Die zweite Hälfte
Die zweite Hälfte geht immer schneller vorbei.
Im Großen wie im Kleinen. Egal, um was es sich handeln mag.
Die zweite Hälfte geht immer schneller vorbei.
Es ist ähnlich der Situation, wenn Sie mit dem Fahrrad über einen lang gezogenen Hügel fahren.
Bergauf haben Sie die Schwerkraft zu überwinden und Sie strampeln sich ab, um überhaupt von der Stelle zu kommen, während Ihnen die Schweißperlen von der Stirn tropfen. Sie können sich nur schwer vorstellen, dass sich an dieser Situation irgendwann einmal etwas ändern soll, denn der Kamm des Hügels scheint trotz aller Bemühungen einfach nicht nähern kommen zu wollen.
Doch sobald Sie einmal über den Gipfel hinweg sind, läuft es wie von selbst. Die Schwerkraft ist plötzlich Ihr Freund und Sie können sich einfach rollen lassen, während der kühle Fahrtwind die Schweißtropfen auf Ihrer Stirn trocknet.
Die zweite Hälfte geht immer schneller vorbei.
Sie schauen sich im Kino ‚Die zehn Gebote‘ an, vielleicht ist es auch ‚Cleopatra‘ oder ‚Der mit dem Wolf tanzt‘. Sie haben den Film möglicherweise schon drei oder vier Mal im Fernsehen gesehen, aber solche Filme kann man eigentlich nur auf der großen Leinwand richtig genießen. Das Popcorn war zwar überteuert, schmeckt aber ausgezeichnet, die Klimaanlage im Saal arbeitet ausnahmsweise einmal einwandfrei und die Lautstärke ist optimal eingestellt. Ein wirklich gelungener Abend.
Ein kleines Problem gibt es da allerdings und dieses Problem dauert etwa vier Stunden.
Der Kinosessel, der über eine solche Distanz ein bequemes Gefühl vermitteln kann, muss erst noch erfunden werden. Vermutlich sitzt Kevin Costner bei seinem Ritt durch die Prärie wesentlich bequemer auf seinem Gaul als Sie auf Platz C 13 in Kino 6. Auch mit Charlton Heston würden Sie gerne tauschen. Zwar ist eine vierzigjährige Wanderung durch die Wüste auch kein Zuckerschlecken, aber man bekommt zumindest ausreichend Bewegung. Von Liz Taylor, die sich gemütlich in der Sänfte tragen lässt wollen wir gar nicht erst reden.
Um es kurz zu machen: nach der Hälfte des Films schmerzt Ihnen schon gewaltig das Hinterteil, das Popcorn ist alle und die Luft ist nun doch nicht mehr so gut, wie es am Anfang ausgesehen hatte.
Dennoch besteht kein Grund zur Sorge, denn wenn Sie die ersten zwei Stunden hinter sich gebracht haben, werden die letzten beiden Stunden wie im Flug vergehen. Denn eines ist sicher:
Die zweite Hälfte geht immer schneller vorbei.
Es ist Juli und Sie sind gerade auf Kreta, in Spanien, in Kanada oder wo immer Sie gewöhnlich Ihren Sommerurlaub verbringen, angekommen. Das Wetter ist hervorragend, die Unterkunft ausgezeichnet und das Essen schmeckt Ihnen so gut, wie schon lange nicht mehr. Herrliche vierzehn Tage liegen vor Ihnen und an zuhause verschwenden Sie keinen Gedanken.
Ist aber erst einmal die erste Woche vergangen, so können Sie eigentlich schon mal langsam an das Kofferpacken denken, denn wie ich schon sagte:
Die zweite Hälfte geht immer schneller vorbei.
Sie haben sich den neuen John Grisham zugelegt und etwa 800 Seiten vor der Brust, ein kaum jemals zu bewältigendes Pensum. So scheint es Ihnen zumindest, wenn Sie auf Seite dreizehn sind.
Sobald Sie aber Seite 400 umgeblättert haben, können Sie sich schon nach einem neuen Buch umschauen, weil der Rest sich wie von selbst liest. Ich weiß nicht warum, aber:
Die zweite Hälfte geht immer schneller vorbei.
Ein Jahr ist recht lang und Sie haben gerade erst einen neuen Kalender aufgehängt. Sobald aber das Juni-Blatt im Altpapier landet, sollte man beginnen, sich Gedanken darüber machen, wie man Silvester feiern möchte, denn:
Die zweite Hälfte geht immer schneller vorbei.
Die durchschnittliche Lebenserwartung eines deutschen Mannes beträgt derzeit etwa 72 Jahre. Ich feiere nächste Woche meinen 36sten Geburtstag und auf meinem Grabstein soll stehen:
Die zweite Hälfte geht immer schneller vorbei.