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Dilemma
„Es ist die Bestimmung des Menschen, neben der Liebe zu Freunden auch das dringende Verlangen nach einem hassenswerten Feinde zu spüren.“
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Robert hörte Stimmen, richtige Stimmen, doch als er hochfuhr war alles genauso still wie kurz vor dem Einschlafen, genauso still wie immer.
"Hey!", brüllte er unvermittelt. Eine neue Angewohnheit. Eigentlich tat er es nur um zu testen, ob er noch sprechen konnte, weniger weil er glaubte, dass es jemand hören, geschweige denn beantworten würde. Das Echo seiner ungeübten Stimme musste ihm Antwort genug sein. Er starrte durch die zerstörte Decke des Zimmers in den harmlos blauen Himmel über dem Dach des Hochhauses. Schönes Wetter.
Die Wohnung direkt unter dem Dach war etwas weniger mitgenommen als die letzte und vorletzte, an die er sich erinnern konnte, und in einem der verstaubten Schränke gab es genug Konserven für die nächsten Tage. Die beiden bröckeligen Skelette, die am Küchentisch saßen, waren zwar makabere aber auch willkommene Gesellschaft für ihn. Menschlichere Gesellschaft hatte er lange nicht gehabt.
"Setz' dich gerade hin!", herrschte er das eine Gerippe an, das wahrscheinlich einem etwa zehnjährigen Jungen gehört hatte, und an dessen krummen Rückgrat nun ein gammeliger Schädel auf den Tisch baumelte. Die Krähen hatten das Dach nicht erst öffnen müssen, um an das Fleisch zu kommen. Während er eine Dose Roastbeef in sich hinein schaufelte, betrachtete er über die Gabel hinweg die stockfleckige Tapete und dachte traurig an seinen Neffen Stefan, der in etwa dem gleichen Alter gewesen war. Doch dann verdrängte er jeden weiteren Gedanken an das Gestern. Die Gegenwart war schon schwierig genug zu bewältigen.
Ein leises Surren von der Straße her ließ ihn aufhorchen. Ja, da war es wieder. Sie hatte ihn also auch diesmal gefunden. Zum Glück hatte er sich vergewissert, dass die Treppe über mindestens ein Stockwerk hin unterbrochen waren. Hier oben war er sicher.
Vorsichtig blickte er aus dem Fenster. Richtig vermutet. Unten auf der Straße stand die Maschine, sein Rivale um die Herrschaft über die Erde.
Bei der Erinnerung an seinen törichten Kontaktversuch begann die alte Schussverletzung wieder zu schmerzen. Nur der Tatsache, dass die Kalibrierung der Zieleinrichtung offenbar etwas abbekommen hatte, war es zu verdanken, dass von der Salve nur sein linkes Schlüsselbein gestreift worden war. Es hatte ihn wochenlang auf der Flucht behindert, doch andererseits hatte ihn die Heilung immer daran erinnert, dass er in diesem Punkt der Maschine gegenüber im Vorteil war. Seine Verletzungen heilten, während die ihren sich summierten. Und er hatte sich ständig gefragt, ob sie nun auf seinen Kopf oder sein Herz gezielt hatte. Das war eine gar nicht unwichtige Frage. Es machte einen großen Unterschied für ihn, ob die Maschine human oder grausam handelte.
Eines Tages würden sie es austragen müssen. Doch so lange wollte er seine Haut lieber ungelocht lassen.
Er warf die leere Konservenbüchse aus dem Fenster über die Straße. Als sie gegenüber abprallte, hüpfte die obere Halbkugel eines an beiden Enden abgerundeten silbernen Zylinders in die Höhe, zwei kalte Linsen richteten sich auf die Dose, maßen das Ziel aus, und eine Zehntelsekunde später rieselten Metallsplitter auf die Erde. So machte sie das immer, egal was man ihr entgegen warf. Konservendosen, Teddybären oder alte Zeitungen. Die Maschine reagierte immer gleich, niemals schien ihre Reaktion langsamer zu werden. Man musste die Gegenstände nur einige Sekunden lang in der Hand halten, bis sie die Körperwärme angenommen hatte; auf kalte Dosen schoss die Maschine nämlich nicht.
Jetzt schnell. Robert flitzte aus dem Zimmer und machte sich auf den Weg über die Dächer nach unten. Während das Echo der Schüsse noch durch die Straße hallte, suchten die Linsen nach dem Ausgangspunkt des Wurfes. Schließlich entschieden elektronische Reflexe, eine Granate in das Fenster zu schießen, aus dem Robert herausgeschaut hatte.
Noch auf der Rückseite des Hauses konnte Robert die Detonation spüren, in der die Skelette nebst der Küche zu Staub verwandelt wurden. Während er die Treppe im Nachbargebäude hinunter kletterte, waren die Sensoren des mannshohen Metallgebildes noch zu gestört, um ihn zu orten.
Durch verschiedene Kellerräume schlich Robert sich aus dem Wahrnehmungsbereich der Sensoren. So bewegte er sich unterirdisch durch die Stadt, was oftmals leichter fiel, als über die hohen Schuttberge in den Straßen zu klettern. Als er nach einer kleinen Wanderung durch die ausgetrocknete Kanalisation wieder an die Oberfläche stieß, befand er sich in einem ihm unbekannten Bereich der Stadt, was nicht heißen sollte, dass er noch nie zuvor hier gewesen war. Auch einem der früheren Bewohner dieses Stadtteils wäre das Gelände mit all den Trümmern nun völlig fremd erschienen.
Fluchend kroch er aus dem engen Schacht an das grelle Tageslicht. Er zog den Hut tiefer in Stirn. Am Anfang hatte er sich oft böse Sonnenbrände geholt. Er hatte dabei nie direkt an die Strahlung gedacht. Er konnte sich sowieso nicht vorstellen, dass der Tod soviel anders sein sollte als sein momentanes Leben. So marschierte er die Straße hinunter, den Augenblick nutzend, einmal nicht an den verdammten Killerroboter zu denken, das metallene Riesenzäpfchen, das alles daransetzte, ihn vom Angesicht des Planeten zu wischen. Diese viel gepriesene Erfindung, die die Menschheit endlich von der Inhumanität des Tötens im Krieg befreien sollte. Maschinen konnten nicht leiden. Doch mit den Verbesserungen der Modelle kam ein krankes Hirn auf die Idee, jene eiskalten Mördermaschinen auf Menschen zu programmieren. Die Situation eskalierte mit der Konsequenz, dass sogar er, der letzte Mensch, irgendwann diesem scheinbar unbesiegbaren Mechanismus unterliegen würde, der dann als bittere Quintessenz einer bedenkenlosen Technokratie die Herrschaft über diesen Planeten anträte.
Pfeifend machte er sich an seine seit drei Monaten wichtigste Tagesarbeit: zu Überleben.
***
Die Maschine schwebte still inmitten ihres Antigrav-Feldes und wartete auf Informationen der Spionageaugen über der Stadt, von denen noch immer einige aktiv waren. Währenddessen sendete sie ständig Nachschubanfragen an tote Empfänger in der Einsatzzentrale. Beinahe alle Munitionsspeicher standen auf Reserve, nur die Energieeinheit arbeitete zuverlässig, so wie sie es noch viele Jahre tun würde. Ja, sie war der Stolz ihres Entwicklungsteams gewesen, der völlig unabhängig entscheidende Maschinenpolizist, der flexibel, skrupellos und absolut unbestechlich seine Arbeit verrichtete. Das hatten viele Menschen bereits erfahren müssen.
Der obere, abgerundete Teil des Metallkörpers hob sich wie der Deckel einer Mülltonne zehn Zentimeter in die Höhe, zwei Infrarotaugen vollführten einen blitzschnellen Kreis, dann schloss sich der Deckel nahtlos. Die Außenhülle der Maschine bestand aus vielen Ringen verschiedener Breite, die an jeder Fuge auseinander geschoben werden konnten, um die unterschiedlichen Waffensysteme, Abtaster oder Füllstutzen freizugeben. Die Ladeschächte waren schon lange nicht mehr geöffnet worden, genau wie die akustische Kommunikationseinheit, deren Elektronik vergeblich auf das mit irgendeinem Konstrukteurshirn verfaulte Kodewort zur Deaktivierung wartete.
Die als Antenne dienende, spiegelnde Außenhülle fing eine Nachricht des hiesigen Spionageauges auf, das ein Infrarotsignal passender Wärme geortete hatte. Es bewegte sich vom augenblicklichen Standort der Maschine fort.
Die Maschine interpretierte. Schaltkreise wurden aktiviert. Der Antigravantrieb, der die gesamte Materie in seinem Feld schwerelos hielt, bewegte den anderthalb Tonnen wiegenden Metallkörper leicht wie eine Feder. Die Jagd hatte begonnen. Das Opfer war gefunden. Wie jeden Tag.
***
Vorsichtig ging Robert die Straße hinunter, immer im Schatten der Gebäude und so dicht, wie die Schutthalden es erlaubten, an den Außenwänden entlang. Dies hier war anscheinend ein etwas wohlhabenderes Viertel gewesen. Private Tiefgaragen öffneten ihre Mäuler unter höchstens dreistöckigen Wohngebäuden. 'Wahrscheinlich ein Regierungsviertel', dachte Robert, und beschloss, so bald wie möglich hier zu verschwinden. Die relativ niedrigen Häuser boten einfach keinen Schutz vor dem Granatwerfer der Maschine. Ab dem vierzehnten Stockwerk konnte er sich sicher fühlen.
Ein Schild mit dem Hinweis auf Militärgelände erweckte seine Aufmerksamkeit. Vielleicht gab es hier Dinge, die etwas gegen die Panzerung der Maschine ausrichten konnten? Er kannte sich zwar nicht mit Waffen aus, aber schlimmer konnte es auch nicht werden. Mit der Einführung der allgegenwärtigen Roboterpolizisten waren natürlich sämtliche Schusswaffen in Privatbesitz abgeschafft worden. Auch der illegale Waffenbesitz ging stark zurück. Maschinen, die dermaßen endgültig auf jedwede Aggression reagierten, reizte man besser nicht.
Er brauchte eine ferngelenkte Rakete oder so etwas.
Das Gelände öffnete sich auf eine betonierte Fläche, die offenbar den ehemaligen Exerzierplatz darstellte. Am Rande des Platzes führte eine Betonrampe in die Tiefe. Robert überquerte vorsichtig die offene Fläche und ging hinunter. Wenn sich irgendwo Waffen befänden, dann bestimmt hier. In der automatischen Schiebetür am Fuße der Rampe steckte ein mumifizierter Soldat. Mit Hilfe des Oberschenkelknochens hebelte er die Tür einen Spalt weiter auf und quetschte sich in das stockdunkle Innere des Bunkers. Er zog die Dynamotaschenlampe aus dem Rucksack und betätigte rhythmisch den Hebel. Vor ihm öffnete sich ein Gang mit mehreren schweren Eisentüren. Sie alle widerstanden seinen Öffnungsversuchen, so dass Robert die schmale Wendeltreppe am Ende des Ganges hinuntersteigen musste, um weiter zu suchen. Hier sah die Sache erfolgversprechender aus. Offenbar hatte eine Explosion die meisten Türen nebst dem größten Teil der Wände einfach weggerissen. Robert blickte in die verwüsteten Werkstätten. Er sah Stücke jenes glänzenden Metalls, aus dem die Außenhülle der Maschine bestand. Überall in den Wänden steckten sie, schimmerten bläulich im pulsierenden Licht der Taschenlampe. Nichts Verwertbares war hier mehr zu finden, doch es gab noch eine relativ unversehrte Tür auf der anderen Seite des Ganges. Dem kleinen Ausbruch roher Gewalt seitens Robert gab das morsche Schloss schnell nach. Dabei fiel die Lampe zu Boden. Es wurde stockdunkel. Robert fand sie erst nach einigem Suchen mit wild klopfendem Herzen wieder. Erleichtert pumpte er Strom durch die Glühlampe.
Der Lichtstrahl fiel über große Schalttafeln durch eine Glasfront und verlor sich im Dunkel dahinter. Ein paar rote Kontrollleuchten glommen in der Düsternis. Gab es hier etwa noch Strom? Robert tastete über die Wand neben der Tür und berührte den Lichtschalter. Hunderte von Leuchtstoffröhren erwachten blitzend und flackernd zu neuem Leben. Die riesige Halle hinter der Glasfront wurde taghell erleuchtet. Sensoren bemerkten die Lichtemission und große Relais schalteten, pressten Elektronen in verstaubte Computerplatinen. Hätte er nur eher geahnt, dass sich hier noch eine Energiequelle befand. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, blickte er von einem Kontrollstand aus in einen Raum von etwa Fußballfeldgröße, der mit Hunderten von etwa mannshohen, oben und unten abgerundeten Zylindern gefüllt war.
"Gütiger...!", entfuhr es ihm. Er schluckte.
Sie hingen deaktiviert in ihren Ständern, wie eine sorgfältig arrangierte Legion von riesigen Depotkapseln. Computerkabel zogen sich wie Spinnweben durch den Saal. Alle Killerroboter schienen unversehrt. Robert lief ein kalter Schauer über den Rücken angesichts der vielen Zwillinge seines Verfolgers.
Die Schaltpulte erwachten zum Leben. Robert erinnerte sich an solche Geräte, sie waren weitgehend standardisiert. Schnell erfasste er die Lage, ein Knopfdruck von ihm, und er konnte jede beliebige Maschine der Halle zum Menschenjäger machen.
Aus dem Augenwinkel sah Robert, wie sich in der Halle etwas bewegte. Voll Panik wanderten seine Blicke über die Reihen der glänzenden Gebilde, erwarteten jeden Augenblick die auf ihn zufliegende Granate. Doch Erleichterung überkam ihn, als er die kleine Wartungsmaschine erblickte, die einen dünnen Ölfilm über die Metallhüllen der Roboter sprühte. Er sah ihr einige Zeit zu, wie einem kleinen Haustier, das man beim Spielen beobachtet, dann durchsuchte er den Kontrollraum. Er fand nichts Brauchbares. Wenn hier Waffen waren, dann erkannte er sie nicht als solche.
Als er den Raum verließ, schaltete er das Licht und die Geräte wieder aus.
Robert, der sich im Dunkeln, in der Gegenwart jener Maschinen, jetzt nicht mehr so wohl fühlte wie auf dem weg hinunter, machte dass er von hier fort kam.
***
Es war von einer surrealen Schönheit, wie die Maschine, glänzend und perfekt geformt, durch das Chaos der Schutthalden in den Straßen schwebte; unbeirrbar in Roberts Richtung. Ab und zu wich sie größeren Trümmerstücken aus, ohne dass sie ihre Hochachse neigte. Segmente in verschiedenen Körperhöhen schoben sich auseinander, Linsen beobachteten die Umgebung und zogen sich wieder ins dunkle Innere des Körpers zurück. Auf die Außenhülle prasselte ein elektronischer Regen aus Positionsangaben des Infrarotsignals, das unter der Erde verschwunden war. In den Stadtplänen im Speicher der Maschine war diese Position mit einem Querverweis auf Munition und Wartung versehen. Durch die Annäherung des BiObs, wie Menschen in der militärisch-verharmlosenden Operationssprache der Maschine bezeichnet wurden, an eine strategische Position wurde seine Ausschaltung in der Prioritätsliste an die erste Stelle gesetzt. Sich urplötzlich mit Höchstgeschwindigkeit bewegend, stieß die Maschine an einem früheren Bordstein an. Das war an sich kein weltbewegender Vorgang, nur eine automatische Neukalibrierung des Antigravfeldes wurde ausgelöst. Die makellose Außenhülle zierte nun ein kleiner Kratzer.
Der Weg ins Militärviertel der Stadt war nur eine Sache von Minuten, dann stand die Maschine an dem metallenen Tor des Komplexes und gab automatisch ihre Kennung und Auftragsnummer. Das Fehlen des Antwortsignals hielt ihre Kommunikationseinheit nur kurz auf, denn die Richtlinien sahen Kontrollen durch Menschen nur zu Wartungsarbeiten vor. Die Infrarotsensoren hatten längst auf Ortsbetrieb geschaltet, doch als die Maschine auf ihr Ziel zu schwebte, bewegte sich nichts an der angegebenen Position.
***
Als Robert am Ende der Rampe ankam, veranlasste ihn ein leichtes Kribbeln in den Nackenhaaren einen Moment lang hinter der Einfassungsmauer stehenzubleiben und sich umzusehen. Die Maschine? Normalerweise reichte ein solches Ablenkungsmanöver wie heute morgen aus, sie bis zum nächsten Tag über seine Position im Dunkeln zu lassen.
Vorsichtig spähte er um die Mauerecke und sein Herz blieb fast stehen, als er die Maschine nur etwa 200 Meter entfernt auf sich zukommen sah. Zwischen ihm und ihr war nichts außer glattem, mit Unkraut durchwachsenen Asphalt. Panik brause durch seinen Körper. Ob er es noch einmal schaffen würde, ihr davonzulaufen? Langsam kam sie auf ihn zu. Robert blickte sich um. Wenn er auf das Hochhaus dort am Ende des Platzes zu laufen würde, dann bliebe die Mauer noch eine ganze Weile zwischen ihm und der Maschine. Er überlegte nicht lange. Er legte seine Tasche ab; die Ausrüstung würde ihn nur behindern. Dann rannte er los.
***
Die Maschine erhielt nur noch stockend Informationen des Spionageauges, das wahrscheinlich auch erhebliche Hardwareschäden aufwies. Sie schaltete die Empfänger ab und begann das Gelände optisch abzutasten. Die Geräuschsensoren sprangen an. Die Intervallänge entsprach menschlichen Schritten, die Geräuschquelle entfernte sich. Die Kameras kreisten. Nichts war zu sehen. Die Maschine bewegte sich schnell auf die Einfassungsmauer des Bunkereingangs zu, damit sie das ganze Gelände erfassen konnte. Das Geräusch war immer noch da. Sie umrundete das Ende der Mauer.
***
Robert hörte das dumpfe Plopp des Gewehrschalldämpfers erst nachdem das Projektil direkt an seinem linken Ohr vorbeigepfiffen war. Eine dünne Bahn Haare war einfach weggerissen worden und seine Kopfhaut begann an der Stelle zu brennen. Er schlug einen Haken. Das nächste Projektil verbrannte seinen Nacken. Er dachte kurz an das verstellte Visier der Maschine. Er warf sich in den Eingang als der dritte Schuss neben ihm einen großen Putzbrocken aus der Wand sprengte. Die Splitter rissen seine linke Wange auf, aber er beachtete es gar nicht und hetzte die Treppe nach oben.
Auf dem zweiten Absatz lag ein toter Soldat. An seiner Uniform hing eine Granate. Robert nahm sie ohne genau zu wissen wieso. Er brauchte einfach ein kleines Gefühl, der Maschine nicht hilflos gegenüberzustehen, selbst wenn ihm völlig klar war, dass er damit nichts gegen sie unternehmen konnte. Er rannte weiter die Treppen hinauf. Auf dem vierten Absatz angekommen, blieb er schnaufend stehen. Unten konnte er den Roboter hören.
Eine geschlechtslose Stimme hallte durch das Treppenhaus:
"Jeder Widerstand ist zwecklos. Sie haben sich der Gebietsverletzung einer Militäranlage schuldig gemacht und ihrer Verhaftung widersetzt. Nach Paragraph 210 der Notstandsverfügung steht darauf die Todesstrafe. Jeder Widerstand ist zwecklos..."
Er wusste, dass sie das noch zweimal wiederholen würde, bevor sie ihn weiter verfolgte. Aber diese Stimme...
Er holte tief Luft und gewann ein weiteres Stockwerk an Vorsprung. Die körperliche Anstrengung verdrängte langsam das Adrenalin aus seinen Adern und er konnte etwas ruhiger denken. Schon öfter war er der Maschine erst im letzten Augenblick entkommen, was zum Teil daran lag, dass deren Pläne der Stadt noch aus der Zeit vor der Zerstörung stammten. Und das Gesicht der Stadt hatte sich erheblich verändert. Außerdem hielt sich die Maschine immer noch an Verkehrsregeln. Eine Einbahnstraße setzte ihre Geschwindigkeit auf Fußgängertempo herab. Infolgedessen kannte er inzwischen jede Einbahnstraße der Stadt.
"...Todesstrafe!"
Robert konnte ein Lachen nicht zurückhalten. Im Grunde war er schon tot. Der Tod bestand nämlich nicht nur aus dem individuellen Lebensende. Nein, er konnte auch aus dem Lebensende aller anderen Menschen bestehen. Das Ergebnis war in beiden Fällen das gleiche. Robert war nur noch nicht klar geworden, ob er sich im Himmel oder in der Hölle befand. Er hatte lange Zeit zur Hölle tendiert, aber aus seinen Träumen wusste er, dass es noch schlimmere Orte gab.
Von unten hörte er jetzt Geräusche. Als ob etwas Schweres irgendwo an die Wand stieß. Die Maschine. Sie konnte natürlich Treppen steigen. Einen Augenblick hatte sich Robert der Illusion hingegeben, sie könnte es inzwischen verlernt haben, nachdem es kaum noch intakte Treppen gab. Er hetzte weiter, und blieb dann plötzlich stehen.
Was sollte das eigentlich alles? Fast war er versucht, sich von ihr erlösen zu lassen, die Flucht aufzugeben. Er ballte die Fäuste.
Die Granate lag schwer in seiner Hand. Das Metall war ganz warm geworden und hatte auf einmal viel von seiner Bösartigkeit verloren. Robert starrte auf den Sicherungssplint. Er trat an das Treppengeländer heran und sah in die Tiefe. Dort unten war sie irgendwo. Der Splint glitt ganz leicht heraus. Er ließ den Bügel los und an der Oberseite begann eine Digitalanzeige von Fünf her rückwärts zu zählen. Bei Drei ließ er die Granate einfach in den Treppenschacht fallen und schaute ihr hinterher.
'So wie früher', dachte er, 'als wir immer Wasserbomben aus dem dritten Stock geworfen haben.'
Wie in Zeitlupe schwebte die Granate genau senkrecht durch den Treppenschacht. Die Digitalanzeige zeigte nach oben und zeigte erst 'Zwei', dann 'Eins' ...
Er zuckte zurück, wie aus einem Traum erwacht, riss den Mund auf und hielt sich die Ohren zu. Keinen Augenblick zu früh.
KA-WAPP!
Es war kein hörbarer Knall, eher wie ein Schlag, der ihn bis in die einzelnen Fasern erschütterte. Ein Staubstrahl schoss durch den Treppenschacht nach oben. Robert wurde zu Boden geworfen und rollte ein paar Stufen hinunter. Betonstaub rieselte auf ihn herab und bedeckte ihn mit einer grauen Schicht. Seine Ohren fiepten, als er die Hände herunter nahm. Er hustete, denn vor Schreck hatte er eingeatmet. Zwischen seinen Zähnen knirschte es. Er spuckte auf den Boden, starrte einen Moment auf den nassen Fleck und fing dann plötzlich an zu kichern. Bei Gott, das war vielleicht ein Knall gewesen. Froh darüber, sein Experiment überlebt zu haben, lachte Robert laut und krampfhaft. Dann knirschte etwas unten und von einer Sekunde auf die andere blieb ihm sein Gelächter im Hals stecken. Sie war noch da. Er hastete zum Geländer und blickte nach unten. Drei Stockwerke unter ihm war gähnende Leere. Es hatte die Absätze des ersten und zweiten Stockwerkes total weggerissen, gerade dort wo sich die Maschine befunden haben musste. Doch sie war nicht zerstört worden.
"Mann!", ärgerte sich Robert, als er den intakten Roboter im Erdgeschoss schweben sah. Er biss sich sogleich auf die Lippen, als ihm klar wurde, dass er mit derlei unbedachten Äußerungen seinen Standort verriet, doch die Maschine reagierte nicht. Offenbar hatte sie doch etwas abgekriegt.
***
Sie war tüchtig durchgeschüttelt worden, aber dank der Panzerung waren ihre Innereien gut geschützt. Ihre eigene Massenträgheit und die auftreffenden Mauerstücke hatten sie dennoch leicht beschädigt, und so waren ihre Systeme einige Sekunden lang damit beschäftigt, sich gegenseitig zu checken, bevor sie sich wieder ganz dem flüchtigen BiOb widmen konnte. Dann sah sie sich um. Die Treppe war offensichtlich zerstört. Der Antigravantrieb war zwar prinzipiell zum Fliegen geeignet, aber die Maschine war ein Straßenmodell. Flugmodelle waren weit seltener gewesen, wahrscheinlich deswegen, weil es eben wenig fliegende Menschen gab, die man im Auge behalten musste. Die Maschine suchte nach einem anderen Weg, dem Flüchtling zu folgen und fand ihn nach wenigen Sekunden. Da hier auf dem Gelände die Kraftstation offenbar noch Energie lieferte, funktionierte auch der Fahrstuhl. Sie machte sich daran, die Reste der Treppe vom Eingang des Fahrstuhls zu entfernen.
***
Robert sah, wie die Maschine ein paar Greifer aus einem Segment schob und große Brocken von der Fahrstuhltür wegschob. Er wunderte sich nur so lange, bis er auf den Fahrstuhl in seinem Stockwerk blickte und ihm der leuchtende Rufknopf ins Auge stach. 'Aus. Jetzt war es aus', dachte er betäubt, während er sich instinktiv auf der Treppe nach oben bewegte. Er hoffte, noch ein bisschen Zeit zu gewinnen, und so drückte er in jedem Stockwerk auf den Rufknopf. Im zwölften Stock war die Treppe zu Ende, und nur noch eine schmale Stahltür führte in das Maschinenhaus des Fahrstuhls. Robert überlegte fieberhaft. Er lief hin und her, wie ein eingeschlossenes Raubtier. Er war völlig in die Enge getrieben, und eine Träne der Angst lief ihm über die zitternde Wange.
"Verdammt", flüsterte er heiser, "verdammt, verdammt, verdammt!"
Auf einmal begann der Elektromotor des Fahrstuhls hinter der Tür zu wimmern, zog Roberts Verhängnis nach oben und hielt im drian. Die Türen öffneten sich, aber niemand stieg ein. Sie schlossen sich wieder und der Fahrstuhl fuhr erneut an.
Robert rannte zur Stahltür. Unverschlossen. Er trat in den kleinen, dunklen Raum, sah das große, eiserne Speichenrad, über welches das Stahlseil des Fahrstuhls lief. Gerade fuhr es wieder an. Auf einem Schaltbrett erschien eine Vier, dann eine Fünf und der Motor stoppte. Vielleicht konnte er die Maschine einschließen. Hinter der Tür gab es eine Feueraxt mit einem Holzstiel. Ob das hielt? Er riss die Axt aus der Halterung und steckte sie in die Speichen der Kabelrolle. Der Motor startete und der Stiel zerbrach wie ein Streichholz. Beide Teile der Axt verschwanden im Fahrstuhlschacht. Der Kopf durchschlug das Oberlicht der Kabine und prallte an der silbrigen Legierung des Roboters ab, ohne nennenswerte Kratzer zu hinterlassen. Robert fluchte. Er wandte sich dem Kontrollpaneel zu. Irgendwie musste man das Ding doch abschalten können. Doch das Schaltfeld hatte kaum Bedienelemente. Nichtmal einen Not-Aus Schalter. Die Sechs leuchtete kurz auf, dann die Sieben. Robert wusste, dass die Zeit immer knapper wurde, doch ihm kam kein rettender Gedanke. Wahllos schlug er auf einen Schlüsselschalter, der sich überraschenderweise eindrücken ließ. 'Express Down' verkündete ein Leuchtfeld. Was war das nun wieder? Robert wusste, dass es bei Notfällen in sehr hohen Häusern eine Möglichkeit gab, den Fahrstuhl ohne Insassen im freien Fall ins Erdgeschoss zu bringen, um einem Rettungsteam den schnellen Aufstieg zu ermöglichen. Das ging natürlich nicht, wenn der Fahrstuhl gerade besetzt war. Er drückte den Knopf trotzdem. Nichts geschah. Er suchte weiter, fand die Stromkabel, aber sie waren zu dick, um sie abzureißen. Die Axt war ja nun im Fahrstuhl und seine Ausrüstung lag unten auf dem Platz. 'Schöne Scheiße', dachte er. Suchend wanderte sein Blick durch den kleinen Raum. 'Acht', sagte die Leuchtanzeige. Er rüttelte an den Verstrebungen der Maschinenaufhängung. Alles festgeschweißt. Er suchte irgendetwas zum Blockieren des Antriebes, überlegte kurz, ob er hineinpinkeln sollte um einen Kurzschluss zu verursachen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. 'Neun'. Sein Blick blieb wieder an dem 'Express Down'- Schild hängen. Das wäre was, aber leider war die Funktion ja gesperrt, wenn sich jemand im Fahrstuhl befand. Erst jetzt bemerkte er ein weiteres Lämpchen. Es hatte sich wohl erst später eingeschaltet, nachdem er den Schlüsselschalter betätigt hatte. 'Empty' blinkte es wiederholt.
'Leerfahrt, wieso Leerfahrt?'
Robert blickte in den Schacht und sah durch das zerbrochene Oberlicht den silbrigen Körper der Maschine in der Kabine schweben, die jetzt im elften Stock hielt. War das eine Fehlfunktion? Er sah doch, das der Fahrstuhl besetzt war. Die Elf verlöschte, als der Fahrstuhl anfuhr. Sekunden später leuchtete die Zwölf auf. Robert wollte gerade in einem verzweifelten Fluchtversuch die Treppe wieder hinunterlaufen, als ihm plötzlich alles klar wurde. Er stürzte zum Schaltpaneel und drückte 'Express Down'. Der Schalter war nicht blockiert und die halbgeöffneten Türen der Kabine schlossen sich sofort wieder. Das Getriebe klinkte sich aus, und der Fahrstuhl verschwand im freien Fall in der dunklen Tiefe des Schachtes. Robert hielt die Luft an. Seine Blitztheorie schien zu stimmen:
Da die Maschine ein reaktionsloses Antigravfeld aufbaute, übte sie auch keinerlei Kräfte auf ihren Untergrund aus, sondern regelte nur den Abstand in Richtung des Gravitationsvektors nach. Die Steuerungsanlage stellte das Vorhandensein von Personen im Fahrstuhl aber mit einer Waage fest, da das die einfachste Methode zur Verhinderung von Überlastung war. So war der Fahrstuhl für das Steuerwerk natürlich 'Leer', und die 'Express-Down' Funktion konnte ausgelöst werden.
***
Die Maschine war verwirrt. Die Türen hatten sich plötzlich geschlossen und das Licht war ausgegangen. Die Antigraveinheit bemerkte, dass der Betrag des Gravitationsvektors trotz konstantem Abstand zum Boden der Kabine schnell kleiner wurde, und schließlich ganz verschwand. Schnell regelte sie das Feld herunter, bis es fast ganz verschwunden war. Schwerelosigkeit. Weil sie eine Maschine war, wunderte sie sich nicht. Sie startete ein Gyroskop um ihre Lage stabil zu halten und schaltete das Antigravitationsfeld ab, um Energie zu sparen. Immer wieder maß sie den Abstand zum Boden, doch der hatte sich nicht verändert. Nichts in ihrer Umgebung deutete auf ungewöhnliche Vorkommnisse hin.
Die Kabine raste im freien Fall in die Tiefe. Im ersten Stock hakten die Bremsen ein, und verzögerten den Fall bis zur Grenze der Kabinenbelastbarkeit. Die Maschine bemerkte, dass der Gravitationsvektor plötzlich wieder da war, allerdings mit unglaublichem Betrag. Es traf sie völlig unvorbereitet. Die Antigraveinheit im Boden Ihrer Hülle hatte gerade angefangen, ein Feld aufzubauen, da wurde sie auch schon von den ungebremst herabsausenden eigenen Innereien fast vollständig pulverisiert. Der silberne Kokon platzte unten auf wie eine überreife Frucht und verteilte eine Menge plötzlich sehr schwer gewordenen Schrotts in der Kabine. Nur der robuste Havariemelder begann sein Notsignal an taube Antennen zu senden.
Robert zitterten die Knie.
Er hatte das böse Krachen aus der Tiefe gehört, aber war sein Verfolger jetzt zerstört? Mit zitternden Knien kletterte er in die Tiefe, über die fast völlig zerstörte Treppe in den unteren Stockwerken hinweg und stand kurze Zeit später vor der leicht ausgebeulten Fahrstuhltür. Er legte ein Ohr an die kühle Stahlfläche und horchte gespannt. aus dem Inneren drang kein Laut. Vielleicht lauerte sie nur auf ihn. Er griff sich kurzentschlossen ein Stück Armiereisen und hebelte die Tür einen Spalt auf. Ein wenig Rauch quoll heraus. Er ging zurück auf den Hof und holte sein Zeug von der Mauer. Dann nahm er die Dynamotaschenlampe und leuchtete durch den handbreiten Schlitz in das Innere.
In der Mitte der Kabine schwebte ein kleiner, undefinierbarer Haufen Metalls um den Kern des Antigrav-Generators. Der Rest des Roboterkörpers hatte sich über den schwerelosen Teil gestülpt, bis der Generator wieder oben durch die Kappe gestoßen war. Nichts rührte sich. Auch als Robert mit der Eisenstange in den Trümmern herumstocherte, bewegte sich nichts.
"Kaputt!", grinste er, und aus dem Grinsen wurde ein Lächeln, aus dem Lächeln ein Lachen, aus dem Lachen ein Gelächter und aus dem Gelächter ein haltloses Schluchzen, auf dem die Spannung der letzten Monate von ihm herunterfloss.
Zwei Tage später war ihm immer noch fröhlich zumute, als er durch die leeren, staubigen Straßen ging und den Gebäuden in die gähnenden Fenster blickte. Er war jetzt Herr dieser Welt, fühlte, wie die Spionageaugen ihn beobachteten und registrierten, konnte beinahe die unsichtbaren Befehle sehen, die sie durch den Äther an seine Häscher sendeten, aber sie waren so machtlos, und sie konnten ihm völlig egal sein. Er hatte angefangen, im Freien, an völlig ungeschützten Plätzen zu schlafen, dort, wo ihn die Maschine sofort gefunden hätte. Er aß unter freiem Himmel, sang und schrie, wenn er auf den Straßen unterwegs war und zündete sogar Feuer an. Und langsam, ganz allmählich bemerkte er, dass er nicht wusste, wozu er noch lebte. Welchen Sinn besaß ein Leben, das nur Selbstzweck war?
Erschreckt bemerkte er, dass er sich langweilte. War seine Todesangst, die Flucht und das Verstecken etwa schöner gewesen als das Leben jetzt? Er dachte auch an seine vielen Tricks und Kniffe, mit denen er die Maschine so lange an der Nase herumgeführt hatte, an die Adrenalinstöße, die ihn jedesmal heiß und kalt beim Klang der Lautsprecherstimme durchflutet hatten, an das süße Entzücken über sein Entkommen...
Zwei Tage lang döste er auf einer Bank im Park, um sich herum nichts als hohes Gras, das im Wind raschelte, dann stand er auf und ging davon. Ohne es wirklich zu merken, schlug er die Richtung auf das Hochhaus ein, in dem die letzte Entscheidung stattgefunden hatte. Er stieg hinab in das Kellergewölbe auf dem Exerzierplatz und fand sich im Kontrollraum der Hangarhalle wieder. Fast automatisch stattete er eine Servoeinheit mit Energie und Munition aus. Er schaute lange auf die silberne, zylindrische Kapsel, mit den Ringsegementen, dann drückte er den Knopf mit der Aufschrift "ACTIVATE" und beobachtete, wie die Maschine langsam im Aufzug nach oben glitt. Auf einem kleinen Bildschirm erschien eine Nachricht:
UNIT: YU-42... activated!
"Nun gut", sprach er zu sich selbst, als er das Licht ausknipste und den Hangar verließ, "Diesmal kenne ich wenigstens Deinen Namen."