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Diese Welt ist leer
Diese Welt ist leer. Aber ich glaube, das war sie nicht immer. Es kommt mir komisch vor, durch diese desolate Stadt zu laufen, völlig Menschenleer und doch wirkt es so, als gäbe es hier noch Leben. Es ist kein postapokalyptisches Szenario der Zerstörung, vielmehr so, als ob jeder Mensch von einer Sekunde auf die andere verschwunden ist und diesen Ort eingefroren in der Zeit zurückließ. Geschäfte sind geöffnet, Ampeln funktionieren, es gibt sogar gedeckte Tische mit heißen Speisen vor Cafés. Nur eben kein einziges Lebewesen außer mir selbst. Sonst ist da nur die alles erdrückende Stille. Ich weiß nicht, wie ich jemals wieder hinausgelangen sollte. Ob ich den Rest meiner alten Tage hier verbringen muss? Es scheint alles wie ein böser Traum, irgendwie verworren. Dabei sollte ich mich hier auskennen, es ist schließlich meine Heimatstadt. Doch immer dann, wenn ich die bekannten Grenzen meiner Welt hinter mir lassen möchte, verschwimmt die Realität vor meinen Augen und ich komme wieder am Ausgangspunkt an. Immer am selben Haus, an dessen Türschwelle ich aufgewacht bin. Waren es Monate? Jahre? Oder erst gestern? Ich vermag es nicht zu sagen.
Wieder wandere ich durch die Straßen, vorbei an Supermärkten und Bäckereien. Ich kenne die Besitzer, glaube ich. Frisch gebackenes Brot springt mir ins Auge, doch ich verspüre weder Hunger noch Appetit. Immer nur Durst. Ein unsäglicher, staubtrockener Durst. Stundenlang laufe ich durch die Gassen und suche Wasser. Jeder Hahn ist kaputt, jeder Brunnen versiegt. Selbst der kleine Bach, an dem ich als Junge immer gespielt hatte, ist ausgetrocknet. Was für eine grausame Welt. Laut schreie ich zum Himmel, er möge mich nicht verdursten lassen und mir Wasser schenken. Kein Wolkenbruch ergießt sich mir, natürlich nicht, etwas viel absurderes geschieht. Eine fußballgroße Sphäre aus Wasser wabert vor mir in der Luft. Mein inniger Brand ist stärker als meine Verwirrung. Die Sphäre kommt mir entgegen und lässt mich an ihr laben. Oh, du wunderbares, kühles Nass!
Ich trinke mich voll und zufrieden, ziehe den Kopf zurück um zu atmen, doch die Sphäre folgt mir und flößt sich mir ein, kaum, dass ich einen Zug Luft holen konnte. Nun muss ich auch noch fürchten zu ersticken! Mir langt es!
Ich verscheuche die Kugel aus Wasser und bahne mir meinen Weg durch die Straßen. Hinter jeder Ecke erwarte ich jemanden, doch natürlich ist dort niemand. Und ehe ich mich versehe, stehe ich erneut vor diesem Haus. Es kommt mir nicht bekannt vor, oder doch? Wohne ich hier?
Ohne weiter darüber nachzudenken gehe ich durch die Eingangstür. Sicher und wie selbstverständlich bewege ich mich durch die Eingangsflure. War dies wirklich mein Zuhause? Ich war so lange nicht mehr hier. Doch ich kenne mich hier aus, finde auf Anhieb die Küche, das Badezimmer, einfach alles. Im Wohnzimmer lasse ich mich auf die Couch fallen. Das stete Ticken einer großen Uhr beruhigt mich, wenngleich ihre Zeiger sich auch nicht bewegen. Mein Blick fällt auf die vielen Bilder an den Wänden. Doch sie alle zeigen nur weißes Papier. Hingen dort nicht mal Bilder meiner Familie? Mit einem Ruck stehe ich auf und durchwühle Schubladen und Schränke, stelle alles auf den Kopf. Wonach suche ich so angestrengt? Ich weiß nur, dass es sehr wichtig ist. Ohne fündig zu werden gehe ich schnellen Schrittes ins Schlafzimmer, ohne genau zu wissen, warum. Die Tür fliegt zu Seite und dort auf dem Nachttisch steht ein Bilderrahmen mit einem Foto darin. Es ist meine Frau, mit dem gleichen wunderschönen Lächeln, in das ich mich damals verliebt habe.
Anna.
Ich spreche ihren Namen laut aus. Natürlich heißt sie so, meine geliebte Anna. Sie könnte ich niemals vergessen, niemals aus den Augen verlieren, nicht mal in dieser verfluchten Welt. Ich nehme das Foto an mich und halte es dicht an mein Herz. Hektisch renne ich nach draußen, schneller, als es meine alten Knochen erlauben sollten und rufe nach ihr. So laut ich kann rufe ich ihren Namen zum Himmel. Warum kannst du dich nicht öffnen und mir meine Anna wiedergeben? Was habe ich verbrochen, dass ich mein Dasein in diesem einsamen Fegefeuer verbringen muss? Ohne dich hat alles keinen Sinn, mein Schatz. Ohne dich ist alles Nichts. Ohne dich ist diese Welt leer und sinnlos. Es kann alles verbrennen und ich mit dazu! Mein Scheiterhaufen soll sie sein!
„Er wird wieder unruhig. Pünktlich wie ein Uhrwerk.“ Die junge Frau strich sanft über den kahlen Kopf ihres bettlägerigen Vaters. „Das passt zu ihm. Er hatte immer einen geregelten Tagesablauf und wich ungern davon ab.“ Sie lächelte ihn gedankenverloren an.
„Wollen sie mir von ihm erzählen, Frau Grathoff?“, sagte der Arzt, der neben ihr auf einem Stuhl saß. Sie atmete kurz durch.
„Er war schon immer ein stark verwurzelter Mensch. Er reist nicht gern und bleibt lieber dort, wo er ist. Er macht manchmal einen schroffen Eindruck, ist aber ein herzensguter Mensch.“, sie schluckte. „Er war nicht immer so, wissen sie, Dr. Klemens? Er zeigte nie irgendwelche Anzeichen von Demenz, aber dass meine Mutter von uns gegangen ist, hat er nicht verkraftet. Als der den Anruf erhielt…“, Tränen liefen ihre Wange hinab. Dr. Klemens legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter. „…ich war dabei. Erst schaute er nur starr in die Leere, aber dann stieß er einen wahnsinnigen Schrei aus. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben nicht gehört. Er brach zusammen, zerschlug seine Möbel, prügelte immer wieder gegen den Holzboden bis seine Hände bluteten. Ich stand nur da, unfähig, etwas zu tun.“ Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Sind Sie sicher, dass sie es tun wollen?“ Der Arzt hatte keine Zweifel daran, doch fragen musste er trotzdem.
Die junge Frau nickte. Der Mann in Weiß bereitete sich vor und zog die Spritze auf. Als er sie ansetzte, sah sie ihren lebenden Vater ein letztes Mal an.
„Das Letzte was du gesagt hast, als du noch bei Verstand warst, weißt du es noch, Papa?“
Dr. Klemens legte die Spritze an.
„Du sagtest: ‚Diese Welt ist leer‘.“
Die tödliche Lösung wurde injiziert.
„Dann geh in die nächste Welt, Papa.“ Tränen liefen ihre Wangen hinunter, während sie die erschlaffende Hand ihres Vaters festhielt.
„Und grüß Mama von mir.“