrten Gesicht den Bauch hielt. Erst ihr Husten riss ihn aus seinen Gedanken.
Max sprang auf und starrte sie an. Vorsichtig legte er eine Hand auf ihre Schulter und versuchte einen Blickkontakt herzustellen. Doch sie schaute nur auf den Boden, ihr Körper gekrümmt, verkrampft, ein grässliches Röcheln kroch aus ihrer Kehle.
„Shit Elli, was ist los?“ Die Frage war sinnlos. Er wusste genau was los war, noch bevor sie einen Mund voll Blut auf den Boden spuckte. Max schlug die Hände hinter den Kopf und wich ein paar Schritte zurück.
„Fuck, fuck, fuck!“, murmelte er, während er unruhig hin und her schwankte. Er konnte nicht hinsehen. Er wollte nicht hinsehen. Er konnte nichts tun. Ellis Würgen und Husten wurde lauter und immer unerträglicher. Es klang als würde sie jeden Moment ersticken. Sie brach auf dem Boden zusammen und ihr Körper begann wild zu zappeln, während ihr bei jedem Zucken Blut aus dem Mund quoll. Max war panisch. Er wusste nicht was er tun sollte. Es gab keinen Wagon mehr in den er fliehen konnte, wenn gleich eins dieser Viecher aus ihr herausplatzte. Er musste irgendwie versuchen eine der Türen nach draußen aufzubekommen. Aber wie? Womit? Es war nichts hier! Und die Kreatur hatte sich jeden Moment aus Ellis Körper heraus gekämpft. Er stand an der Tür und schaute zurück auf den zappelnden, blutüberströmten Körper des Mädchens. War sie überhaupt noch am Leben? Ihr Körper bewegte sich, aber das konnten auch nur noch ein paar letzte elektrische Impulse sein, oder? Welche Schmerzen und Verletzungen konnte ein menschlicher Körper aushalten bevor er aufgab? Vielleicht hatte sie bereits das Bewusstsein verloren? Aus ihrem Mund zappelten nun die Beine der Kreatur. In wenigen Augenblicken war sie frei. Und sie würde Max angreifen. Und sie war schnell. So schnell und so kräftig, dass Max vielleicht keine Chance mehr haben würde. Seine einzige Chance war jetzt.
Er ging auf Elli zu, zitterte am ganzen Körper, als er vor ihr stand. Tränen liefen ihm über die Wangen und er nahm einen tiefen Atemzug. Dann trat er zu. Die Hacke seines Stiefels zerschmetterte Ellis Kiefer. Das knackende Geräusch der brechenden Wangenknochen durchfuhr Max wie ein Stromschlag. Er schloss die Augen, hob den Fuß und trat erneut zu. Mit aller Kraft. Erneut dieses Knacken, diesmal gefolgt von etwas, das sich nach den Schmerzensschreien der Kreatur anhörte. Ein grässliches Quieken. Er begann zu schluchzen, immer mehr Tränen rannen von seinem Gesicht und er begann zu schreien, während er immer schneller und heftiger mit dem Fuß auf den Schädel und die darin eingeklemmte Kreatur eindrosch. Er hatte die Augen geschlossen, konnte nicht nach unten sehen. Er heulte und schrie und er trat weiter und weiter zu. Das Knirschen wurde mehr und mehr zu einer Art schmatzenden Geräusch und für einen kurzen Moment, um sich diesem unwirklichen Grauen zu entziehen, drifteten seine Gedanken in weite Ferne ab. Er stellte sich vor er sei an einem anderen Ort. In einem Wald. In einem Wald nach einem langen Regenschauer. Die Luft war warm und feucht. Tautropfen kondensierten auf seiner Haut und er atmete den Geruch von frischer Erde ein. Er ging einen Schritt nach vorn. Und sein Fuß trat in eine Pfütze von feuchtem Schlamm. Dann hielt er inne. Er öffnete die Augen und trat, ohne nach unten zu schauen, einen Schritt zurück. Beinahe wäre er ausgerutscht, so viel glibberige Masse klebte an den Sohlen seiner Schuhe. Er zitterte und er heulte. Rotz und Speichel hing von seinen Mundwinkeln, gemischt mit salzigen Tränen und er bekam kaum Luft. Er wandte sich ab, von dem leblosen Körper am Boden, der nun aufgehört hatte herum zu zappeln. Der nun still da lag. Alles war still. Alles bis auf sein eigenes Schluchzen. Ein paar Schritte von der Leiche entfernt, lehnte er sich kraftlos an die Wand des Wagens und glitt auf den Boden in sich zusammen. Er vergrub den Kopf in seinen Armen und weinte. In seinem Schädel hallten die grässlichen Geräusche nach. Das Knirschen und Schmatzen. Der Schrei des Biestes.
Eine Weile saß er nur da und starrte mit ausdruckslosen Augen auf die Türen des Wagons. Ihm war immer noch zum Heulen zumute, aber es kamen keine Tränen mehr. Er fühlte weder Trauer noch Schmerz. Er wusste, er würde niemals mehr vergessen können, was er grade eben durchlebt hatte. Er wusste er würde für den Rest seines Lebens den immer gleichen Albtraum haben. Sofern es überhaupt noch ein Leben für ihn gab. Er war alleine hier unten. Eingesperrt und umringt von blutrünstigen, gottlosen Kreaturen, die früher oder später einen Weg finden würden zu ihm zu gelangen. Es war absurd. Nicht einmal in seiner Phantasie, hätte er sich jemals ein solches Ende erdacht. Er war ein wenig erstaunt, als plötzlich Jonas Gesicht in seinen Gedanken auftauchte. Noch stärker war sein Erstaunen, als er bemerkte, wie sich sein leerer Geist wieder mit Empfindungen füllte. Er sah Jonas magisches Lächeln, dem man sich niemals erwehren konnte. Er sah seine tiefgrünen Augen, diesen Blick, der sein Herz schneller schlagen ließ. Würde er ihn je wiedersehen? Würde er jemals die Gelegenheit bekommen, ihm zu sagen, was er wirklich fühlte, wenn sie zusammen waren? Die Vorstellung, ihm niemals seine wahren Empfindungen offenbaren zu können, begann eine wachsende Unruhe in ihm zu erzeugen. Er spürte, wie sich sein Geist wieder mit Leben füllte. Es war nicht vorbei. Er lebte noch. Und er würde einen Weg aus dieser Hölle finden.
Also wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und stand langsam auf. Die Luft roch nach Tod. Er ging zu der verbarrikadierten Zwischentür und schaute vorsichtig durch das Glas. Der benachbarte Wagen war dunkel und die Türen voller Blut, sodass er kaum etwas erkennen konnte. Allerdings schien es ruhig zu sein. Vorsichtig öffne Max einen der Rucksäcke und räumte ihn aus. Irgendetwas brauchbares musste doch hier sein. Wachsam schaute er in den finsteren Wagen hinein. Doch nichts regte sich. Er tastete einen länglichen, harten Gegenstand und zog ihn heraus. Ein Regenschirm. Einen Versuch war es wert, dachte er. Er hangelte sich an den oberen Halterungen zurück und schob einen der großen, schweren Koffer ein wenig weiter vor die Tür. Das wird sie nicht daran hindern hindurch zu kommen, aber eine gewisse Zeit, wird es sie sicher aufhalten, dachte er. Er stieß die Spitze des Schirms zwischen die beiden Schiebetüren und drückte ihn mit aller Kraft ein paar Zentimeter hindurch. Durch das Fenster sah er sein Spiegelbild. Sein blutbeflecktes Shirt. Seine blutigen Hände. Mit aller Kraft drückte er gegen den Stab, lehnte sich mit seinem gesamten Körper gegen den Hebel, bis sich die Tür eine Handbreit öffnete. Er packte eine der Türen mit beiden Händen und zog so fest er konnte. Mit einem leisen Quietschen öffnete sie sich noch einen Spalt mehr. Gerade genug, um sich hindurch zu zwängen. Mit den Beinen voran glitt er durch den Spalt und blieb mit der Schulter stecken. Als er versuchte den Oberkörper ein Stück zu drehen und dabei die Tür noch ein wenig weiter zu öffnen, blieb sein Blick auf der Leiche mit dem zerschmetterten Schädel hängen. Reue und Scham überkamen ihn und er kniff die Augen zusammen und quetschte sich nach draußen.
Außerhalb des Wagons war es gnadenlos finster. Nur aus diesem Abteil schien noch ein schwaches Licht, welches immer noch heftig flackerte. Alle anderen Wagons waren dunkel. Langsam und vorsichtig schob er sich an der Bahn entlang, immer weiter hinein in die Dunkelheit. Jeden Schritt machte er äußerst behutsam und möglichst geräuschlos. Er wollte auf keinen Fall die Aufmerksamkeit von irgendetwas im Inneren dieses Zuges auf sich ziehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er den letzten Wagon erreicht. Davor konnte Max im schwachen Schein des mittleren Wagens die Schienen erkennen. Noch ein paar Meter, dann verschwanden sie in der Dunkelheit. Er musste ihnen nur folgen. Langsam und vorsichtig. Je weiter er von der Bahn entfernt war, desto schneller konnte er werden und ganz bald einen der Bahnhöfe erreichen. Die Bestien waren eingesperrt. Zumindest für einige Zeit. Bestimmt. Sie würden ihm nicht folgen. Er konnte es schaffen. Er ging los. Schon nach ein paar Schritten konnte er seine eigene Hand nicht mehr vor Augen sehen. Sein Herz hämmerte in seiner Brust und er spürte wie das Blut heftig durch seine Adern gepresst wurde. Ein Fuß vor den anderen. Er musste aufpassen, nicht über die Schienen zu stolpern. Er wusste, das würde Geräusche machen. Und Geräusche waren nicht gut. Langsam ging er weiter. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Vorsichtig schlich er vorwärts, während das schwache Leuchten der U-Bahn hinter ihm in der Finsternis verschwand. Als er seine schwitzigen Hände an seiner Jeans abwischte, spürte er etwas Flaches, Hartes in seiner rechten Jeanstasche. Natürlich! Warum hatte er bisher noch nicht daran gedacht? Er zog sein Handy aus der Tasche und schaltete die Taschenlampe ein. Mit der niedrigen Akkuladung würde er zwar nicht sehr weit kommen, aber vielleicht konnte er bis dahin bereits die Lichter der nächsten Station erkennen. Und tatsächlich, kurze Zeit später wurde die Seitenwand des Tunnels vor ihm von einem schwachen Licht erhellt. Er beschleunigte seine Schritte und spürte wie Hoffnung in ihm aufstieg. Er konnte nun bereits einen Teil der Bahnhofshalle sehen und begann zu laufen. Er war aufgeregt und gleichsam erleichtert, als er die Station erreichte. Mit beiden Händen stemmte er sich auf die Plattform und zog sich aus dem Gleisbett heraus. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen und atmete tief ein und aus. Dann öffnete er die Augen und als er sich umsah, stahl sich seine Erleichterung davon wie scheues Wild. Etwa einen Meter von ihm entfernt zog sich eine dicke Blutspur auf den weißen Kacheln entlang. An ihrem Ende lag ein lebloser Körper, mit einem fußballgroßen, blutigen Loch zwischen den Schulterblättern. Wenige Meter weiter lag ein weiterer Körper. Mindestens ein Dutzend Leichen waren über den gesamten Bahnhof verteilt. Die Panik schoss wie ein Stromschlag in seinen Körper zurück und er taumelte dem kleinen Bahnhofskiosk entgegen, aus dem er leise Geräusche zu vernehmen glaubte. Während er der kleinen Bude entgegen wankte, bemerkte er etwas Seltsames. Alle Anzeigetafeln zeigten in deutlichen Großbuchstaben denselben Schriftzug an. DILUVIUM. Am Kiosk angekommen konnte er nun deutlich Stimmen erkennen, auch wenn sie nicht sehr klar und mit einem permanenten Rauschen unterlegt waren.
„-wird geraten unter keinen Umständen das Haus zu“ Rauschen. „-Kellerräume oder öffentliche Bunker“ Rauschen. Hinter dem Tresen lag ein kleiner, tragbarer Fernseher mit eingeschlagener Scheibe. Die gesamte Zeitungsauslage war blutdurchtränkt. Das Bild war stark gestört, flackerte und verschwand manchmal völlig. Max schaltete am Gerät einen anderen Sender ein.
„Soeben erreichen uns Bilder von London und Paris“ Rauschen. Als das Bild wieder etwas klarer wurde, waren wackelige Aufnahmen einer großen Pariser Einkaufsstraße zu sehen. Menschen rannten panisch um ihr Leben. Ein älterer Mann mit Vollbart hielt ein Schild aus Pappe hoch auf dem eilig hingekritzelte Worte standen: Vous pliez de le jugement de Dieu! Beugt euch Gottes Gericht. Eine große, elektronische Werbetafel zeigte in feuerroten Lettern das Wort DILUVIUM. Mit zitternden Händen schaltete Max den Sender weiter. Ein Nachrichtensprecher flackerte vor einem blauen Hintergrund auf.
„-biologischen Waffe nicht bestätigt“ Rauschen. „-unfassbare Möglichkeit“ Rauschen. „absichtlichen Angriffs“ Rauschen. Auf dem nächsten Sender, waren erneut Amateuraufnahmen zu sehen. Schreiende Menschen liefen durcheinander und wurden von grässlichen, spinnenartigen Kreaturen angegriffen. Eine alte Frau kam auf die Kamera zu gelaufen. Ihr Oberarm endete in einem blutigen Fetzen. In der Ferne, über ihrem Kopf war klar die spanische Alhambra zu erkennen. Durch das Schaufenster eines Geschäftes leuchtete, von einem Fernsehbildschirm, das Wort DILUVIUM hervor. Es folgten weitere Aufnahmen aus Rom, Prag, Budapest, Edinburgh. Die Bilder begannen vor seinen Augen zu verschwimmen. Seine Panik ließ ihn beinahe den Verstand verlieren. Er konnte nicht verstehen, was er da sah. Es war so unwirklich. Er zitterte dermaßen heftig am ganzen Körper, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. An die Wand des Bahnhofkiosks gelehnt, sackte er auf den harten Boden zusammen. Aus seiner Tasche zog er sein Handy und hielt es in seinen zittrigen Händen. Er schaute sein Fotoalbum durch, wollte Menschen sehen, die er liebte. Menschen, die vermutlich schon nicht mehr am Leben waren. Er scrollte durch Bilder von Freunden aus der Schule, Bilder seiner Eltern, seiner kleinen Schwester. Sofort schossen ihm neue Tränen in die Augen, die er mit seinem Ärmel wegwischte. Letztlich verharrte sein Finger auf einem Bild von Jonas und ihm. Die beiden standen lachend, Arm in Arm in einer Bar. Im Hintergrund steckten zwei Pfeile im Bulls-Eye einer Dartscheibe und Jonas formte seine rechte Hand zu einer Siegerfaust. Max lächelte, als er in dieses, vor Glück strahlende Gesicht sah. Dann starb der Akku und der Bildschirm wurde schwarz. Und durch den Zugang zum unterirdischen Bahnhof, unbestreitbar von der Straße über ihm herrührend, drangen die dämonischen Schreie eines namenlosen Grauens.