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Diese Augen
Schon, als ich noch im Auto saß, wußte ich, daß sie heute da sein würde.
Die ganze Fahrt über hatte ich mich in Gedanken verloren, die irgendwo zwischen Erinnerungen, Träumen und ein klein wenig Realität lagen. Nach der langen Zeit, die ich sie nicht gesehen hatte, sie immer nur in Gedanken fühlen und sprechen konnte, spürte ich Freude in mir. Sie betupfte das dunkle Bild von Melancholie und Trauer mit leichten, hellen Flecken.
Bevor ich den Wagen verließ, saß ich noch einige Minuten da und versuchte, etwas Ruhe einkehren zu lassen. Die nächste Stunde würde nicht leicht werden.
Dann stieg ich aus und atmete die warme Luft dieses späten Septembertages ein. Die Sonne schien hinter den hohen Eichen, die die kleine Kapelle umgaben und am Himmel waren nur wenige, leicht zerzauste Wolken zu sehen. Es war warm. Viel zu warm, und das schöne Wetter spottete dem Anlass, der mich wieder in meine Heimat geführt hatte.
Auf dem Vorplatz des Gebäudes standen Menschen in kleinen Grüppchen und unterhielten sich leise. Einige rauchten.
Die meisten von ihnen sahen, während sie redeten, nicht in die Augen ihrer Gesprächspartner, sondern blickten zum Horizont oder hatten ihre Augen auf den Boden gerichtet. Ich konnte es verstehen. Ich würde genauso reagieren, wenn ich mich gleich unter sie mischen würde. Viele von ihnen hatten eine sehr gute Freundin verloren. Einige, zu denen auch ich zählte, würden sie als Bekannte vermissen. Ich war hier, weil viele meiner Freunde litten und ich ihnen durch meine Anwesenheit helfen wollte. Natürlich hatte ich auch gewusst, daß ich sie hier wiedersehen würde.
Während ich auf die Menschen zuging, schaute ich nach bekannten Gesichtern aus. Nadine, Natascha und Kilian standen zusammen, neben ihnen sah ich Birgit, die sich zur Seite gewandt hatte. Ihre Schultern zuckten, aber keiner der anderen drei sah sich imstande, den Arm um sie zu legen.
Trauer ist die Welt, in der wir uns alle unserer Hilflosigkeit bewusst werden, in der wir mit uns selbst hadern; dort schlagen die Gedanken übereinander und die einfachsten Dinge der Welt – eine Umarmung, ein Händedruck, der Kopf, den ich an meiner Schulter ruhen und weinen lassen kann – all das funktioniert nicht so, wie es sollte. Es wird von der eigenen Unsicherheit, von dem gedanklichen Chaos, das Kopf und Körper beherrscht, zur Seite gedrückt, unter der Last der eigenen, unverstandenen Gedanken begraben.
Ich ging an Birgit vorbei.
Etwas weiter sah ich Christian, Mischa, Kirk und dessen Freundin im Kreis stehen. Auch sie rauchten alle. Während ich, etwas erleichtert, ein Ziel zu haben, auf sie zuging, griff ich in meine Tasche und drehte mir selbst auch eine Zigarette. Damals in der Schule hatten wir lange geübt. Jetzt beherrschten wir es alle, Kippen mit einer Hand unter dem Stoff zu drehen. Ich zuckte leicht zusammen, als ich mich erinnerte, wie Mel immer mit dabei gewesen war. Sie hatte es nie geschafft.
„Hey“, sagte ich, als ich die Gruppe erreicht hatte. Mehr fiel mir nicht ein. Ich zündete meine Zigarette an und wir standen eine Weile da. Ich ließ meinen Blick weiter kreisen und sah noch andere Gesichter; allen fehlte das Lachen von damals. Mein Unvermögen zu weinen versteckte ich hinter Erinnerungen an die Jahre, die ich mit vielen von ihnen geteilt hatte. Mehr konnte ich nicht tun.
Ich wußte nicht, wer der Erste war, der die Kapelle betrat. Im Strom treibend, kam ich am Kondolenzbuch vorbei und ergriff automatisch den Stift. Als ich unterschrieb, fiel mein Blick auf die erste Seite, wo ihr Name stand. Ein geschwungenes, wunderschönes blaues Band auf dem weißen Hintergrund.
Mischa nahm mir den Stift aus der Hand und ich bemerkte, daß ich viel länger als nötig auf das Buch gestarrt hatte. Wahrscheinlich dachten die wartenden Leute, daß meine Gedanken bei Mel weilten. Ich drehte mich um und ging weiter. Dabei kam ich mir wie ein Arschloch vor.
Mels Sarg stand perfekt in der Mitte des nicht allzu großen Raumes. Standard waren die Kränze mit vorgefertigten Sprüchen; ebenso die sieben Kerzenständer, von denen die vorderen drei fünf, die mittleren sechs und der größte, der genau am Kopfende des Sarges stand, sieben Kerzen trug. Neben den bunten Glasfenstern waren sie die einzige Lichtquelle.
Im Abstand von ungefähr zwei Metern waren um den Sarg herum Sitzreihen aufgebaut worden. Die meisten waren schon besetzt und ich stand etwas planlos im Eingang, bevor ich mich entschloß, mich erst einmal an die Wand zu meiner Linken zu stellen. Mir gebührte kein Platz in den vorderen Reihen.
Einige Minuten später war der Raum voll. Jetzt waren alle Sitze belegt und deshalb blieb ich an der Wand stehen. Neben mir standen noch einige andere, aus den Augenwinkeln heraus sah ich Kilian, Kirk und dessen Freundin. Sie weinte und sogar zwischen den Beiden hatte die Atmosphäre eine Mauer errichtet, denn Kirk konnte nicht mehr tun, als ihre Hand zu nehmen, um sie zu streicheln. Es wirkte hilflos.
Als sich in der hinteren Ecke die Tür öffnete und der Pastor in seinem schwarzen Gewand eintrat, hob ich den Kopf. Er war noch jung, hatte schwarz gelocktes Haar und trug einen Bart. In seinen gefalteten Händen hielt er einen Zettel. Ich vermutete, daß sich darauf seine Notizen befanden. Stichworte über eine Person, die er nie persönlich gekannt hatte, Erinnerungen der Familie, die er ihnen eines Nachmittags abgenommen hatte, um seine Rede mit treffenden Worten zu verfeinern. Ich hatte nie viel von diesen Reden gehalten und ich wußte, daß Mel es auch nicht getan hatte. Die Menschen, die in einer wirklich tiefen Trauer gefangen waren, würden nicht sehr auf die Einzelheiten achten, denn die Worte eines Fremden würden ihre Erinnerungen nicht auch nur ansatzweise erreichen. Leuten wie mir wird die Rede eines Pastors nie die Dimensionen des Verlustes klar machen können, so gut er auch reden kann. Es ist eine eigentlich stille Stunde, die alle nur zu überstehen hoffen.
Als der Mann sich zu dem Pult begab, sah ich sie.
Sie saß in der ersten Reihe, auf dem letzten Stuhl. Sie trug ein schwarzes Kleid und ihre halblangen, blonden Haare fielen in geordneten Strähnen auf ihre Schultern. Den Kopf hatte sie erhoben und ich konnte im Widerschein des siebenarmigen Kerzenleuchters die Tränen in ihren Augen glitzern sehen.
Diese Augen sind das Wunderbarste, was ich je in meinem Leben gesehen habe. Sie sind von einem klaren, strahlenden Himmelblau, von einem Himmel, wie er nur an ganz seltenen Tagen in den Frühlingsmonaten um die Mittagszeit das Firmament kleidet. Diese Augen sind so wunderschön groß, daß sich in ihnen jede auch nur schimmernde Ahnung von Licht fängt und sie, unendlich sanft und gleichzeitig voller Leben, wiederscheinen lässt. In ihren Augen leben ihre Gefühle und ich habe mich in diesen Augen verloren, vom allerersten Moment an.
Ich schwebe ganz tief dort drinnen.
Der Pastor war mitten in seiner Rede. Ich bemerkte es erst, als sie ihren Kopf senkte. Eine Träne fiel herab, spiegelte den Kerzenschein wider und ertrank in ihrem Schoß.
In diesem Moment traf mich ihre Trauer. Ich wollte zu ihr gehen, hätte alles gegeben, wäre es nur ein anderer Tag, eine andere Stunde und ein anderer Ort. Ich sah zu dem Sarg, in dem Mel lag. Wegen ihr waren wir alle hier. Wegen ihr geschah all dieses. Wegen ihr, ihrem Sarg, ihrer Familie und all ihren Freunden konnte ich nicht hinüber gehen. Konnte nicht in diese Augen sehen.
Wut befiel mich. Ich konnte Mel hassen ob dessen, was ihr geschehen war. Ich konnte hassen, daß ich so nah bei ihr bin, mit jedem meiner Gedanken, sie aber wegen Mel nicht erreichen kann. Aber ich konnte nicht mich selbst hassen; ich kam mir schlecht vor – die Gedanken, die ich dachte, waren es würdig, gehasst zu werden. Aber ich konnte es nicht. Ich bin auch nur ein Mensch. Das war es, was ich dachte, als ich wieder zu ihr hinüber sah.
Sie hatte den Kopf wieder erhoben und schaute auf den Sarg. Mit ihrer linken Hand wischte sie über ihre Augen, ohne den Blick abzuwenden. Mit all ihren Gedanken war sie bei Mel, war bei ihrer Freundin, die gestorben war. Ich liebte sie für die Intensität, mit der sie bei Mel weilte und um sie trauerte und ich hasste Mel, die den Platz einnahm, den ich mir so sehr wünschte.
Ich erinnerte mich an eines der wenigen Male, da sie mit mir gesprochen hatte. Es war Winter gewesen und der Schnee lag auf dem gesamten Schulhof. Ein kalter Wind schnitt die Luft und in der Raucherecke, die (wahrscheinlich mit Absicht) so gelegen war, daß der Wind von allen Seiten ungehindert Zugang hatte, war es lausig kalt. Alle zitterten.
Sie stand mir gegenüber. In ihrem schwarzen Mantel, mit dunklem Schal und blauer Mütze sah sie einfach umwerfend aus. Ihre rosigen Wangen leuchteten und in den Augen funkelte es. Ich war hilflos gebannt von ihr. Eine blonde Locke, die unter der Mütze hervorschaute, wurde von den Böen hin und her gewirbelt. Ich glaube, ich war der einzige, der sich der Kälte nicht bewusst war.
Das Stimmengewirr um mich herum war ein verschwommenes Etwas und nur ihre Stimme klang anmutig daraus hervor.
Sie vermisste einen Handschuh und nachdem sie jeden anderen gefragt hatte, sah sie mich an.
„Hey, du hast ihn nicht gesehen?“
Sechs magische Worte, die meine Gedanken dureinanderwirbelten.
Hatte sie bemerkt, wie ich sie die ganze letzte Stunde angeschaut hatte? Dachte sie, ich hätte ihn mir genommen? Ich wünschte, ich hätte es getan. Ich hätte ihn immer bei mir.
Ich sah sie an und vergaß, zu antworten. Ihre Augen nahmen mich gefangen.
Sie lächelte. „Ähem, hallo!“
Wie silberhelle Glockentöne klang ihre Stimme in meinen Ohren, zog mich aus dem himmelblauen Wasser ihrer Augen und ich stammelte eine Antwort. Ich bin froh, daß ich vergessen habe, was ich gesagt habe. Sie lachte darauf und ich bin mir immer noch sicher, daß sie mich nicht ausgelacht hatte, sondern mit mir lachen wollte. Ich lachte selber. Nach der Pause ging ich nach Hause. Das Ganze hatte mich zu sehr mitgenommen.
Als ich aus der Erinnerung auftauchte, hatte der Pastor seine Rede beendet. Alle waren still, während die Frau an der Orgel eine Melodie anstimmte. Der Gesang begann, doch sie sang nicht mit.
Sie schaute weiter auf den Sarg. Sie litt. Ich sah, wie die zum Trost bestimmten Töne an ihr vorbeiflossen. Ihr Herz war verkrampft und der Schmerz leuchtete hell aus ihren Augen; sogar er war schön, wenn er sich in ihren Augen bewegte. Sie stellte ihm nichts entgegen, ließ ihn frei handeln. Ich nahm ihren Schmerz wie ein Geschenk in mich auf und verharrte.
Dann endete der Gesang.
Sie sah noch immer auf den Sarg, als sechs Männer von draußen hereinkamen, ihre Mützen abnahmen und sich um Mel herum aufstellten.
Dann fasste ein jeder von ihnen einen der Henkel und sie trugen den Sarg nach draussen. Ich verlor sie aus den Augen, als die Menge hinter den Männern hinterherging. Automatisch schloss ich mich den Menschen an und wir bildeten eine Schlange. Mels letztes Geleit.
Ich stattdessen geleitete ihren Schmerz. Mel hatte ich für den Moment vergessen. Ich suchte sie, fand sie ein Stück vor mir. Sie ging allein.
Die Sonne stand etwas tiefer. Nicht viel, nach wie vor beleuchtete sie die großen Eichen und ließ ihre Strahlen von dem lebendigen Grün färben. Weiche Wolkenfasern durchzogen das Blau des Himmels.
Die Menschen hatten sich über den Vorplatz verteilt. Sie standen nicht zusammen, die meisten wirkten noch viel verunsicherter, als es mir vor einer Stunde erschienen war. Wir waren wieder in der Trauerwelt, die wie ein sanfter, unsichtbarer Schatten die wirkliche Welt mit ihrem schönen Wetter, mit den Menschen, die sich gegenseitig finden und trösten, überdeckt und uns ihre Fessel anlegt.
Am Rande der Straße stand ein Leichenwagen. Die Sargträger gingen auf die geöffnete Hecktür zu und hoben Mel langsam und sanft hinein. Dann nahmen sie wieder ihre Mützen ab, senkten die Köpfe und gedachten ihr ein letztes Mal. Es waren alte Männer. Sie hatten dies schon oft getan und schienen mir die einzigen, die über die Jahre gelernt hatten, die Fessel abzustreifen, um sich natürlich zu verhalten. Nach einigen Momenten schloss einer von ihnen die Tür und jemand startete den Motor. Der Wagen fuhr los und mit ihm verschwand Mel aus unserer Welt.
Wartend stand ich zwischen Natascha, Mischa und Christian. Keiner von uns wusste, wie der nächste Schritt zu tun war.
Mels Familie stand an der Straße und blickte dem Wagen nach. Die ersten Verwandten schlossen sich ihnen an, nahmen die Weinenden in den Arm, suchten nach den richtigen Worten, fanden sie nicht und ließen schließlich wieder ab, um zu ihren eigenen Wagen zu gehen. Die Abenddämmerung dieser trauernden Welt brach herein und als die ersten Motoren liefen, kam Bewegung in den Rest der Menge. Diejenigen, die sich trauten, gingen Richtung Straße, um ihr eigenes Glück zu probieren. Andere gingen einfach gleich zum Parkplatz. Das war wahrscheinlich die angenehmere Weise, die auch ich wählte.
„Macht’s gut.“ Sagte ich zu den anderen, die sich noch nicht sicher waren, welchen Weg sie wählen sollten. Einige nickten, die meisten schauten aber auf den Boden. Ich drehte mich um und ging.
Am Rande des Parkplatzes sah ich sie wieder.
Sie war immer noch allein.
Ihr Haar leuchtete in der Sonne, Tränen glänzten auf ihren Wangen und mit jedem Schritt, den ich in ihre Richtung tat, verließ ich die trauernde Welt, erreichte die Zwischenwelt ihrer Gefühle, meiner Wünsche, Erinnerungen und Hoffnungen. Laut hörte ich den Kies unter meinen Füßen knirschen. Meine Gedanken wirbelten durcheinander.
Ich könnte zu ihr gehen, dachte ich. Ich könnte sie umarmen, ihr sagen, wie sehr es wehtut, daß Mel gestorben ist. Sie könnte an meiner Schulter weinen und ich könnte sie trösten. Wir können uns ihre Trauer teilen.
Ich ging weiter auf sie zu. Sie sah mich an und mit jedem Schritt wurde ihr Gesicht klarer, immenser. Die Umgebung wurde unwichtig. Ich vergaß das Geräusch meiner Schritte. Ich sah in ihre großen, verletzlichen Augen. Ihr Schmerz füllte sie aus. Ich verstand sie. In diesen Augen war ich daheim.
Ohne ein Wort nahm ich sie in die Arme. Sie umschloß mich mit den ihren und wir wurden eine geschlossene Einheit, eine kleine Welt inmitten dieser großen. Sie legte ihren Kopf an meine Schulter und weinte. Ich hielt sie fest, genoss das Gefühl ihrer Tränen, die den Stoff meiner Jacke durchnässten. Ich fuhr ihr mit meinen Fingern durch das blonde Haar, strich über jede einzelne Strähne, fühlte die Rundung ihres Kopfes, den Ansatz des Nackens, legte meine Hand auf die Muskeln, die sich leicht bewegten. In dieser Welt stand die Zeit still und in meinem Kopf rauschte ein Gedanke, von den Empfindungen der ganzen Jahre genährt.
Ich liebe dich.
Ich liebe dich.
Bei Gott, ich liebe dich.
„Ich liebe dich.“ Murmelte ich, Wange an Wange mit ihr.
Und dann platzte die Welt, die ich uns erschaffen hatte.
Ich hörte die Geräusche der davonfahrenden Wagen, hörte, wie Menschen um mich herum weinten. Ich roch die Herbstluft, roch ihre Tränen und meinen eigenen Schweiß.
Ich sah ihr Gesicht, denn sie hatte ihren Kopf erhoben. Sie hatte ihre Hände von mir gelöst und hatte sich von mir weg bewegt. Ihre wunderschönen Augen sahen mich an und ich glaubte, Verwirrung in ihnen zu erkennen, die sich für einen Augenblick über den Schmerz erhoben hatte. Auf der Heimfahrt wurde mir klar, das es Unverständnis gewesen war.
„Was? Was hast Du gesagt?“
Ich versuchte, sie anzusehen, aber es funktionierte nicht. Stattdessen sah ich über ihre Schulter zum Parkplatz hinüber.
„Ich ....“
Ich löste mich von ihr und ging zu meinem Wagen. Ich drehte mich nicht um und sie rief nicht nach mir. Ich stieg ein und verließ diesen Ort.
Es schmerzt mich, daß ich Unverständnis in ihren Augen zurückgelassen habe. Ich hätte den Schmerz vorgezogen. Er war schöner.