Was ist neu

Diehsels Drama

Mitglied
Beitritt
02.02.2003
Beiträge
133
Zuletzt bearbeitet:

Diehsels Drama

Als ich heute morgen den Schulbus bestieg, murmelte ich gedankenverloren mein übliches „Guten Morgen, Diehsel“. Ich tat dies ganz automatisch, wie an jedem Tag, an dem ich zur Schule muss. Erst als mein Blick auf den Jungen fiel, der da vorne hinter dem Lenkrad saß und der mich verlegen anschaute, bemerkte ich meinen Irrtum. Die Röte schoss mir ins Gesicht und ich stammelte eine unverständliche Entschuldigung. Wie konnte ich nur so dumm sein? Wie konnte mich die Macht der Gewohnheit so geblendet haben, dass ich vergessen hatte, dass Hannes Diehsel gar nicht da sein konnte? Ja, ich hatte sogar verdrängt, dass er nie wieder hinter dem Steuer seines geliebten Busses sitzen würde. Mein „Guten Morgen, Diehsel“, das mir über all die Jahre hinweg so in Fleisch und Blut übergegangen war, war überflüssig geworden.

Fünfundzwanzig Jahre lang teilte ich den Weg von meiner kleinen Wohnung zum Gymnasium mit Hannes Diehsel. Wir fingen beide am gleichen Tag an. Ich als Lateinprofessor und Diehsel als Fahrer der öffentlichen Verkehrsbetriebe unserer Stadt. Ich kann mich an keinen Tag in all diesen Jahren erinnern, an dem Diehsel nicht im Dienst gewesen wäre. Und ebenso wenig fällt mir ein Tag ein, an dem Diehsels Bus nicht um Punkt zwei nach halb acht in meine Gasse eingebogen wäre. Seine Pünktlichkeit war legendär. „Ja servus, Professor“, pflegte er auf meinen Gruß zu antworten.

Meine Station ist die erste auf dieser Strecke, und so konnte ich stets den gleichen Sitzplatz besetzen – immer den, der dem Fahrer am nächsten war. Dadurch hatten wir Gelegenheit, jeden Morgen ein paar Worte zu wechseln. Aber immer nur, wenn der Bus an einer Haltestelle stehen blieb, denn während der Fahrt war das Sprechen mit dem Fahrer verboten. So stand es auf dem Schild, das über Diehsels Kopf angebracht war. „Ist Vorschrift“, meinte Diehsel einmal und daran hielten wir uns. Ich weiß nur wenig über den Menschen Hannes Diehsel, aber Vorschriften, Regeln und Verordnungen hatten eine besondere Bedeutung für ihn. Es machte auf mich den Eindruck als wären sie der Kitt, der sein Leben zusammenhielt. Und geregelt verlief auch unsere Konversation. Wir hatten im Lauf der Jahre unseren eigenen Plauderfahrplan entwickelt: Michaelisplatz – das Wetter, Altes Rathaus – Politik, Lange Gasse – Sport, Joaneumsgasse – Schulklatsch. Danach kam meine Station, das Franklin-Gymnasium.

Ein einziges Mal habe ich versucht, unser Gesprächsregulativ zu unterlaufen. „Gehst du auch mal ins Theater?“, fragte ich Diehsel in den dreißig Sekunden, die der Fahrplan für den Halt vor dem Alten Rathaus vorsah. Er drehte sich zu mir um, schenkte mir nur einen verwunderten Blick und wandte sich wortlos wieder der Straße zu. Dabei schüttelte er seinen Kopf, ganz so, als würde er sich fragen: „Was soll das denn?“ Ich wurde verlegen, hatte ich doch frevlerisch gegen unsere Regel aufbegehrt. Es sollte nie wieder vorkommen. Bis letzten Freitag.

Wir fuhren, wie nicht anders gewohnt auf die Minute genau, in die Station Joaneumsgasse ein, da drehte sich Diehsel zu mir um. „Sag Professor“, begann er, „Der Tod. Fürchtest du dich vor dem?“ Ich war sprachlos. Der Mund klappte mir einmal auf und dann wieder zu. „Darüber hab ich noch nicht nachgedacht, Diehsel“, war alles, was ich endlich herausbrachte. Und dann geschah etwas ganz Unerhörtes. Mit einer langsamen Drehung schwang Diehsel seine Beine herum und stand auf. Er brach eine Regel! Längst hätte sich der Bus wieder in Bewegung setzen müssen, aber Hannes Diehsel lehnte sich gemächlich an eine Haltestange und wirkte, als hätte er alle Zeit der Welt. Inzwischen waren auch die anderen Passagiere auf ihn aufmerksam geworden. Viele von ihnen kannten den zuverlässigen Diehsel schon jahrelang und keiner sagte ein Sterbenswort.

Lange sah er mich nur an und ich erwiderte seinen Blick, versuchte in seinem Gesicht zu ergründen, was ihn bewegte. Aber da war nichts, außer Gelassenheit. „Er wird so schlimm nicht sein, was meinst du, Professor?“, sagte er schließlich so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte. „Jeder von uns geht einmal, Diehsel“, antwortete ich, „Und so ist das auch in Ordnung.“ Diehsel nickte ernst und betrachtete dabei seine Schuhe. „’s ist sicher eine gute Ordnung, was?“, murmelte er. Dann wieder so, dass jeder ihn verstehen konnte: „Servus Professor.“ Danach stieg Hannes Diehsel aus und entfernte sich unter dem Gemurmel der Fahrgäste von seinem Bus. Ich starrte ihm nach und sah ihm zu, wie er ruhigen Schrittes die Joaneumsgasse entlangschlenderte, bis er in die nächste Seitengasse einbog und verschwand.

Der Selbstmord des Hannes Diehsel löste unter denen, die ihn flüchtig gekannt hatten, Verwunderung aus. Ich selbst war bestürzt. Meine halbherzigen Recherchen nach den Gründen für seine Entscheidung brachten nichts ein. Es gab niemanden, der ihm sonderlich nahe gestanden hatte und der mir einen Anhaltspunkt hätte liefern können, warum Diehsel es vorgezogen hatte, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden. War es eine schlimme Krankheit, die ihre grauen Finger nach ihm ausgestreckt hatte, und deren qualvolles Ziel er nicht erreichen wollte? Oder hatte sich ein dunkler, ihn vollkommen beherrschender Schatten über Diehsels Verstand gelegt, der ihn keinen anderen Ausweg mehr sehen ließ? Ich weiß es nicht. Und so bleibt mir nichts anderes, als Hannes Diehsel am nächsten Donnerstag, neun Uhr, am städtischen Friedhof die letzte Ehre zu erweisen.

Ich werde pünktlich sein.

 

Hallo journey!

Eine wunderschöne Geschichte, die über den Sinn des Lebens nachdenken läßt - und darüber, wie es ist, wenn man keinen sieht.
Einwandfrei geschrieben ist sie obendrein, sodaß ich gar nichts zu meckern habe. :)

Was ich besonders positiv finde, ist, daß Du zwar über einen Selbstmord schreibst, ihn aber nicht vorführst. Ich muß ihn als Leser nicht mitansehen, Du läßt Diehsel einfach in der Gasse verschwinden... :thumbsup:

War eine reine Lesefreude. :)

Liebe Grüße,
Susi

 

Eine Bombengeschichte die du da geschrieben hast, journey2heaven.

Mir gefällt, wie du die eigentlich nicht existente Freundschaft der beiden beschreibst, wie der Professor versucht, so viel wie möglich in den einsamen Busfahrer hineinzuinterpretieren oder zu ergründen.

In Wirklichkeit bastelt sich der Professor seinen eigenen Hannes Diehsel zusammen, weil er den echten Herr Diehsel ja immerhin nicht wirklich kennenlernen durfte, es aber gerne würde.

Andererseits genießen die beiden ihr tägliches Geplänker im Bus, es ist etwas, wobei keiner der beiden je falsch liegen könnte, etwas absolut sicheres, einfaches, aber trotzdem gutes. Soetwas findet man selten im Leben, soetwas verleiht ein klitzekleines Stück Selbstsicherheit mehr und wird mit der Zeit zu einem richtigen Ritual, welches für den jeweiligen Tagesablauf sehr wichtig ist.

Deine Geschichte gefällt mir einfach, auch dein Erzählstil ist mir sympathisch, nur schade, dass es nicht mehr Kritiken zu diesem mM nach tollen Text gibt.

 

Deine Geschichte gefällt mir einfach, auch dein Erzählstil ist mir sympathisch, nur schade, dass es nicht mehr Kritiken zu diesem mM nach tollen Text gibt.
Na Jingles, was erwartest du, kaum eine Stunde nachdem die Geshcihte online ist. ;)

Aber kommen wir zur Hauptperson.

Hallo Journey2Heaven,

Ich gebe zu, ich musste mich in deine Geschichte ein bisschen einlesen. Sie beginnt mir noch etwas zu behäbig. Die selbstzerfleischenden Gedanken des Professors im ersten Absatz sind mir etwas zu dick aufgetragen. Für mein Gefühl könntest du auch auf diesen teil verzichten:

Wie konnte ich nur so dumm sein? Wie konnte mich die Macht der Gewohnheit so geblendet haben, dass ich vergessen hatte, dass Hannes Diehsel gar nicht da sein konnte? Ja, ich hatte sogar verdrängt, dass er nie wieder hinter dem Steuer seines geliebten Busses sitzen würdeMein „Guten Morgen, Diehsel“, das mir über all die Jahre hinweg so in Fleisch und Blut übergegangen war, war überflüssig geworden.
Dann nimmst du auch den Tod von Diehsel nicht schon vorweg, auch wenn ein Überraschucngseffekt sicher nicht Hauptmerkmal dieser Geschichte sein sollte.
Jetzt schaffe ich es hoffentlich auch räumlich, den positiven Eindruck, den ich von deiner Geschichte habe größer darzustellen, als dieses kleine Manko. Ich mag stille unspektakuläre Geschichten, und eine solche ist dir sehr gut gelungen. Du hast die Busfahrbeziehung wunderbar liebevoll beschrieben, so wie man eben kleine Alltagsgewohnheiten lieb gewinnen kann. Du hast Diehsel, wie der Professor ihn erlebt, glaubwürdig und liebenswert beschrieben. Dein Schlusssatz rundet den Plot Diehsel zu Ehren wunderbar ab.
Es ist schade, dass wir oft so wenig wissen (wollen) über die Menschen, die uns täglich das Leben erleichtern, die irgendwie dazu gehören, auch wenn wir das erst merken, wenn wir sie vermissen. Diesen gedanken bringt deine Geschichte sehr schön zum Ausdruck.

Lieben Gruß, sim

 

herzlichen dank für eure reaktionen und kommentare. sehr gefreut hat mich, dass ihr wenig bis gar nicht auf stilistische mängel (und die gibt es noch haufenweise) eingegangen seid, sondern dass ich wirklich an euren ureigenen eindrücken und gedanken, die euch beim lesen des textes gekommen sind, teilhaben durfte.

@sim: vollkommen korrekt; das loslassen eines knalleffektes war absolut nicht meine intention. und bei der sache mit dem etwas ausufernden selbstgeisselungs-sermon des prof. hast du wahrscheinlich recht. hier werde ich noch ein wenig rumbasteln.

lg p.

 

Es wurde auch mal Zeit, dass jemand hier sozialkritische Aspekte hineinbringt, wenngleich ich ein Verschieben in die Rubrik "Gesellschaft" hier mal laut andenken möchte.

Gelungene Geschichte, möchte nur kritisch anmerken, daß sie mir etwas männerdominiert zu sein scheint.

 
Zuletzt bearbeitet:

@nachoben: es wirkt irgendwie, als hättest du gezielt meine geschichten im visier. ähm. :D

bezüglich der männerdominanz werde ich in mich gehen und mir vier, fünf marian-keyes-romane reinziehen. mal sehen, ob das diese blöde matscho-blockade bricht. :D

lg p.

 

Wieso denn bitteschön männerdominiert? Dieses Argument ist doch mehr als nur an den Haaren herbeigezogen! Soll der Autor jetzt künstlich und völlig unnötig ein paar Frauenrollen in dieser Geschichte installieren, nur damit man alle radikalen Feministinnen zufrieden stellt?

 

künstlich und völlig unnötig?? stell dir mal die dramatische versinnblildlichung des spannungsbogens in form eines pushup-bhs vor, den diese zweifellos ambitionierte geschichte erfahren würde, griffe der autor auch hier auf seine offenbar durch das aufwachsen in einem frauenhaushalt, die aufzucht dreier töchter oder der unerfüllten liebe zu seiner englischprofessorin authentisch anmutenden frauenverstehermasche ...

 

Keine Ahnung auf was du dieses Argument jetzt aufbauen willst, aber ich sehe noch immer nicht ein, warum journey2heaven unbedingt eine Frauenrolle in dieser Geschichte einbringen soll.

Ich verstehe auch nicht, warum überhaupt die Behauptung im Raume steht, die Geschichte sei männerdominiert, ich bezeichne ja auch Stories, in denen Frauen die tragenden Rollen spielen, nicht als sexistisch.

Und selbst wenn eine Geschichte "männer,- oder frauendominiert" wäre, so würde ich dies ausschließlich der künstlerischen Aussage des Autors zukommen lassen.

Sexistische oder frauenfeindliche Andeutungen kamen nicht mal ansatzweise vor, weshalb ich echt den Sinn dieses Argumentes nicht nachvollziehen kann.

Bitte erkläre das doch mal näher, ich würde deinen Verbesserungsvorschlag wirklich gerne nachvollziehen können, mit freundlichen Grüßen,

Jingles

 

geschätzter jingles,

gegenfrage: was hat "etwas männerdominiert" mit "sexistisch" zu tun? ich meine, der grund für diehsels selbstmord war doch ganz offensichtlich eine frau, findest du das etwa ok???

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom