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Dies Ater ("Schwarzer Tag")
Ein Blitz durchbrach die Dunkelheit und ließ eine schemenhafte Gestalt auf der Spitze eines Kirchturms erkennen.
Gezeichnet von einem schweren Kampf legte ich meinen rechten Arm müde um das eiserne Kreuz.
Ich hatte mehrere kleine Wunden am Gesicht und an den Händen. Der gerade einsetzende leichte Regen erlaubte mir sie behelfsmäßig zu säubern. Das kleine Rinnsal meines Blutes vermischte sich mit Regenwasser und floss langsam die Wände des Kirchturms hinunter.
Zweiundzwanzig Meter unter mir eilte gerade ein durchnässter Priester, der zu spät zur Mitternachtsmesse kam, schnellen Schrittes auf das Kirchentor zu, als ein weiterer Blitz die Dunkelheit der späten Stunde für einen Augenblick vertrieb.
Erstaunt blieb der Priester stehen, richtete seine Augen starr auf den blutenden Kirchturm und murmelte: „Una salus victis nullum sperare salutum!“ („die einzige Rettung für die Besiegten ist, auf keine Rettung zu hoffen“). Der Priester bekreuzigte sich und rannte bestürzt in das innere der Kirche.
Noch immer schlug mein Herz mit überhöhter Frequenz als ich plötzlich ein Geräusch hinter mir wahrnahm. Schwermütig drehte ich mich um, meinen rechten Arm immer noch am Kreuz eingehakt.
Mein Blick schweifte über das Kirchendach, bis zum anderen Ende. Dort tauchte eine gewaltige dunkle Silhouette auf, wie der Kopf eines riesigen Drachens, der sich gerade zur vollen Größe erhob.
Es war ein Hubschrauber, ausgestattet mit einem modernen Schalldämpfer um die Geräusche der Rotorblätter zu verschlucken.
Die Seitentür des Hubschraubers öffnete sich und drei dunkle Gestalten sprangen heraus. Katzengleich landeten sie auf dem Kirchendach und bewegten sich langsam auf mich zu. Sie hatten es nicht eilig, denn es schien als säße ich in der Falle.
Ich richtete mich aus meiner halb knienden Haltung auf und streifte meinen Rucksack ab, um etwas herauszunehmen.
Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen trat ich an den Rand des Kirchendaches, warf einen letzten Blick auf die herannahenden Gestalten und rief: „Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit!“ („es hat keinen großen Geist ohne Beigabe von Verrücktheit gegeben“).
Wie ein Turmspringer der sich darauf vorbereitet vom 10-Meter Brett zu hechten, stellte ich mich hin, meine Arme links und rechts vom Körper weggestreckt.
Just in diesem Moment kam der Priester und Geleit, mit Taschenlampen bewaffnet aus der Kirche herausgerannt um den anderen Mitgliedern seiner Glaubensgemeinde die blutende Kirchenwand zu zeigen.
Das Licht einer der Taschenlampen folgte der Blutspur die Wand hinauf und beleuchtete schließlich meine Gestalt, welche mit blutigen Händen und einer blutigen Stirn in gekreuzigter Haltung auf dem Kirchenturm stand.
Die Menschen schrieen, weinten, bekreuzigten sich.
Indessen stieß ich mich ab und stürzte in die Tiefe. Im Fallen klammerte ich mich fest an den Gegenstand den ich zuvor meinem Rucksack entnommen hatte und benutzte ihn.
Der Regenschirm öffnete sich und bremste meinen Fallgeschwindigkeit bedeutend ab. Dennoch schlug ich mit meinen Füßen so hart auf dem Asphalt auf, dass eine Staubwolke aufwirbelte und in konzentrischen Kreisen um mich herum, mehrere Zentimeter über dem Boden, davon wehte.
Sofort wurde ich von den Kirchengängern und dem Priester umringt, die mich für den neuen Messias hielten.
Ich klappte meinen Schirm zusammen und verstaute ihn wieder in meinem Rucksack.
Ohne mich um die Menschen um mich herum zu kümmern sprintete ich los.
Ich blickte über meine linke Schulter. Die drei mysteriösen Gestalten sprangen ebenfalls vom Kirchendach... Regenschirme hatten sie nicht nötig.
Dreimal ertönte ein dumpfes Geräusch als die Wucht ihres Aufpralls den Asphalt unter ihren Füßen zersplittern ließen. Ohne Atempause, in einer fließenden Bewegung, drehten sie sich in meine Richtung und nahmen die Verfolgung auf.
Während ich auf eine belebte Hauptstraße zusteuerte, kamen mir zwei Worte in den Sinn:
„Dies ater“.