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Dieser verdammte Stein
Ich schließe ab, gehe zwei Schritte rückwärts auf den Gehweg und fahre vor Schreck zusammen.
»Mensch, passen se doch auf wo se hinlatschen!«
»Ups, sorry!«, antworte ich und trete zur Seite. Der Mann in seinem elektrischen Rollstuhl fährt kopfschüttelnd weiter. Ich sehe ihm nach und denke, musst du hier aufm Fußgängerweg rumrasen?, fühle mich aber sofort schlecht, weil ich gehen kann und er nicht. Währenddessen knallt die Sonne auf mich runter, das Shirt klebt noch stärker an meiner Haut als vorher.
Im nächsten Augenblick kehrt die gute Laune zurück – vor mir die breite Fensterfront, darüber der Name: Happa Happa. Mein bester Kumpel und neuerdings Geschäftspartner André lachte mich für den Vorschlag aus.
»Boa, Harm ey, das klingt echt total bescheuert! Da kannste direkt noch ’n Foto vom Hipp-Opa daneben kleben ... Slogan kennste ja. Tja, du lachst!«
Am Ende fand er auch, dass ein bisschen Humor nie schaden kann, wir die Leute damit anlocken und dann mit unserem guten Essen zu Stammkunden machen würden.
Nachdem wir wochenlang praktisch im Restaurant gelebt haben, ist gestern endlich alles fertig geworden. Ein freies Wochenende wollten wir uns vor der Eröffnung noch gönnen.
»Echt bewundernswert, Harm, ohne Scheiß.«
»Was’n?«
»Na ja, dass du die letzten freien Tage deines Lebens ...«, er zwinkerte mir übertrieben zu, »mit deinem Neffen verbringst. Ich werd mich mit Pizza und Bier eindecken und nicht mehr vom Sofa aufstehen.«
»Ach, ja, klingt echt verlockend. Aber du weißt ...«
»Klar, weiß ich doch. Bist ’n guter Onkel.«
»Und Patenonkel!«
»Jo! Wird echt Zeit, dass du dir ’ne Perle zulegst und eigene machst.«
»Tss … Perfekter Zeitpunkt grade.«
Das ist knappe neun Stunden her.
Ich vergewissere mich nochmal, dass ich den Stein im Rucksack verstaut habe. Mein Blick folgt der ruhigen Straße, in der Ferne biegt der Rollstuhlfahrer in eine Seitengasse ein. Dahinter, über den Dächern der Kleinstadt, die Wölbung der Erde Richtung Himmel, die Blätter der Bäume zu einer grellgrünen Fläche verschmolzen. Dazwischen und darüber das Braungrau der Felsen. Als würden sie es nicht dulden, dass etwas auf ihnen wächst.
Ich sehe mich schon mit meinem Neffen dort oben herumkraxeln, bei dem Gedanken fällt mir das Atmen schwerer. Vielleicht sollten wir stattdessen zum See fahren. Na ja, immerhin ist es im Wald schattig, mit etwas Glück weht da oben sogar ein Lüftchen.
»Wann gehen wir denn los, Onkel Harm?« Wilko steht am offenen Fenster meiner Dachgeschosswohnung und guckt Richtung Wald. Er sieht aus, als käme er grade aus dem Globetrotter, wo ihn seine Eltern einmal nackt ausgezogen und mit Outdoor-Klamotten wieder eingekleidet hätten. Als könnte man ohne das richtige Outfit nicht in die Natur gehen. Andererseits bekomme ich in dem Laden auch immer große Augen.
»Onkel Harm?«
»Hm? Ähm, na ja. Ich glaub ich muss noch ehm kurz das Essen verdauen – oder zumindest ’n Teil davon. Sonst komm ich da nicht hoch. Und ’ne Tasse Tee, die brauch ich auch noch. Willste auch eine?«
»Nee, lieber was Kaltes! Aber dann gehen wir los, oder?«
»Dann gehen wir los, versprochen!« Anfang dreißig und schon am Schwächeln, Mann Mann Mann, denke ich, und beweise mir selbst, dass ich noch aus dem Sessel hochkomme, um in der offenen Küche den Wasserkocher anzustellen. Ist sicher die harte Arbeit der letzten Wochen, die mir in den Gliedern steckt.
Das Geräusch eines Rasenmähers irgendwo aus der Siedlung erinnert mich daran, dass Samstagnachmittag ist, mitten im Juli. Ein wohliges Gefühl macht sich in mir breit, eine entfernte Assoziation mit der Kindheit, draußen spielen mit meinem Bruder, grillen im Garten mit unseren Eltern, danach wieder auf den Bolzplatz oder in den Wald, bis es dunkel wird. Dann pausiert der Rasenmäher und mit ihm meine Gedanken. Der Kopf freut sich über die Stille, bis die ersten Wassermoleküle im Kocher zu Gas werden und beim Aufsteigen implodieren. Total praktisch, so ein Physikstudium, besonders wenn man nach einem gefühlten Jahrhundert feststellt, dass man viel lieber mit seinem Kumpel ein Restaurant eröffnet.
Ich stelle eine mit Kondenswasser beschlagene Karaffe auf den Tisch, lasse mich wieder in den Sessel fallen und beobachte meinen Outdoor-Neffen, wie er auf dem Sofa kniet und raussieht.
»Onkel Harm«, flüstert Wilko und dreht sein Gesicht zu mir, »die Nachbarin singt wieder.«
Während ich ihm ein Glas Wasser einschenke, grinsen wir uns an. Mir war das Summen von Frau Marquardt gar nicht aufgefallen, erst jetzt merke ich die beruhigende Wirkung, die es immer auf mich hat. Von mir aus könnte sie den ganzen Tag lang im Garten Wäsche aufhängen oder im Beet rumwühlen.
Ich spüre, wie unter mir der Beton in Waldboden übergeht, sich meine Füße von Schuhen und Socken befreien wollen, um wie früher die Schichten aus Laub und lockerer Erde zu fühlen. Wir tauchen ein in den Schatten des Waldes.
»Wusstest du, dass ich hier immer mit deinem Vater gespielt hab? Als ich so in deinem Alter war?«
»Echt?«
»Ja, echt! Manchmal waren Opa und Oma auch dabei. Wir sind dann zum Wasserfall hoch und haben ein Picknick gemacht, so wie wir heute.«
»Können wir im Wasserfall baden?«
»Klar! Wobei – kann auch gut sein, dass der ausgetrocknet ist. Gucken wir dann.« Sieht alles ziemlich trocken aus hier. Bis auf die leuchtenden Blätter der Bäume, die sich das Wasser tief aus dem Boden ziehen.
»Okay. Habt ihr auch Edelsteine gesammelt?«
»Edelsteine? Nee. Gibt’s hier überhaupt so was?«
»Na ja, ich denke schon.«
»Vielleicht findste ja einen später.«
»Auja, das wäre cool!« Die Steigung nimmt langsam zu, der Weg schlängelt sich zwischen den Bäumen hindurch nach oben. »Weißt du, wie alt Edelsteine sein können?«
»Nee. Du?«
»Also die meisten sind viele Millionen Jahre alt. Manche sogar Milliarden Jahre, kannst du dir das vorstellen, Onkel Harm?«
»Kein Stück.«
»Ich auch nicht. Ich kann kaum glauben, dass Opa und Oma schon über siebzig sind. Und ich bin erst zehn! Wie soll ich mir dann Millionen vorstellen? Oder Milliarden … Oder, Onkel Harm?«
»Tja, weiß ich auch nicht. Glaube ehrlich gesagt nicht, dass sich Menschen solche Zahlen vorstellen können, nicht mal Millionäre.«
»Ich auch nicht.«
»Ist denn deine Sammlung in den letzten Wochen gewachsen?«
»Nö, der letzte war der Amethyst, der lilane. Ich wünsch mir ja einen Neuen!«
»Ach wirklich? Was‘n für einen?« Mein Körper gewöhnt sich an die Anstrengung, die Bewegung und die Waldluft tun gut.
»Lapislazuli heißt der.«
»Was’n abgefahrener Name!«
»Ja, das heißt blauer Stein. Und Blau ist ja auch meine Lieblingsfarbe, Himmelblau. Aber da sind noch so kleine goldene Punkte drin. Pyrit ist das. Sieht ein bisschen aus wie die Erde nachts, also – das hat mir Papa letztens gezeigt – wenn man die Erde aus dem Weltall anschaut, weißt du?«
»Klingt schön.«
»Ja, finde ich auch. Und weißt du was?«
»Nee?«
»In der Totenmaske des Tutanchamun waren auch Lapislazulis drin. Das ist nämlich ein magischer Stein!«
»Ach was, magisch! Vielleicht findest du ja hier so einen.«
»Also, ich glaube die gibt’s in Deutschland eigentlich nicht, Onkel Harm.«
»Wer weiß …«
In der Nähe der Stelle angekommen gebe ich vor, mal pinkeln zu müssen und verlasse den Weg, der uns links weiter den Hang hinaufführen würde. Rechts gehe ich auf einem Boden aus Blättern zwischen Büschen, Farnen und Buchen hindurch, bis der Hang steiler wird. Ein Pfad führt zu einer kleinen Fläche, die nach rechts hin offen ist wie eine Terrasse, mit Blick auf den Ort, zur anderen Seite an eine Felswand grenzend: Zerklüfteter Sandstein mit vielen Spalten und Einbuchtungen – das unbewachsene Braungrau. Schnell hole ich den Stein aus meinem Rucksack, suche eine passende Stelle im Felsen, verstecke ihn unterm Geröll und eile zurück zu Wilko.
»Sag mal, hast du auch Lust auf ’ne kleine Pause? Da vorne hat man ’nen super Ausblick!«
»Na gut.«
»Da sind auch interessante Felsformationen, vielleicht kannst du da was finden …«
»Auja!«
Während Wilko sich auf die Suche macht, nehme ich eine der Trinkflaschen, lege den Rucksack auf den Boden und gehe zum Vorsprung. Unter mir sind es mehrere Meter bis zum nächsten, der allerdings um einiges schmaler ist und in ein steiles Gefälle übergeht. Hinter mir ist Wilko auf der richtigen Spur.
»Hm, irgendwie glaube ich, dass man hier vielleicht Werkzeug braucht.«
»Also in Österreich hab ich schon mal schöne Steine gefunden, die lagen auch einfach im Geröll rum.«
Meine Augen finden den Bahnhof mit seinen Gleisen in der Ferne. Wie bei einem Muskel verlaufen zu beiden Seiten Stränge, die sich bündeln und immer schmaler werden. Ein Zug fährt gerade in den Muskel. Ein paar hundert Meter östlich davon erkenne ich die St. Georg-Kirche. Eine Straße weiter ist die rote Fassade der Unverwechsel-Bar und da … ja, das muss es sein: das Happa Happa. Eine Mischung aus Stolz und Vorfreude erfüllt mich bei dem Anblick, Montag ist es endlich so weit …
»Onkel Harm! Onkel Harm! Hier ist was! Ich hab was gefunden! Ob du’s glaubst oder nicht!« Wilko kommt zu mir gerannt.
»Hey, hey, nicht so stürmisch, ist nicht ganz ungefährlich hier, okay?«
»Sieh mal, Onkel Harm!«
»Oh, wow! Ist das so ein Lappi…«
»Ja, ein Lapislazuli!« Mit seinem Shirt befreit er ihn vom Staub.
»Ist ja unglaublich! Ein schöner Stein. Du hast da ’nen Riecher für, was?«
Wilko lacht, ist vollkommen aus dem Häuschen. Falls ihm auffällt, dass er gerade einen perfekt geschliffenen Edelstein aus dem Schutt da geholt hat, lässt er es sich nicht anmerken. Ein schönes Alter, alles ist aufregend und spannend und neu. Bei mir aber auch, denke ich, und sehe nochmal zum Restaurant. Während der Junge seinen Stein bewundert, zwischendurch vom Fieber gepackt weiterbuddelt, suche ich mir ein schattiges Plätzchen am Rand der relativ ebenen Fläche und setze mich. Ich schließe die Augen, atme tief durch. Im Rucksack finde ich Tabak mit Blättchen und Filtern, und beginne, mir eine zu drehen. Ich merke, dass ich mich das erste Mal seit langem richtig entspanne.
Dann plötzlich das Geräusch von rutschendem Gestein. Keine Sekunde später Wilkos Stimme auf maximaler Lautstärke. Ruckartig schaue ich rüber, sehe, wie er am hinteren, schmalen Ende der Ebene taumelt. Mit den Armen rudert er in der Luft – in der einen Hand der blaue Stein – bevor er kopfüber hinterm Hang verschwindet.
Ich springe auf, meine Stimme außer Kontrolle. Meine Füße fliegen über den felsigen Grund die Wand entlang, zum Vorsprung. Beinahe wäre ich hinterher gesprungen, kann grade noch stoppen. Meine Augen sehen, was mein Hirn nicht begreift: Mein Neffe hat den unteren Felsvorsprung hinter sich gelassen, rauscht den Hang runter. Er schreit nicht mehr.
»Wilko!«, brülle ich nach unten, meine Stimme bereits auf dem Weg zur Heiserkeit.
Sofort setze ich zum Sprint an, zurück zum Pfad, folge ihm nach unten. In meinem Kopf das Bild von Wilkos zerschmettertem kleinen Körper. Mein Körper bewegt sich noch schneller – wo ist er? Ich schreie weiter, rufe seinen Namen, als könnte meine Stimme ihn noch retten.
Sobald der Hang es zulässt, renne ich nach links in den Wald. Jeder Schritt ist ein Sprung. Da ist er!
»Wilko! Wilko! Fuck!«
Wie er daliegt, das sieht nicht gut aus.
»Wilko? Hey, Wilko?«
Keine Antwort. Ich nehme all meinen Mut zusammen. Halte zwei Finger an seinen Hals, bringe mein Ohr an seinen Mund: Puls und Atmung sind da! Ruf den Notarzt!, schießt es in meinen Kopf. Ich fühle in meinen Taschen nach meinem Handy – keins da! Scheiße, wo ist es? Oben im Rucksack? Soll ich zurückrennen? Aber ich kann Wilko hier nicht liegen lassen, oder? Nein, auf keinen Fall! Ich nehme ihn ganz vorsichtig auf den Arm und gehe so schnell wie möglich zum Weg und Richtung Tal. Sein Gesicht bleibt leblos, ist mit Schmutz und Blut verschmiert. Ich will rennen, kann aber nicht, darf ihn nicht zu sehr bewegen.
»Wilko! Scheiße, Scheiße, verdammte Scheiße!«
Eine Bilderflut überschwemmt mein Hirn: der schüttelnde Kopf eines Arztes, mein Bruder und seine Frau, am Boden zerstört bei Wilkos Beerdigung. Irgendwann kommen mir zwei Wanderer entgegen, ein Mann und eine Frau. Ich rufe ihnen bereits von Weitem zu, sie bleiben stehen, treten zur Seite.
»Hilfe! Ich brauch ‘n Krankenwagen!« Meine Panik spiegelt sich in ihren Gesichtern.
»Na, was ist denn passiert, um Himmels Willen? Ist der Junge gestürzt?«
»Ja! Gestürzt!« Ich will weiterlaufen, meine Beine können kaum stillhalten.
Schon hat die Frau ein Handy am Ohr.
»Wir werden ihn unten zum Parkplatz schicken lassen«, sagt der Mann, und ihr Nicken ist das Signal für meine Füße.
»Tausend Dank Ihnen!«, sage ich, schon wieder unterwegs.
Wie weit ist das denn noch, verdammt? Während ich weiter vor mich hin fluche und flehe, komme ich endlich zum Waldeingang, dann zur Straße. Kein Krankenwagen. Hab ich die Wanderer wirklich getroffen? Hatten sie vielleicht keinen Empfang? Wie lang ist es her? Hätte ich bei ihnen warten sollen? Scheiße! Ich stehe da mit dem Jungen im Arm, ohne Plan, was ich tun soll.
»Wilko? Wilko, hey!« Seine Augen bleiben geschlossen, der Mund halb geöffnet, als schliefe er tief und fest. Oh Mann, Wilko, bitte bitte wach doch auf. Plötzlich Sirenen, endlich! Wir sind gerettet, du bist gerettet! Ich laufe weiter, dem schönen Lärm entgegen, mein Puls am Anschlag, meine Lungen zu klein, aber das könnte nicht egaler sein.
An die Fahrt erinnere ich mich kaum. Als ich im Krankenhaus zum Warten gezwungen werde, wird mir klar, dass ich wohl noch nie wirklich Angst hatte. Bis jetzt. So fühlt es sich wahrscheinlich an, wenn man ununterbrochen in eine Steckdose fasst. Kein Gedanke ist greifbar, im Kopf tobt ein Gewitter.
»Harm!«
Mein Bruder und seine Frau kommen durch den Flur auf mich zugelaufen, ihre Gesichter bleich. Ich stehe auf, ergebe mich. Während ich rede, hebe ich automatisch die Arme. Sie scheinen mein Gestammel nicht zu verstehen – rede ich Unsinn? Hanno ist sprachlos, Jutta sieht mich an mit einem Ausdruck, der mich foltert, ihre Augen bereits blutunterlaufen.
»Ich ... es tut mir so leid ...«
»Mein armer Junge, mein armer Wilko! Wie konntest du das zulassen? Wie konntest du nur?« Sie schluchzt, ringt nach Luft. »Wie konntest du ... oh Wilko!«
Wieder hebe ich die Hände, ihre Worte tun weh. Hilflos sehe ich zu meinem Bruder. Der nimmt schließlich die heulende, protestierende Jutta in seine Arme, dämpft ihren Heulkrampf.
Irgendwann kommt eine Ärztin auf uns zu. Mein Magen macht einen Satz, wie beim freien Fall. Ihre Worte kommen gestückelt bei mir an, bei jeder Diagnose zieht sich in mir alles zusammen: innere Verletzungen, Gehirnerschütterung, Brüche, Arm, Beine … Glück, wahrscheinlich nie wieder …
Nie wieder. Ich setze mich, starre an die gegenüberliegende Wand. Nie wieder werde ich eine Zigarette anrühren. Im Hintergrund Jutta, deren Reaktion mir den Rest gibt. Jeder Ton von ihr ist wie ein Stoß in meine Rippen. Die Tränen fließen wie ein Wasserfall. Was ist mit dem oben auf dem Berg? Da wollten wir doch hin …
»Der Junge schläft jetzt«, spricht die Ärztin weiter. »Wir werden ihn auf ein Zimmer bringen, wo Sie dann zu ihm können, im dritten Stock. Das Pflegepersonal dort wird Ihnen sagen, welches Zimmer. Am Montag wird er nochmal operiert.«
»Danke«, sagt Hanno, und der weiße Kittel der Ärztin schwebt davon.
Viel zu lange stehen wir da, ich fühle mich wie gelähmt, nutzlos, störend, während Jutta ihre Heulkrämpfe an Hannos Brust auslässt und er sein Gesicht in ihren Haaren vergräbt.
»Das tut mir so leid«, erkläre ich irgendwann Wand und Boden, woraufhin sich Jutta erneut zu mir wendet und mich anschreit.
»Warum hast du nicht aufgepasst? Warum? Du hättest besser aufpassen müssen! Was …? Was zum Teufel hast du denn da oben gemacht?« Kurz holt sie Luft, blickt auf den Boden. Plötzlich ballt sie ihre Fäuste, geht einen Schritt auf mich zu. »Über dein bescheuertes Restaurant nachgedacht? Dein bescheuertes Happa Happa? Hä? Ich dachte, wir können dir vertrauen!«, schießt es aus ihr heraus. »Mein armer Junge, mein armer, kleiner Junge ...«
Hanno nimmt sie wieder in den Arm. »Es war nicht Harms Schuld, Liebes. Es war nicht seine Schuld«, sagt er.
Seine Worte gehen mir direkt ins Mark, ein Schimmer Hoffnung. Für einen Moment vergesse ich alles, meine Augen fixiert auf Hannos Gesicht: Hat er das ernst gemeint? Glaubt er das wirklich? Er wendet seinen Blick von mir ab und sieht zu Boden, und ich lese in seinem Ausdruck, hinter dieser Fassung, die ich so gut kenne, wie sehr auch er um seinen Sohn bangt.
Sie gehen ein paar Schritte den Gang entlang. Weiter hinten im Flur sieht ein älteres Paar zu uns rüber. Ihnen gegenüber turnt ein kleines Kind auf den Sitzgelegenheiten. Ein kleiner, gesunder Junge.
Ich weiß nicht, was ich machen soll, will aufstehen und weggehen, mich nie wieder blicken lassen, doch es geht nicht, ich kann mich nicht bewegen, kann nur sitzen bleiben. Es fühlt sich an, als müsste ich eine Lösung finden für ein Problem, das größer ist als meine Vorstellungskraft, das meinen Verstand lahmlegt, und welches mich ab jetzt für immer begleiten wird.
Als ich auf einem anderen Stuhl aufwache, ist es draußen dunkel, eine Ecke des Zimmers schwach beleuchtet. Mein Nacken und mein Oberkörper schmerzen beim Versuch, mich gerade hinzusetzen. Vor mir liegt Wilko im Bett, an mehrere Geräte und einen Tropf angeschlossen. Auf dem freien Bett liegt Jutta und schläft, dazwischen sitzt mein Bruder auf einem Stuhl. Er merkt, dass ich wach bin, kommt rüber und setzt sich neben mich. Wir flüstern.
»Hanno. Ich …«
»Ich weiß, Harm.«
»Das tut mir so leid. Ich … ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich hab nur kurz nicht hingesehen, und plötzlich ist er da direkt am … Ich konnte nichts machen. Hatte ihn doch gewarnt … ich hatte ihn doch gewarnt, Hanno …«
»Ist schon okay, Harm. Ich weiß, dass du nichts machen konntest, mach dir keinen Kopf. Hab nochmal mit jemandem gesprochen. Ein Arzt oder Pfleger, keine Ahnung. Meinte, es kommt drauf an, wie die OP am Montag läuft. Mit etwas Glück könnte er wieder gehen. Die Ärztin wollte uns wohl keine falsche Hoffnung machen. Ansonsten hat er wohl richtig Glück gehabt. Ich mein, er hätte auch … lieber nicht drüber nachdenken.«
»Ich …« Mein Kopf ist leer, was kann ich noch sagen?
»Harm. Das hätte jedem von uns passieren können. Er ist ja keine vier mehr. Das war vielleicht einfach Pech.«
Seine Worte sind wie ein Bett, in das ich mich verkriechen, unter dessen Decke ich mich verstecken will, aber die Decke fehlt. Ich fühle ein leichtes Stechen um meine Augen, dann fließt es aus ihnen heraus. Hanno umarmt mich im Sitzen. Es ist das erste Mal seit dem Unfall, dass sich etwas halbwegs gut anfühlt.
»Geh doch nach Hause, du musst mal schlafen. Ich leg mich zu Jutta und hoffe, dass wir keinen Ärger bekommen. Ist ja nicht unser Bett.« Hanno versucht zu lächeln.
»Okay«, sage ich artig und stehe auf. Er stellt sich neben mich, legt seine rechte Hand auf meine Schulter. Ich blicke zu beiden Betten, beide noch da, gehe raus und laufe wie in Trance den Gang runter. Ich soll nach Hause? Jetzt? Zu meiner Rechten ist ein kleiner Wartebereich mit gepolsterten Stühlen ohne Armlehnen. Ich gehe rein, lege mich hin und schlafe ein.
Als ich aufwache, steht ein Mann im Bademantel unweit von mir vor einem Getränkeautomaten und guckt mich an. Auf mir liegt eine babyblaue Decke. Mein Kopf schmerzt, ich leg ihn wieder aufs Polster und schließe die Augen. So kommt der Traum zurück in mein Bewusstsein und ich denke: Flügel. Wir sind auf dem Felsvorsprung. Wilko nimmt Anlauf und macht einen Köpper den Hang runter, ruft mir lachend zu, ich solle es ihm nachmachen. Aber das ist doch gefährlich, Wilko!, rufe ich ihm zu, doch plötzlich hat er Flügel und segelt über die Wipfel der Bäume, und so überwinde ich meine Angst, renne los und springe ihm nach, und ich spüre die Flügel an meinem Rücken und wir fliegen durch die Lüfte, genießen den Wind, fliegen bis zum neuen Restaurant, wo André uns ein Festessen bereitet hat, und wo Hanno und Jutta schon warten und Wilko ihnen stolz seinen blauen Stein zeigt. Der ist magisch, sagt er mit großen Augen.
»Harm?« Ich öffne die Augen. Es ist mein Bruder. »Hast du hier etwa gepennt? Die ganze Nacht?«
»Hmjo«, krächzt es aus meinem Mund. Mit einem Räuspern richte ich mich auf, Hanno setzt sich dazu. »Hab geträumt, dass er Flügel hat.« Wir tauschen Blicke aus, das zaghafte Lächeln von gestern auf seinen Lippen.
»Er ist wach. Hat schon nach dir gefragt. Und nach einem Stein.« Ich schaue ihn an, dann wieder auf den Boden. »Ist ganz gut drauf, den Umständen entsprechend«, lässt er mich wissen. »Er war ja schon immer hart im Nehmen. Weißt du noch, wie er bei Mama und Papa im Flur auf dem Teppich ausgerutscht ist und voll mit dem Kopf gegen die Ecke von der Wand? Die Fliesen sind zerbrochen und haben ein Loch in der Wand hinterlassen … er hatte nicht mal Kopfschmerzen.«
»Ja, ich erinner mich.«
»Willste was trinken?« Er deutet auf den Automaten.
»Jo. Gerne.«
Nachdem wir einen Kakao getrunken haben, fahren er und Jutta nach Hause. Duschen, essen, Sachen für Wilko holen. Ich gehe ins Zimmer.
Bei Tageslicht sieht er noch schlimmer aus. Sein Kopf ist bandagiert, Pflaster kleben im Gesicht, sein linker Arm und die linke Hand sind in Weiß eingebettet, der Rest liegt unter einer dünnen Bettdecke mit blassen blauen Streifen. Es tut weh, ihn so zu sehen. Aber Hanno hat recht, er ist merklich gerädert und trotzdem gut drauf.
»Wo ist er?«, fragt Wilko, nachdem wir ein paar Worte ausgetauscht haben.
»Wer?«
»Na, der Lapislazuli.«
Dieser verdammte Stein. Ohne ihn wäre das nie passiert, was für eine bescheuerte Idee. Warum konnte ich ihm den scheiß Stein nicht einfach so geben, wie jeder andere normale Mensch es getan hätte?
»Er hat mir das Leben gerettet, Onkel Harm.«
»Was?«
»Na, der Lapislazuli. Ohne ihn wäre sicher Schlimmeres passiert … Onkel Harm? Weinst du?«
»Nee … Ja …« Ich sitze da, wo Hanno letzte Nacht saß. Jetzt hat Wilko seine gesunde Hand auf meine gelegt. Sollte nicht ich ihn trösten? »Hast du gar keine Schmerzen, Kleiner?«
»Hm, doch. Geht aber.«
»Das … das ist gut.«
Eine Weile schweigen wir, ich beobachte den Bildschirm mit seinen Zahlen und Kurven, die Wilkos Körper unwissend auf ihm malt. Unter dem Infusionsbeutel wächst ein Tropfen, wird so groß, dass die Gravitationskraft die Oberflächenspannung der Lösung übertrifft, er schließlich fällt und sich zu seinen Vorgängern in die kleine Kammer überm Schlauch gesellt, bereit für Wilkos Adern. Schon formt sich der nächste … Der Junge hat die Augen geschlossen, doch als spürte er meinen Blick, öffnet er sie wieder.
»Onkel Harm?«
»Ja, Wilko?«
»Bringst du mir den Stein?«
»Ich soll …?«
»Ja. Für die OP morgen früh. Als Glücksbringer.«
»Ach so … hm. Na ja … Okay.«
Als Hanno und Jutta wieder da sind, trotte ich durch die weißen Gänge nach draußen. Die Sonne blendet, aber das ist gut, je mehr, desto besser. Auch die Hitze ist gut, ich schwitze schon ordentlich. Ich muss den Stein finden, muss den Stein finden. Den Weg nach Hause lege ich zu Fuß zurück. Wie viele Schritte sind das? Viele. Ich laufe die Hauptstraße entlang, in der Sonne. Beim Anblick der Berge hinterm Ort fällt mir auf, dass ich vor Durst sterben könnte. Beim Kiosk hole ich mir Wasser, trinke, gehe weiter. Ich muss da hoch, muss zum Stein, ihn finden, sonst läuft die OP schief und er kann nie wieder gehen. Ob ich sie heut Abend für ein paar Stunden ablösen könne, hat Hanno gefragt. So lange sollte es nicht dauern.
Ich gehe nicht nach Hause, nehme den direkten Weg in den Wald. Niemand hier außer mir, viel zu heiß zum Wandern. Das ist gut. Wo sind die beiden Wanderer von gestern, die den Krankenwagen gerufen haben? Sicher machen sie sich einen schönen Tag im Garten oder am See. Wieso sind wir nicht zum See gegangen? Dann läge Wilko jetzt nicht im Krankenhaus. Ich folge weiter dem Weg. Irgendwo hier ist Hanno mal vom Baum gefallen. Ist weich gelandet, nichts passiert. Seine Worte gehen mir durch den Kopf: Das hätte jedem von uns passieren können … vielleicht einfach Pech. War er früher auch schon so? Vielleicht schon, ja. Ich war achtzehn, da hat er mir sein Auto geliehen. Sind zu viert zum See gefahren, in zwei Wagen, wir Idioten. Ich und André den beiden anderen Kumpels hinterher, Musik auf Anschlag, Billy Talent, mitgrölend, rumzappelnd, bescheuert. Billy Untalented hat mein Zivi-Kollege immer gesagt. Beim nächsten Blick auf die Straße Panik: Die andern beiden stehen vor uns, warten vor einer alten Zugbrücke, die nur einspurig befahrbar ist. Adrenalin, Vollbremsung, ABS − gereicht hat’s nicht. Ich dachte, mein Bruder würde mich fertigmachen, ausrasten, aber das tat er nicht. Er sah sich den Astra an, fragte, ob sonst was passiert sei, nein. Seine Ruhe überraschte mich. Zu der Zeit war das mit Jutta noch ganz frisch, vielleicht liegt es am Verliebtsein, dachte ich damals, das weiß ich noch.
Kurze Zeit später bin ich da: Hier muss er gelegen haben. Blätter, junge Bäume, Farne und Gräser und Blumen, eine heile Welt. Den finde ich nie, den verdammten Stein, denke ich, und da sehe ich ihn schon. Einen Moment lang möchte ich ihn einfach nur wegschmeißen, mit voller Kraft. Stattdessen nehme ich ihn mit nach Hause, dusche und esse was. Auf dem Wohnzimmertisch liegt mein Handy − ich werde es wohl nie wieder liegenlassen ... Ich schreibe André, dass wir die Eröffnung verschieben müssen, bevor ich wieder ins Krankenhaus gehe.
Wilko schläft. Ich lege den Stein auf seinen Nachtschrank, mache selbst auf dem freien Bett die Augen zu, nachdem mein Bruder und Jutta gegangen sind.
Ich schlafe durch bis zum nächsten Morgen, träume den Traum vom Fliegen.
»Danke für den Stein, Onkel Harm«, sagt Wilko zur Begrüßung.
Ausnahmsweise darf er den Stein mit in den OP-Saal nehmen, versichert ihm die Schwester mit einem Augenzwinkern, bevor es losgeht.
Ich warte beim Getränkeautomaten, wo mir wieder die Augen zufallen. Irgendwann weckt mich mein Bruder und reicht mir einen Becher mit Kakao.
»Danke. Wie spät haben wir‘s, ist es schon vorbei?«
»Ja. Ist gut gelaufen. Der Arzt ist wohl ein Spezialist auf seinem Gebiet. Er sagt, Wilko müsse auf jeden Fall eine Weile im Rollstuhl bleiben, aber dass er höchstwahrscheinlich wieder gehen wird. Vielleicht nicht wie früher, aber wer weiß, meinte der Arzt, er hat schon vieles gesehen.«
»Okay.« Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Als ich wieder zu Hanno sehe, gleiten ein paar Tränen seine Wangen hinab. Diesmal bin ich es, der seinen Arm um ihn legt.
»Weißt du, was Wilko im Aufwachraum gesagt hat?«, fragt er. »Der Lapislazuli sei der einzige Zeuge gewesen, hat er gesagt.«
»Zeuge?«
»Ja. Davon, wie der Unfall passiert ist, und dass du nicht schuld warst.«
Ich sehe ihm ins Gesicht, da ist wieder das zaghafte Lächeln.
Eine ganze Weile sitzen wir so da.
Drei Monate später stehe ich schwitzend in der saunaartigen Küche des Happa Happa und kippe einen ordentlichen Schuss Rotwein in die große Pfanne vor mir. Automatisch lehne ich mich zurück, bevor die rote Flüssigkeit auf das heiße Öl trifft, schlagartig verdampft und dabei das Öl in die Luft wirbelt, welches sofort mit Sauerstoff reagiert und in einer beeindruckenden Stichflamme verbrennt. In dem Moment kommt Vanessa, unsere Kellnerin, durch die Schwingtür herein und produziert so einen angenehmen Luftzug.
»Das Chili Sin Carne ist fertig«, lässt unser kürzlich eingestellter Koch sie wissen. Sie schnappt sich den Teller und ich freue mich auf den erneuten Luftaustausch.
Unser Plan ist tatsächlich aufgegangen: Der bescheuerte Name hat viele Leute neugierig gemacht, so sehr, dass wir bereits um zwei Mitarbeiter gewachsen sind. Wieder geht die Tür auf.
»Jo Harm, dein Neffe ist da!« Es ist die Stimme von André.
Ich drehe mich um und sehe sein vorfreudiges Lächeln. Ich versuche, es ihm nachzumachen, schaffe es nicht ganz. Meine Nervosität hat André mit seiner Ankündigung vervielfacht. Sein Gesicht verrät, dass er meine Gedanken kennt: Bisher hat mich Jutta gemieden, langsam habe ich es akzeptiert. Heute wird sie dabei sein, bei diesem Essen in unserem Laden, das eine kleine Feier ist – Wilko trainiert seit kurzem mit seinen neuen Krücken, heute ist er damit das erste Mal unterwegs.
Die Eröffnung war für mich wie einige der Vorlesungen während meines Studiums: eine Pflichtveranstaltung. Beinahe hätte ich mich ausgeklinkt, konnte keine Motivation finden. Hab’s letztendlich für André gemacht. Bereut habe ich es nicht, denn die Arbeit war genau die Ablenkung, die ich brauchte. Oft hab ich Wilko besucht, immer noch ist es mir ein Rätsel, wie sich Jutta jedes Mal rar gemacht hat. »Sie braucht Zeit«, war Hannos Erklärung. Ich konnte und kann es ihr nicht verübeln.
»Willst du sie nicht begrüßen?«, reißt mich André aus meinen Gedanken. »Ich übernehm das Essen.«
»Ja. Dank dir.«
Ich drücke ihm meine Schürze in die Hand, trinke einen Schluck Wasser und halte vor der Tür inne. In Wilkos Alter hab ich mal in einem Theaterstück mitgespielt, unfreiwillig. Ungefähr so fühlte es sich an, bevor ich auf die Bühne musste. Ich stoße die Tür auf und bahne mir meinen Weg durch die vielen besetzten Tische hindurch zu dem, an welchem meine Familie Platz genommen hat. Alle erheben sich, um mich zu begrüßen, außer Wilko.
»Hallo, Onkel Harm!« Er strahlt.
»Hey, Wilko! Wow, schöne Teile hast du da, deine Lieblingsfarbe, was?« Ich geh vor ihm in die Hocke und lege eine Hand auf seine Schulter.
»Ja, ich kann schon richtig gut damit laufen.«
»Das freut mich so was von, mein Kleiner, das glaubst du gar nicht. Musst du mir gleich mal zeigen.«
»Klar!«
Nachdem ich Hanno umarmt habe, stehe ich vor Jutta. Wir sehen uns kurz in die Augen, dann kündigt ihr Gesicht Tränen an und sie drückt mich an sich. Es fühlt sich gut an. Bevor sie sich wieder setzt, glaube ich in ihrem Gesicht so etwas wie Entspannung zu erkennen.
»Was wollt ihr denn trinken?«, frage ich in die Runde. »Geht natürlich alles aufs Haus! Wilko?«
Bevor er antworten kann, sehe ich etwas in seinen Händen, die unterm Tisch auf seinem Schoß liegen. Sofort weiß ich, was es ist: Der Stein, dieser verdammte Stein.
- Verwendete Wörter
- Kopfüber • Lapislazuli • Flügel • Rollstuhl • Zeuge