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Dieser Moment
Ich dachte immer, dass sie auf mich warten würde. Dass sie immer frei wäre und nur für mich existierte.
Wie naiv ich war … Hätte ich ihr meine Gefühle früher offenbart, würden wir zusammen sein. Vielleicht.
Aber ich war ein Feigling. Sogar an dem Tag beim Schulkonzert.
Ich weiß noch, wie sie damals aussah: Ein weißes Kleid mit langen Ärmeln, in das kastanienbraune Haar, das ihr wellig auf die Schultern fiel, waren weiße Kamelien hineingeflochten, die Lippen glänzten hellrot.
Bei dem Konzert musste sie singen. Ich stand hinter den Kulissen und beobachtete sie, wie sie sich elegant verbeugte, voller Stolz ins Publikum sah und sang. Sie sang wunderbar, in jedes Wort ließ sie so viele Gefühle einfließen, dass einem das Herz stehenblieb. So wie damals.
Ich konnte mich noch gut an das erste Mal erinnern, als ich sie in der Schulbibliothek getroffen hatte.
Sie saß dort, las ein Buch über die Geometrie und schrieb etwas auf. Es war Mitte September, aber sie trug trotzdem das Kleid mit diesen kleinen blauen Blumen und den gelben Punkten außenrum. Das Haar hatte sie hochgesteckt, nur ein paar einzelne Strähnen umrandeten ihr blasses Gesicht. Ihre Augen, die das Licht der Lampe an ihrem Tisch reflektierten, ähnelten Smaragden.
Da alle Tische besetzt waren, ging ich zu ihr und deutete auf den gegenüberstehenden Stuhl.
„Darf ich mich da hinsetzen?“
Sie sah hoch, musterte mich mit diesen seltsamen Augen und nickte.
Trotz unseres Schweigens, entstand irgendwie eine Verbindung zwischen uns.
Nach ungefähr einer Stunde stand sie auf und ging an mir vorbei. Offensichtlich bemerkte sie die schlechten Noten meiner Tests, dessen Verbesserung ich in dem Moment machte, und blieb stehen.
„Du verstehst solche elementaren Sachen nicht, was?“, fragte sie mich und ich seufzte, was genug für eine Bestätigung war. „Nun, dann ist es wohl meine Pflicht, dir zu helfen!“
Seitdem trafen wir uns immer in der Schulbibliothek, genau an dem gleichen Tisch, und sie erklärte mir jede einzelne Aufgabe, klar und deutlich. Was mich etwas nervte und gleichzeitig immer wieder faszinierte, war ihr ungewöhnlich schön klingendes Lachen, wenn ich mal wieder die gleichen Fehler machte. Dieses Lachen konnte man mit nichts vergleichen, es war einfach nur schön und leicht.
Wenn sie lachte, vergaß ich all die Probleme, die mich immer Zuhause bedrückten. Ich fühlte mich dann frei und das wollte ich immer sein. Und erst da begriff ich, dass ich sie liebte.
Nach ihrem Auftritt verstand ich, dass das meine letzte Chance sein könnte. Ich musste ihr von meinen Gefühlen erzählen, ihr alles offenbaren. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und lief zu ihr hinüber. Mit jedem Schritt, den ich auf sie zumachte, wurde meine Entschlossenheit immer kleiner. Als ich endlich vor ihr stand, war von meinem Mut nichts zu spüren. Sie war so schön, so perfekt. Sie war eine Göttin und ich ein Insekt. Aber auch wenn ich das erkannt hatte – ich musste etwas sagen!
„War nice“, brachte ich also heraus und es war ein Fehler. So ein großer Fehler!
Ich musste ihr sofort erklären, dass ich nicht das sagen wollte! Ich musste …
„Hey, hast voll schön gesungen! Du wirst bestimmt eine weltberühmte Sängerin mit so einem Talent!“, hörte ich eine vertraute Stimme. Ich blickte auf und erkannte meinen besten Freund, der gerade auf uns zukam. Er legte einen Arm um ihre Schultern. „Lust auf ein Eis, nachdem wir mit allem fertig sind?“
Zuerst sah sie mich an, erwartete irgendeine Reaktion von mir, die es nicht gab, dann wendete sie sich ihm zu und nickte lächelnd.
Viel später heirateten die beiden.
Ich war froh, dass sie ihr Glück gefunden hatten, und doch tat es weh.
Nach der Trauung kam sie noch mal zu mir rüber. Wir redeten ein wenig, ich gratulierte ihr, sie lächelte und schaute zu Boden.
„Ich mochte dich schon immer, Pit“, sagte sie dann. „Seit unserem ersten Treffen. Aber weil man nichts aus deinem Gesicht ablesen konnte, dachte ich, dass ich für dich nur eine gute Freundin war. Vielleicht bin ich das wirklich.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich starrte sie einfach nur an, während sie weitersprach.
„Nach dem Konzert, als du mich angesprochen hast, dachte ich, endlich willst du mir deine Gefühle sagen. Natürlich irrte ich mich“, Ihr Lächeln wurde traurig.
Einen Moment blieben wir schweigend stehen, ich beobachtete sie, wie ich das immer tat, während sie weiterhin traurig lächelte. Sie erwartete, dass ich etwas sage. Ich sagte nichts. Schon wieder.
Danach verloren wir den Kontakt zueinander. Ich heiratete auch, bekam Kinder, wir zogen weg aus der Stadt. Eigentlich hätte ich sie vergessen sollen, sie und alles andere. Sie war ja nur meine erste Liebe. Jedoch blieb dieser Moment vom Schulkonzert für immer in meinem Gedächtnis.
Und diesen Moment werde ich nie vergessen. Nie.