Dieser abend
Dieser abend
Ich sitze hier, schaue aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Die Tannen tragen schwer am vielen Schnee, der auf ihren Ästen lastet. Der Himmel ist fast schwarz. Einige Sterne funkeln; scheinen mir Geschichten von fernen Welten zu erzählen, denke ich mich nur zu ihnen hin.
Und ich beginne zu reisen.
Durch das Universum, vorbei an Sonnen, roten und braun-schwarzen Planeten. Sehe riesige Gas – und Staubwolken, die in allen Farben des Regenbogens schillern und habe eine vage Ahnung von Gott. Nicht das ich ihn begreife. Ich habe eine seichte Ahnung von ihm und das Glück überflutet mich.
Ich kehre zurück. Bin wieder auf der Erde. Hier vor meinem Monitor. Eigentlich wollte ich heute etwas schreiben. Irgendetwas. Mir war so danach. Diese innere Ruhe kehrte ein und wenn ich nach innen lauschte, hörte ich wie von fern ein leises Flüstern an meinem Ohr, das gehört werden wollte, und mir einen Teil „Wahrheit“ versprach.
Diese abende, wo endlich hochkommt, woran man Tage und Wochen knabbert. Wo etwas ausgegoren ist, so wie ein Traubensaft vergärt zu einem Wein. Oft lege ich eine fertige Geschichte zurück in den Kopf, damit Sie reift. So wie ein Wein eben.
Oh, Wein.
Ich hole mir einen Rotwein aus dem Keller, korke ihn auf. Er fließt, wie flüssiger Rubin ins Glas. Schillert. Spiegelt den Raum und mich wieder. Er zeigt mir seine Realität der Welt. Sie ist rund und unsymetrisch und vielleicht auch wahr. Wer weiß das schon.
Scheinbar ein philosophischer abend, denke ich mir, nehme einen Schluck. Erdig und voll ist er, sonnenverwöhnt, aromatisch. Ein Genuss für den Gaumen. „Philosophie ist, sich über alles wundern zu können!“ sagte mal irgendwer. Was macht dieser Satz gerade in meinem Kopf? Ah, wegen des Philosophierens. Vielleicht hätte ich doch Philosophie studieren sollen damals. Wer weiß, was geschehen wäre, wo ich heute wäre. Am Ende doch in Italien? Tja, fast wäre ich dort gelandet, damals. Das Leben ist komisch. Man meint es zu steuern, gibt sich Tag für Tag Mühe Strukturen beizubehalten und doch fliesst alles. Vielleicht kann man machen was man will und es passiert doch, wie es soll.
Nein, es würde mir jede Entschlußfreiheit nehmen. Oder gerade deshalb nicht? Das ist mir heute abend zu anstrengend.
Dafür hat dieser abend seinen eigenen lieblichen, märchenhaften Zauber. Er ist so ruhig, so gelassen. Wenn ich da zum Fenster herausschaue, muß hinter dem Hügel ein Märchenschloss oder eine Burg sein. Wenn ich jetzt über diesen Hügel ginge, jetzt, wo ich das erwarte, wäre sie vielleicht sogar da. Bestimmt sogar.
Eine zeitlang überlege ich ernsthaft, ob ich mich anziehe und nach draußen gehe, nur um zum Märchenschloss hinter dem Hügel zu gehen. Aber es ist egal. Ich weiß das es jetzt da ist. Riesengroße, hohe, schlanke Türme hat es.
Ein Hund bellt in der Nachbarschaft. Ich sehe ihn vor mir, sein Atem tanzt hell in frostklarer Nacht. Wachsam steht er da. Seine Pfoten berühren den Boden. Boden auf dem schon tausende Menschen gingen. Könntest Du mir nur erzählen, Boden, was Du alles erlebt hast. Könnte ich nur fühlen, wenn ich auf Dir gehe, was alles geschah in all den Zeiten. Ob Menschen auf Dir starben, gezeugt wurden, ob Sie Korn auf Karren zogen. Ich lege meine Hand auf ihn und spüre Trauer. Der Boden hat die Trauer gespeichert. „Von wem? Von wem ist die Trauer?“, frage ich. Vor mir erscheint das Bild eines jungen Mädchens. Sie lächelt. Sie lächelt bitter. Das Lächeln verzerrt sich. Die Augen blitzen.
Nein. Hier bleibe ich nicht. Stop.
Ich reise zur Anhöhe dieses Dorfes und schaue hinunter.
Ein Sommertag. Heiß ist es. Einzelne Höfe nur, sind das Dorf von heute, und die Leute gehen ihrer Arbeit nach. Ich sehe Pferdegespanne, Bauern, die miteinander reden. Die renovierten Fachwerkbauten von heute sind noch ganz neu oder überhaupt nicht vorhanden. Ich gehe hinunter ins Dorf und ein Mädchen begegnet mir. Sie wundert sich, hat diese Kleidung noch nie gesehen. „Woher kommst Du?“ Ihre Stimme ist zärtlich, sie ist wie eine Prinzessin. Vielleicht die Prinzessin aus dem Schloss hinter dem Hügel.
„Von weit her und von lange her! Welches Jahr haben wir?“
„Du fragst sehr seltsam. 1643!“
Da reißt es mich hinaus und ich glaube, das Mädchen sieht, wie eine große Windhose neben ihr diesen seltsamen Menschen in die Höhe reißt. In den Himmel hinein.
Der Erdball ist bunt und hell. Und dort unten spielen Sie jeden Tag ihre Spiele. Tagaus, tagein. Still ist es hier. Anders still. So vollkommen still. Es ist so ein großes Nichts, das alles schon wieder voll davon ist. Wahnsinn. Ich rufe „Gott bist Du da?“
Aber die Worte schallen nicht einmal über die Lippen hinaus. Hier draußen trägt nichts den Schall. Vielleicht ist er in mir. Gerade jetzt. Ein wenig. Als Teil dieses Ganzen. Ohne es genau ausdrücken zu können, erscheint mir in diesem Moment aber nur das logisch, das Gott nur in diesem Nichts sein kann. Alles andere wäre Lüge und sinnlos. Denn dieses Nichts ist Alles.
Durch einen Tunnel reise ich mit Lichtgeschwindigkeit zurück auf die Erde. Viele Farben und ein riesiges Rauschen. Da sitze ich wieder vor meinem Monitor.
Ich sehe mich durch die Augen der Nachbarin hindurch. Sie beobachtet mich und denkt sich gerade, daß ich ein ziemlich armer Kerl sei. So gelangweilt, alleine und einsam. Gleich wird Sie sich abwenden, sie will in die Küche gehen. Ich mache mir den Spaß und winke ihr zu, ohne hinzuschauen, da bemerke ich, wie Sie erschreckt.
Ich schalte den Computer aus und gehe ins Bett. Morgen wird einer fragen: „Was hast Du gemacht gestern?“ und ich antworte „Ach, Nichts im Grunde!“
Bevor ich einschlafe kommt mir noch das Wort „All-ein-sein“ in den Kopf, da bin ich schon weg.