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- 23.11.2003
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Diejenigen, die
Das Leben ist nicht fair. Im Prinzip wusste ich das schon immer, aber es wurde mir auch immer wieder mit besonderer Deutlichkeit gezeigt, falls ich es doch einmal vergessen haben sollte.
Menschen sind naiv, blind und dumm. Um das zu wissen, muss man sich lediglich einmal die Geschichte der Menschheit ansehen, in der so viele, die versucht haben, neue Ideen in die Gedanken des "schlausten Lebewesens der Erde" zu bringen, umgebracht oder ausgestoßen wurden. Gallileo, der als erster wusste, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, zahlreiche sogenannte "Hexen" und "Ketzer", die sich einfach mit alternativen Heilmethoden auseinandersetzten, und viele viele andere, die aufzuzählen die Kapazitäten dieser Erzählung übersteigen würde.
Ich selbst bin einer von denen, die ausgestoßen wurden von einer Gesellschaft, in der es keinen Platz für Neues gibt. Allerdings sind die Methoden der modernen Welt, dergleichen zu tun, subtiler, heimtückischer und verlogener- eben moderner- als damals. Statt Ungewünschtes einfach zu verbrennen oder sonstwie zu beseitigen, wird man heute schlicht "eingeliefert". In eine Psychiatrie, um genau zu sein. Dem Ort, der seit fast vierzig Jahren so etwas wie mein Zuhause geworden ist. Aber auf eine Art hat man mich ebenso getötet, als ich eingeliefert wurde, wie viele andere vor mir, die durch Gift, Flammen oder an der Guillotine starben. Damals war ich zwanzig und hatte, seit ich siebzehn war, versucht, die Menschen von ihrem Irrtum abzubringen und sie auf den richtigen Weg zu führen, wenn nötig mit Gewalt. (Es war leider oft nötig. Ich bin kein gewalttätiger Mensch und bin es nie gewesen, aber leider leider ließ es sich von Zeit zu Zeit nicht vermeiden) Die Behörden entschieden irgendwann, ich sei eine Gefahr für meine Mitmenschen, begriffen nicht, dass ich nur das Beste wollte und buchteten mich ein. Es gab immer wieder Perioden, in denen ich freikam, aber ich wurde, um es mit ihren Worten zu sagen, immer wieder "rückfällig". Was erwarteten sie, dass ich den Sinn meines Lebens aufgab, die Menschen zu bekehren?
Dies ist ein Schrei nach Hilfe. Es geht mir nicht um mich, sondern um die Menschen, die endlich von ihren Irrtümern befreit werden müssen. Deshalb schreibe ich auf, was mir vor über vierzig Jahren die Augen geöffnet hat, in der Hoffnung, dass noch viel mehr Menschen aufwachen und endlich erkennen, dass ich die ganze Zeit über Recht hatte.
Der Tag, an dem ich Theodora begegnete, begann wie viele andere auch. Ich lag an einem Vormittag mitten im Sommer auf einer Wiese im Stadtpark auf dem Rücken, die Knie angewinkelt, und starrte nach oben. Was ich dort sah: blauen Himmel mit kleinen Wölkchen, viele Bäume beziehungsweise deren grüne Kronen und noch viel mehr Vögel. Sie schwirrten umher, sie sangen, sie pfiffen, sie fiepten. Manche quakten- das waren die Enten.
Da lag ich, und ich dachte darüber nach, ob es einen Gott gab, und wenn es einen gab, wie er wohl auf die Idee gekommen war, Vögel zu erfinden. "Eigentlich sind die doch ziemlich unnütz", dachte ich. "Aber irgendwie muss er sich ja etwas dabei gedacht haben, also ist er wohl doch ziemlich schlau, denn er hat ja schließlich auch das Gehirn erfunden, und all die anderen nützlichen Dinge am Körper, und noch eine ganze Menge mehr." Ich war tief beeindruckt in diesem Moment. Mir wäre so etwas nicht so leicht gefallen. Gott hatte nur sieben Tage gebraucht- eigentlich sogar nur sechs.
Ich war siebzehn Jahre alt. Manchmal ging ich zur Schule, manchmal nicht. Das lag immer ganz daran, ob ich gerade Lust hatte oder nicht, und auch, ob ich gerade verliebt war oder nicht. Meistens war ich verliebt, in irgendein Mädchen. Aber es ging nie soweit, dass ich eines ansprach, das hatte ich nicht nötig. Ich war ein Träumer.
So lag ich auf dieser Wiese im Park und dachte nach. Kurz schloss ich meine Augen, und als ich sie wieder öffnete, saß Theodora neben mir. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich natürlich noch nicht, dass sie so hieß, ich sah nur ein sehr komisches Wesen, das mich betrachtete.
"Hallo!", begrüßte Theodora mich. Ich antwortete nicht. Ich konnte sie nur anstarren und mich über die Reaktion der anderen Menschen in dem brechendvollen Park wundern, die weitermachten wie bisher und keinen Blick an Theodora verschwendeten. Schließlich war Theodora nicht gerade eine alltägliche Erscheinung. "Wer bist du?", fragte ich, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden hatte. "Mein Name ist Theodora", erwiderte das Wesen mit einem feinen Lächeln.
"Und was bist du? Woher kommst du und was willst du von mir?" Ich stellte noch mehr solcher ziemlich seltsam anmutenden Fragen, doch sie antwortete stets nur mit ihrem Lächeln.
"Die Welt ist voller Wunder", stellte Theodora fest, als ich endlich schwieg. War sie gekommen um mir das zu sagen? Das fremdartige Wesen breitete das aus, was man bei Menschen Arme nennt. "Schau dir diese Menschen an!", forderte es mich mit einem Seufzen auf. "Sie alle haben Augen wie du, aber keiner von ihnen kann mich sehen. Weil sie es nicht wollen."
Eine Pause entstand. Ich schwieg und dachte nach. Was wollte Theodora mir sagen? Dass ich etwas Besonderes oder gar auserwählt war?
"Du fragst dich, ob es einen Gott gibt." Theodora blickte mich an. "Nun, die meisten Menschen dieser Erde glauben daran, in verschiedener Weise. In manchen Ländern heißt er Allah, in manchen Jahwe. Manche Völker glauben an mehrere Götter. Sie beten, diese Menschen, sie bringen Opfer und flehen um Gnade. Sie bauen Kirchen und Moscheen, eine schöner und prachtvoller als die andere. Die Menschen sind dumm, Martin." Woher wusste sie, wie ich heiße? "Nur die wenigsten von ihnen fragen sich, ob alles stimmt, woran sie glauben. Fast alle nehmen an, was ihnen über ihre jeweilige Religion beigebracht wird und geben es dann an ihre Kinder weiter, vielleicht in einer etwas moderneren, zeitgemäßeren Variante. Die Oberfläche stellen sie vielleicht mal in Frage, das schon. Aber nicht das Essenzielle, das, worauf es wirklich ankommt. Natürlich gibt es auch Leute, die glauben an gar nichts, die Atheisten, früher wurden sie Heiden genannt. Für alle diese Menschen gibt es nur schwarz oder weiß, entweder es gibt einen oder mehrere Götter oder - im Falle der Satanisten- etwas Gottähnliches wie den Teufel, oder es gibt eben gar nichts. Viele Gedanken haben sich die Menschen im Laufe der Jahre darüber gemacht, wer ihre kleine Welt regiert. Aber sie alle sind nicht annähernd zum richtigen, einzig wahren Ergebnis gekommen. Sie sind alle nicht darauf gekommen, dass es UNS gibt!" "Uns?", fragte ich. Nur, um auch mal wieder etwas zu sagen. "Uns!" bekräftigte Theodora. "Uns, die Namenlosen, auch ´diejenigen, die` genannt. In Wahrheit waren wir es, die die Welt erschaffen haben, wir und nur wir. Es gibt keinen Gott und schon gar nicht mehrere. Wir haben nicht sieben Tage gebraucht, die Welt zu erschaffen, sondern viele tausend Jahre. Wer kann schon in sieben Tagen eine ganze Welt erschaffen? Es war eine Heidenarbeit, sage ich dir! - Und dann kam Herbert." "Herbert?" "Ja. Er hat den ganzen Ruhm für unsere Arbeit kassiert. In Wirklichkeit ist er nur ein ganz normaler Mensch, einer, der ein bißchen zaubern kann, zugegeben. Aber auch nicht so viel, wie er gerne zu behaupten pflegt! Jedenfalls ist uns schleierhaft, wie er an unseren perfekt ausgebildeten Sicherheitsleuten vorbei gekommen ist. Naja, dann hat er einen Sohn gezeugt - und der Frau ein "Anti-memory"-Gift gegeben, um sie glauben zu lassen, sie sei noch Jungfrau -, der verbreiten sollte, wie toll sein Vater ist. Hat ja auch wunderbar funktioniert. Jetzt sitzt Herbert da oben im Himmel - in unserem Himmel - und lacht sich kaputt über die dummen Menschen, wie sie jeden Sonntag zur Kirche laufen, für ihn fasten, verschleiert gehen und Feste feiern. Er lacht über sie und zaubert ab und zu ein Erdbeben oder eine Dürreperiode, um sie für ihre Dummheit zu bestrafen. Doch damit muss jetzt Schluss sein! Und du musst uns helfen, es zu beenden." "Ich?", fragte ich und wusste, daß sie mir anmerkte, wie wenig Lust ich dazu hatte und wie sehr ich mich noch dazu damit überfordert fühlte. "Aber wie denn?" "Ganz einfach", entgegnete Theodora. Ihre Stimme klang seltsamerweise sehr zufrieden. "Du wirst einfach den Menschen erzählen, wer ihre wahren Schöpfer sind, nämlich wir, diejenigen, die. Alles wird viel besser werden für die Menschen. Für uns müssen sie keine Opfer bringen, nicht beten und nicht fasten. Und wenn niemand mehr Herbert anbetet, wird er sterben, denn das ist die Grundlage seiner Existenz. Das bedeutet, es wird keine Naturkatastrophen mehr geben. Ist das nicht toll? Also, nun geh und erzähle den Menschen von denjenigen, die. Viel Glück!" "Aber niemand wird mir glauben!", rief ich verzweifelt, doch Theodora war schon verschwunden.
"Diejenigen, die", rauschte der Wind in den Bäumen.
Und so ging ich, und erzählte den Menschen von Theodora, und dass es keinen Gott gibt, nur einen bösen zaubernden Menschen namens Herbert. Niemand glaubte mir, stattdessen sperrten sie mich ein. Theodora begegnete ich nicht wieder, aber sie hat mein Leben dauerhaft verändert. Und vielleicht - hoffentlich- wird diese Geschichte das Leben vieler anderer Menschen ebenso beeinflussen. Sodass ich es im Nachhinein doch noch schaffe, die Welt zum richtigen Glauben zu bekehren. Sonst wird Herbert für alle Zeiten nur Unglück über die Menschen bringen.