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Diesseitiges Jenseits
Sie will, dass es eine Liebesgeschichte wird. Es wird aber keine.
Diese Geschichte handelt vom Töten, dem getötet werden - und dem Tod.
Der Tod kommt nur am Rande vor, der lauert ja immer nur am Rande. Erst wenn alles zu spät ist, tritt er kurz in Erscheinung, tut, was er tun muss und begibt sich wieder in Lauer-Position.
Ist eigentlich nichts Besonderes, was er da macht. Okay, diesen Trick mit dem Abtrennen des Seelenfadens und so, das hat er drauf wie kein anderer. Also ich mein, das kann tatsächlich kein anderer.
Die wahre Kunst ist doch aber das Töten. Und darin bin ich ziemlich gut.
Der Tod räumt im Prinzip nur hinter mir auf: Säubert die erschlafften Körper von ihren Seelen. Weswegen ich ihn auch lieber den Schnitter nenne. Viel passender. Weil töten, das macht der gar nicht, er schnibbelt nur die Seelen ab, wenn die Menschlein schon reglos daliegen. Abgemurkst von Kerlen wie mir.
Der Schnitter und ich, wir mögen uns nicht besonders.
Das liegt daran, dass unsere erste Begegnung - die normalerweise auch die einzige und letzte sein sollte - nicht nach dem üblichen Muster ablief: Als ich gestorben bin, hat der Schnitter versagt.
So sehr er auch seine Sense strapazierte, er konnte meine Seele nicht abtrennen. Das muss ihn mächtig geärgert haben, ist schließlich sein Job, Seelen abschnibbeln. Wahrscheinlich wird er dafür bezahlt oder so. Ich kann mir das auch nur eingebildet haben, aber für einen Augenblick meinte ich zu sehen, wie ihm das ewige Grinsen entglitten ist.
Ein sehr bizarrer Anblick, wenn ein Totenschädel plötzlich aufhört zu grinsen, das sag ich euch. Werdet ihr wohl nie zu Gesicht bekommen, denn wenn eure Zeit abgelaufen ist und sich der Schnitter über euch beugt - wird er grinsen. Mein Blut drauf.
Es sei denn, ihr werdet von einem Vampir gebissen, aber das passiert selten.
Die aufmerksamen Leser werden es schon geahnt haben: Ich bin ein Vampir. Ja, uns gibt es wirklich. Also zumindest ein paar von uns. Wenige. Zum einen, weil es ziemlich kompliziert ist, einen Vampir zu erschaffen: Man muss den Menschen beißen und ihm fast das ganze Blut aussaugen. Das ist zwar der spaßige Teil, aber dummerweise so lecker, dass man meistens den Punkt verpasst, an dem man mit dem Saugen aufhören sollte. Etwas Stammblut muss nämlich noch im Körper verbleiben.
Wenn man das geschafft hat, folgt der weniger spaßige Teil: Man muss dem Sterbenden das eigene Blut einflößen. Viel sogar. Und viel Blut ist gleichzusetzen mit viel Schmerz. Tja, und das mit dem Schmerz ist so eine Sache. Wenn man ein Vampir ist, ist man keinen Schmerz mehr gewöhnt, weil man ja praktisch tot ist und nichts mehr fühlt. Was zur Folge hat, dass wir … ähm … ziemliche Memmen sind, was Schmerzen angeht. Und sich selbst die Pulsadern aufzuschlitzen und sich halb auszubluten - das tut wirklich weh! Dagegen ist erschießen, erstechen, vergiften und erhängen ausgenommen lahm. Das kann ich aus erster Hand berichten. Ist mir alles schon passiert. So manches Menschlein wehrt sich eben echt tapfer. Genutzt hat es aber bisher keinem Exemplar, am Ende erwische ich sie immer und der Tod kann sich ans Schnibbeln machen.
Wenn mir meine Opfer Schmerzen zufügen, verliere ich gelegentlich die Contenance. Der Tod hat dann stets so einen vorwurfsvollen Blick drauf, wenn er erst in den Fleischklumpen, die ich übrig gelassen habe, nach der Seele wühlen muss. Selten bietet der Tod Anlass zum Lachen, aber wie er dann in dem Matsch buddelt, das ist schon komisch.
Manchmal zerfetze ich ein Opfer nur, um den Tod zu ärgern. Nun ja, ich fühle mich danach kaum besser, denn eines muss man dem Schnitter lassen: Er ist verdammt cool. Lässt sich nichts anmerken. Nur dieser vorwurfsvolle Blick aus den Tiefen seiner Kapuze, ansonsten vollkommene Routine. Stumm wühlt er sich durch die Überreste, bis er die Seele findet und sie freischnibbeln kann.
Aber ich wette, es ärgert ihn trotzdem. Am meisten ärgert es ihn bestimmt, dass er mir nichts antun kann. Wir Vampire gehören eben zu den Untoten, das ist nicht sein Metier. Das Diesseitige Jenseits nenne ich es. Tot, aber unter den Lebenden. Ein herrlicher Spielplatz.
Was natürlich nicht heißt, dass wir unsterblich sind. Diese Geschichte mit dem Pflock und so, das klappt wirklich. Aber welcher Dämlack schläft auch tagsüber in einem Sarg und lässt sich von einem Holzsplitter pfählen?
Nein, richtig gefährlich sind andere Vampire. Und das ist ein weiterer Grund, weswegen wir selten Artgenossen erschaffen. Wer stellt schon gern Selbstschussanlagen in den eigenen Garten?
Wir lassen einander in Ruhe. Jeder hat so mehr oder weniger sein abgestecktes Revier und bleibt für sich.
Ich merke schon, ich bin ein bisschen ins Labern gekommen. Das ist vermutlich so eine Alterserscheinung. Wie haben mich damals meine Großeltern mit ihrem Geseier genervt. Und die sind nicht mal achtzig geworden. Mit dreihundertsiebenundfünfzig ist sowas verzeihlich, finde ich. Und außerdem sollte das ja nur vorbereiten auf die heftige Szene, die nun folgen wird. Nichts für schwache Gemüter, mein Blut drauf. Wer also noch aussteigen will, hat jetzt die Gelegenheit.
Immer noch dabei?
Ich habe euch gewarnt.
Mein Opfer kreischt. Sie kreischen immer. Das gehört zur Jagd dazu wie die dunkle Gasse, durch die ich sie treibe. Das macht es einfach prickelnder. Und prickeln muss es! Wie gesagt, das Töten ist eine Kunst und die Jagd ist quasi die Grundierung. Da mir ästhetische Kunst wichtig ist, lege ich Wert auf ansehnliche Opfer. Nicht weniger als Perfektion ist meiner Auswahl würdig. Das dauert, aber ich habe Zeit.
Zudem: Es ist weder klug zu viele Menschen zu reißen (weil man damit einen Mob aufwiegelt), noch ist es notwendig: Vom Blut eines ausgewachsenen Menschen kann man bis zu einem halben Jahr zehren.
Also hat man viel Zeit sich ein Opfer auszusuchen. Das Auge will ja schließlich auch bedient werden. Wie beim Sex. Und Blut zu saugen ist besser als Sex.
Das Blut von hübschen Frauen schmeckt nicht wirklich anders, aber es ist die Eroberung von Schönheit, die ein befriedigenderes Gefühl hinterlässt.
Ich meine, stellt euch den besten Sex vor, den ihr je hattet. Und jetzt stellt euch vor, ihr hättet diesen Sex mit einer Frau gehabt, die ihr euch normalerweise nicht einmal getrauen würdet, anzusprechen.
Wenn das für euch keinen Sinn ergibt, dann hattet ihr entweder noch nie richtig guten Sex, oder ihr habt keine Fantasie. Ich will mir gar nicht erst jenes jämmerliche Geschöpf vorstellen, auf das beides zutreffen könnte.
Nennt es von mir aus ein Laster: Ich bohre meine Zähne nur in makelloses Fleisch. Das habe ich bereits früher als Mensch so gehalten. Es ging um das Prickeln der Eroberung, um mehr nicht.
Einige Frauen haben das nicht so gut verkraftet. Auch Karina nicht. Sie war in vielen Belangen anders - besonders in einem - aber als ich ihr den Laufpass gab, war sie genauso am Boden zerstört, wie alle anderen vor ihr. Vielleicht könnt ihr euch meine Panik vorstellen, als sie sich als Vampir outete. Ich war sicher, sie bringt mich um. Aber nein - sie faselte ununterbrochen von wahrer Liebe. Unfassbar. Und sie war der Überzeugung (weibliche Vampire sind eben immer noch Frauen), wenn sie mich unsterblich macht, würde ich unsere Seelenverwandtschaft erkennen und für ewig an ihrer Seite bleiben.
Zugegeben, erst war es auch ganz spannend mit ihr durch die Nacht zu ziehen und gemeinsam Menschen anzuknabbern, aber wie schon zu Lebzeiten ließ das Prickeln bald nach. Als ich ihr irgendwann die Gurgel aufriss und mich in ihrem Blut badete, lebte das Prickeln kurz wieder auf.
Damals war ich noch recht jung, und als der Schnitter heranschwebte, da bekam ich es mit der Angst zu tun und verduftete, noch ehe er Karinas Seele abgetrennt hatte.
Mist, zum zweiten Mal ins Schwafeln gekommen. Zurück zur Action:
Mein Opfer schreit. Das Mädchen ist Mitte zwanzig, in der Blüte seiner Jahre und ich bin hinter ihm her, um es zu pflücken. Volle Lippen, auseinandergesprengt, um diese ebenso hohen wie hilflosen Schreie in die Dunkelheit zu stoßen. Große, sehr große Augen irren wild umher. Und wie entzückend diese Porzellanhaut vom lieblichen Rot der Angst gefärbt ist. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Aber gleich, wenn sie um die Ecke in die Sackgasse hetzt, kommt der Höhepunkt. In dem Moment, da die Ziegelwand ihre Flucht beendet, verglüht der letzte Hoffnungsfunken und die Angst schlägt in Panik um. Und die Panik, das sage ich euch, die Panik setzt einen einzigartigen Duft frei, süßer als jedes Parfüm, ein Aphrodisiakum, das seinesgleichen sucht.
Da verschwindet sie schon und ich bebe vor Verlangen. Gleich ... gleich ...
Den Sprung um die Ecke habe ich oft geübt. Ich weiß, wie eindrucksvoll es ist, wenn meine ganze Pracht plötzlich aus der Dunkelheit schießt, die Arme zu Klauen emporgerissen, flatternder Mantel hinter mir, die Reißzähne im Schein des Vollmondes entblößt (selbstredend zelebriere ich diesen Moment ausschließlich bei Vollmond), ein finales Fauchen ausstoßend ...
Diesmal ist es anders. Kein Herz, das zerspringen will, kein sich krümmendes Fräulein, und auch kein Panik-Bouquet. Stattdessen werden mir plötzlich die Beine weggerissen und ich stürze äußerst unelegant zu Boden. Auf dem Rücken liegend, wehre ich Krallen ab, die mein Gesicht zerfetzen wollen. Von der Schönheit des Mädchens ist wenig geblieben, es ist eine Furie und nun sind es ihre Reißzähne, die im Mondlicht aufblitzen.
Ihr Kreischen hat nichts Ängstliches mehr an sich, es ist ein Laut der Gier und des Triumphs. Nur unter Aufbietung all meiner Kräfte kann ich sie von mir stoßen. Doch bevor ich flüchten ... ich meine ... zum Gegenangriff übergehen kann, werde ich erneut zu Fall gebracht.
Ein spitzer Absatz bohrt sich in meinen Hals, nagelt mich am Boden fest. Jede Bewegung wird mit noch mehr Druck quittiert. Ich verharre regungslos und fokussiere die Gestalt, die mich von hinten überrascht hat.
Der Absatz gehört zu einem Stiletto, der einen vollendeten Fuß krönt. Dieser wiederum ist die Zierde eines scheinbar endlosen Traums von Bein. Über sündige Kurven führt mein Blick in ein Gesicht, das ich im Diesseitigen Jenseits am allerwenigsten wiederzusehen erwartet hätte.
»Wie ...?«, röchel ich.
»Du bist ja so leicht zu durchschauen«, lächelt Karina. »Ich wusste, dass du meinem Protegé nicht widerstehen können würdest. Sag hallo zu Aurelia.«
Das blonde Wunder baut sich neben Karina auf, leckt sich über die Lippen.
Eine diabolische Falle also. Anscheinend bin ich damals bei Karina nicht gründlich genug vorgegangen. Sie hätte sterben müssen, da bin ich ganz sicher. Das Kehle-Aufreißen habe ich schließlich von Karina selbst gelernt. Und sie war eine gute Lehrmeisterin. Vielleicht hat der Tod einen Deal mit ihr gemacht, um sich an mir zu rächen?
Nun, so wie es aussieht, werde ich ihn gleich fragen können.
Ich schließe die Augen und warte darauf, dass Karina den Absatz durch meine Kehle treibt.
Irgendwann komme ich mir etwas dämlich vor, so auf dem kalten Boden zu liegen und die Augen zusammenzukneifen - und linse durch einen Spalt zu Karina hinauf.
»Siehst du denn nicht, dass du die ganze Zeit über deine Opfer nach meinem Ebenbild erwählst?«
Sie zieht ihr Protegé zu sich - und tatsächlich ist eine, sagen wir, vage Ähnlichkeit zwischen den beiden auszumachen: Beide sehr weiblich gebaut, beide sehr blasse Haut, beide sehr ...
»In Wirklichkeit suchst du, die ganze Zeit über, mich. Kannst du das denn nicht erkennen?«
»Ja, also ... ähm, im Prinzip hast du ...«
»Tief in dir drin liebst du mich noch immer, das spüre ich.« Sie seufzt voller Inbrunst und ich muss dabei auf ihre Brüste starren.
»Ich gebe dir noch eine letzte Chance dich zu läutern.«
(Sagte ich schon, dass weibliche Vampire auch nur Frauen sind?)
Karina kettete mich in ein finsteres Verlies, gab mir einen Stift und Papier. Sie sagte, dass meine Verblendung so tief sitzt, dass ich nur durch das Schreiben die Blockade durchbrechen könnte. Nur, wenn ich am Ende meiner Buße einen allein ihr gewidmeten vollendeten Liebesbrief fertig hätte, aus dem die Liebe flammengleich hervorlodern-
Ich breche das an dieser Stelle mal ab, sonst muss ich wieder würgen.
Ihr Protegé stand bei diesen Worten grinsend neben ihr. In ihren Augen las ich meine eigene Gewissheit gespiegelt: Nur eine Person in dem Gemäuer war hier verblendet - und wir beide waren es nicht. Du wirst hier krepieren, lächelte ihr Blick.
»Als Zeichen meiner Liebe«, sagte Karina, »opfere ich dir Aurelia.«
»Karina, was ...?« Aurelias Aufbegehren ging in einem Gurgeln unter, als Karina ihr die Kehle aufriss.
»Höre auf dein Herz, Liebster«, flötete sie zum Abschied.
Vielleicht sagte sie auch noch mehr, aber in meiner Gier, in der ich über Aurelia herfiel, machte ich ziemliche Schmatzgeräusche, die alles Weitere ausblendeten.
Mit Aurelia schenkte Karina mir also sechs Monate, um meine Verblendung zu überwinden und die Sprache meines Herzens auf Papier fließen zu lassen.
Ich schrieb wie ein Weltmeister. Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat. Während der Stapel beschriebenen Papiers wuchs, nahm meine Kraft immer weiter ab. Morgen ist meine Frist abgelaufen. Ich fühle mich vollkommen ermattet - und das nicht, weil ich irgendwelche Flammen bändigen musste.
Gestern hat mich ein seltsam rasselnder Laut aus dem Schlaf geschreckt.
Am Rande meines Verlieses waren die Schatten in Bewegung. Am Rande, versteht ihr?
Doch anstatt seinen leeren Blick auf mich zu heften, krümmte sich der Schnitter über meinen Liebesbrief. Es dauerte einen Augenblick, bis ich einordnen konnte, was ich da hörte - der Tod kicherte.
Ich hätte mich gern auf ihn gestürzt, doch entkräftet wie ich war, brachte ich nur ein Wedeln zustande. Es muss ein beeindruckendes Wedeln gewesen sein, denn der Schnitter verschwand. Zuvor jedoch, zuvor, hat er etwas getan, das eigentlich unmöglich ist.
Und dieser Anblick lässt mich nicht mehr los, geistert wie ein optisches Echo in meinem Kopf, erzeugt dazu Rauschen von Flügelschlägen - und mit jedem Widerhall wächst die Gewissheit, dass mich diese Flügel morgen mit sich nehmen werden: Der Tod hat mir zugeblinzelt.