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Die zweite Dimension von Kälte
In unserer letzten Nacht in Berlin hat uns Thomas erzählt, dass es nichts Kälteres gäbe als einen russischen Winter. Unendlicher Schnee, tosender Wind und lange Nächte würden selbst die größte Armee zermürben wie Mühlsteine, innerlich wie äußerlich, und nichts übriglassen außer feinst-gemahlenes Krähenfutter. Er hat gesagt, wir könnten uns die Kälte nicht einmal vorstellen. Wir haben das damals als Geschwätz abgetan; schließlich war Thomas genauso betrunken gewesen wie wir selbst, und ist es ehrlich gesagt ziemlich schwer, sich den Winter vorzustellen, wenn man ein Bier in der Hand hält und eine warme Frau auf dem Schoß sitzen hat.
Aber während ich hier in einem russischen Hinterwald stehe und dabei zusehe, wie meine eigene Pisse noch in der Luft gefriert und als Eiszapfen im weichen Schnee landet, kommt mit der Gedanke, dass Thomas mit seiner Behauptung vielleicht gar nicht so Unrecht hatte, und dass wir vielleicht wirklich keine Ahnung hatten, was wahre Kälte ist.
Nicht dass das wichtig ist. Wir marschieren so oder so auf Moskau zu, egal ob Winter oder nicht. Paris ist in deutscher Hand, genauso wie Wien und Warschau, und weil die restlichen Alliierten sich noch immer nicht sicher sind, was sie überhaupt wollen, ist es im Westen still geworden, so still, dass man uns alle in den Osten geschickt hat. Noch vor wenigen Wochen saßen Thomas und ich auf der Ladefläche eines Trucks, tranken Wein und fühlten uns wie die Sieger, die wir waren; jetzt sitzen wir mit fünfzig Anderen in einem Loch aus Schnee, das uns Schutz vor dem harten Wetter gibt, und müssen unsere eigene Scheiße verbrennen, um nicht zu erfrieren.
„Jemand ne Uhrzeit?“, fragt einer der Fünfzig, aber alle schütteln mit dem Kopf. Mittlerweile sind wir so unrasiert und verwahrlost, dass das Unterscheiden schwerfällt, und die Dunkelheit tut ihr Übriges. Irgendwann habe ich angefangen, mir nur noch ihre Stimmen zu merken. Den Namen kann ich eh keine Gesichtern zuordnen.
„Welcher Tag ist heute?“, fragt Thomas, während er wieder mit der Hand an seiner Brusttasche spielt. Für die Anderen ist es nur eine nervöse Geste, aber ich weiß es besser: In seiner Tasche ist ein Bild von ihm und Hitler, aufgenommen vor drei Jahren auf einem Boot in Bremen. Thomas wertvollster Besitz. In den schlimmsten Momenten, wenn der Wind über unseren selbstgebauten Bunker pfeift und der Neuschnee uns eingräbt, dann nimmt Thomas manchmal das Bild aus seiner Jacke und starrt es schweigend an. Als läge ihm eine Frage auf der Zunge, die er nie auszusprechen wagt. Thomas ist kein Mensch, der leicht über seine Gedanken und Gefühle spricht, aber ich bin mir sicher, dass er ohne das Bild längst den Glauben verloren hätte. Und fest an eine Sache glauben zu können, sei es die Familie oder die Zukunft oder einfach nur eine Sache, vollkommen egal. Ein starker Glaube ist das Einzige, dass einem im russischen Winter Wärme spenden kann.
Alle schütteln den Kopf. Keiner kennt den Wochentag.
Der Wind schreit meinen Namen. Ich glaube, ich halluziniere. Das Pfeifen nimmt zu, und mir kommt der Gedanke, dass es vielleicht ein Mörser ist, den die Russen auf unsere Locher schießen. Aber dann fällt mir wieder ein, dass es dafür viel zu windig ist, und außerdem ist hier draußen sowieso niemand außer uns.
Irgendwann werde ich wach. Jemand schüttelt meine Schulter und ich bemerkte erst jetzt, dass ich überhaupt geschlafen habe.
„Hans, wach auf.“
Ich muss blinzeln, um sicher zu gehen, aber meine Augen täuschen mich nicht: Über mir steht der neue Kämmerer vom Herrn Oberst, mit hochrotem Kopf und einem so dicken Fellmantel, dass ich fast neidisch werde. Ich erinnere mich an ihn; er war im selben Loch wie wir und hat seine linke Hand bei einem Hinterhalt verloren, als eine Granate neben ihm gelandet ist. Thomas und ich haben ihn aus seinem Krater gezogen und auf einen Karren gehievt, damit der Arme im nächstbesten Lazarett wieder zusammengeflickt wird, aber seine Hand konnten sie anscheinend nicht retten. Weil der letzte Kämmerer aber mehr verloren hat als nur eine Hand, hat er anscheinend eine Beförderung erhalten. Er ist jetzt einer der wenigen Soldaten, der in einem echten Haus wohnen darf. Nicht irgendein verkohlter Haufen Steine, wie wir ihn immer wieder finden, sondern ein echtes Haus! Fachwerk, gebrannte Ziegel und ein Dach aus Holzbrettern. Je näher wir Moskau kommen, desto weniger bekommt man zu Gesicht. Die Russen brennen ihre Höfe lieber bis auf die Grundmauern nieder, als sie uns zu überlassen, und so ist jedes intakte Gestüt, dass die Späher melden, ein kleiner Sieg gegen das Mühlrad.
„Was ist?“, nuschle ich. Es ist so kalt, meine Zähne klappern wie ein Pferd.
„Der Herr Oberst will Sie sehen.“
„Geh und sag ihm, ich komme gleich.“
„Er ist schon hier.“
Na Heilige. Wenn der Oberst für einen einfachen Soldaten sein warmes Quartier verlässt, ist dass ein Zeichen dafür, dass man irgendetwas kräftig verbockt hat. Seufzend stehe ich auf, schüttle mir den Schnee von den Klamotten und krieche aus dem Loch hervor. Ich rutsche mit einem Fuß ab und eine Ladung Schnee fällt Thomas in den Nacken. Er wacht auf und flucht mir irgendetwas hinterher, aber der Wind ist so laut, dass ich es nicht verstehen kann.
Als ich es aus dem Loch geschafft habe, weht mir Schnee ins Gesicht und macht es schwer, irgendetwas zu erkennen. Ich bin in das Zentrum eines Schneesturms eingetaucht, den man wenige Meter tiefer kaum gespürt hat. Sofort wird mir noch kälter, etwas, dass ich vor fünf Minuten noch für völlig unmöglich gehalten habe. Nach und nach erkenne ich um mich herum die schwachen Feuer der anderen Löcher und darum tausende kauernde Gestalten, die sich wärmen, aber weder eine Spur von dem Kämmerer noch vom Herrn Oberst selbst. Alles um mir herum ist Ackerland, aber der Boden ist so hart und so bedeckt mit Schnee, dass ich nicht glauben will, wie hier je wieder etwas wachsen kann. Ich überlege, ob ich nach ihnen rufen soll, aber es würde eh nichts bringen. Der Sturm frisst jedes Geräusch. Voller Verzweiflung will ich gerade wieder in das Loch kriechen, als mehrere Meter vor mir plötzlich Scheinwerfer angehen. Ein Auto! Ich wusste gar nicht, dass wir überhaupt eines an der Front haben. Schnell eile ich durch den tosenden Schnee auf die Lichtkegel zu, und als ich den Wagen endlich erreiche, reiße ich die Tür auf und schmeiße mich auf den Rücksitz.
Auf dem Beifahrersitz sitzt, von der Kälte völlig überrumpelt, der Kämmerer, und reibt sich seine eine Hand an seinem dicken Mantel. Was für ein Waschlappen. In unserem Loch würde er nicht mehr als fünf Minuten überleben.
Der Mann auf dem Fahrersitz ist das vollkommene Gegenbeispiel. Ich kann das Gesicht des Oberst im Frontspiegel sehen: Glatt rasiert, die Haut voller Falten und der Mund so gerade wie ein Bleistift. Mürrisch blickt er aus der Frontscheibe hinaus auf den Sturm, als wäre das Schneetreiben eine persönliche Beleidigung seiner Person. Vermutlich passt es ihm nicht, dass ein so hochdekorierter Mann wie er, von etwas so Banalem wie Unwetter in die Knie gezwungen wird. Dass er, obwohl er doch die Spitze der menschlichen Rasse repräsentiert, nicht in der Lage ist, den gewöhnlichen Elementen der Natur zu trotzen.
Vielleicht ist er auch einfach nur schlecht gelaunt, weil er selbst fahren muss. Wir haben mit unserem letzten Kübelwagen auch unseren letzen Fahrer verloren und Johann ist mit einer Hand sicher alles andere als verkehrstauglich. Der Krieg zwingt uns alle zu grausamen Sachen: Uns zum Frieren und den Oberst zum Fahren.
Mich persönlich hat der ganze Nationalsozialismus nie interessiert. Ich meine klar, auch ich habe die Fahne geschwungen und Steine auf jüdische Läden geworfen, so wie jeder in meinem Alter. Eine Zeit lang bin ich sogar richtig stolz darauf gewesen, Deutscher zu sein, bis ich eines Tages zufällig ein Buch in die Hände bekam, dass eigentlich hätte verbrannt werden sollen. Gleichzeitig beschämt und neugierig habe ich es in meinem Zimmer versteckt und nachts unter der Bettdecke gelesen. Auch wenn der Inhalt zu philosophisch und ich noch zu klein war, als dass ich es hätte verstehen können, ist mir ein Satz doch im Kopf geblieben:
Patriotismus ist die Überzeugung, dass unser Land das Beste ist, weil wir darin geboren wurden.
War das mit dem Nationalsozialismus nicht irgendwie genauso?
Ich blicke weg, und meine Augen finden den Seitenspiegel. Es braucht einen Moment, bis ich erkenne, dass das zottelige Etwas in dem Spiegel ich selbst bin. Ein wilder, langer Bart, und unterlaufene Augen, die seit Wochen zu wenig Sonnenlicht bekommen haben. Ich sehe wirklich scheiße aus, und geistig vollkommen abwesend greife ich mit der Hand nach meinem Bart und berühre ihn vorsichtig, nur um sicherzugehen, dass mein Spiegelbild keine Illusion ist.
Er ist echt.
Wenn mich jemand aus meiner Familie jetzt sehen könnte, er würde mich für den Fremden halten, der ich geworden bin.
„Johann, verlassen sie den Wagen“, sagt der Oberst, mit einer Stimme, die ich in unserem Loch eher einem Bären als einem Menschen zugeordnet hätte. Johann der Kämmerer beißt sich auf die Zunge, hat aber nicht den Mumm zu widersprechen, sondern zieht den Sturm dem Oberst vor. Stumm steigt er aus und schließt die Tür, während der Oberst weiter aus dem Fenster starrt. Im Wagen wird es still. Mein Atem ist so laut wie Trommelfeuer.
„Heute Morgen ist Nachschub angekommen. Die Dritte hat sich zu uns durchgekämpft, und sie haben alles mitgebracht, was sie tragen konnten.“
„Gute Neuigkeiten“, sage ich. Daher also der Wagen. Ich frage besser nicht danach, wo der eigentliche Fahrer gerade ist.
„Einer von ihnen hatte einen Sack Post dabei.“
Mein Herz beginnt zu rasen. Endlich, Post aus der Heimat! Ich will aufstehen, ihn am Kragen greifen und fragen, ob mir meine Familie geschrieben hat, aber ich beherrsche mich.
„Gibt es Post für mich?“, frage ich stattdessen.
Mit regungsloser Miene zieht der Oberst einen Brief aus seinem Mantel und reicht ihn mir. „Post ja, aber nicht für Sie. Für mich.“
Verwundert nehme ich den Brief und falte ihn auf. Ich lese ihn dreimal: Einmal, um meine Augen wieder an das Lesen zu gewöhnen, zweimal, um den Inhalt zu begreifen, und ein Drittes Mal, weil ich es nicht glauben will. Als ich nach und nach erst verstehe, was dieses Stück Papier bedeutet, bin ich viel zu erstarrt, um irgendetwas zu antworten.
„Vorlesen.“, befiehlt der Oberst.
Ich schlucke und muss blinzeln, weil sich meine Augen mit Tränen füllen. Das kann einfach nicht die Wahrheit sein. Mit zitternder Stimme beginne ich zu lesen:
„Sehr geehrter Herr Oberst,
am 23 November dieses Jahres ist der Bürger Adolf Knabe aufgrund einer Ausschreitung gegen das deutsche Gesetz verhaftet worden. Bei den nachfolgenden Untersuchungen und Vernehmungen stellte sich heraus, dass seine Mutter jüdischer Abstammung ist. Adolf Knabe und der Rest seiner Familie wird nun wegen Verrat am deutschen Vaterland angeklagt; sein Sohn Hans Knabe dient zur Zeit unter ihrem Kommando an der Ostfront. Sie kennen ihre Befehle.
Mit freundlichen Grüßen
Walter Hoch“
Mein Gehirn schaltet einen Gang hoch, aber es kann noch immer nicht verarbeiten, was ich gerade gelesen habe. Alle meine Gedanken kreisen um meine Familie und darum, wie es ihnen wohl gerade geht. Ein einziges Stück Papier, nicht größer als meine Hand, und trotzdem hat es mehr Auswirkung auf mein Leben als alles, was ich seit unserem Aufbruch aus Deutschland gesehen und getan habe.
„Verzeihung, Herr Oberst, ich glaube, ich verstehe nicht.“, frage ich, in der Hoffnung, mich einfach nur verlesen zu haben.
„Sie sind ein Jude, Knabe“, erklärt mir der Oberst.
Wie ein Hammer trifft mich die Erkenntnis. Ich starre auf meine Hände und versuche zu begreifen, was sich jetzt geändert hat, aber sie sehen noch immer genauso aus wie vorher.
„Ich bin Deutscher!“, stottere ich, aber es ist nicht mehr die Kälte, die meine Zähne klappern lässt. Ich werfe einen Blick auf das Datum. Der Brief wurde geschrieben am 23 November. Wir haben Anfang Januar.
Meine Familie ist schon längst tot, und ich erfahre es erst jetzt.
Es braucht meine ganze Willenskraft, um nicht heulend aus dem Auto auszusteigen.
„Nicht mehr. Sie wurden heute Mittag mit sofortiger Wirkung aus der Wehrmacht entlassen und unterstehen somit nicht mehr meinem Befehl.“ Der Oberst dreht sich zu mir um; die Augen trüb vom wenigen Sonnenlicht, aber trotzdem randvoll mit Verachtung. Seine typische Bleistiftmiene, als wäre er plötzlich sogar davon beleidigt, dass ich nie gewusst habe, dass mein Großvater eine Jüdin geheiratet hat.
„Das können sie nicht machen, ich habe mein Leben lang für Deutschland gekämpft! Meine Akte ist tadellos und ich habe jeden Befehl, den man mir gab, ohne zu Zögern befolgt.“ Mir wird schlecht, wenn daran denke, wie grausam ironisch plötzlich die Taten wirken, die ich früher ohne Frage ausgeführt habe. „Herr Oberst, ich bitte Sie! Ich habe meine Loyalität gegenüber Deutschland mehr als einmal bewiesen, also was macht es jetzt für einen Unterschied, dass-“
„Es macht einen Unterschied!“, schreit mich der Oberst an. „Verrat liegt in ihrem Blut, Knabe, ob sie wollen oder nicht! Sie können nicht gleichzeitig ein Jude und ein Deutscher sein!“ Wütend öffnet er das Handschuhfach und nimmt eine Flasche heraus, aus der er ein paar Schlücke nimmt. Ich rieche den scharfen Geruch von Alkohol, kann sein Brennen förmlich spüren.
Plötzlich frage ich mich, was Thomas zu all dem sagen sagen würde. Wir kennen uns, seit wir Kinder sind, haben zusammen Familienfeste gefeiert und uns die geheimsten Sachen erzählt, die man einem anderen Menschen überhaupt anvertrauen kann. Was würde er dazu sagen, dass meine Familie tot ist? Würde es jetzt einen Unterschied zwischen uns machen, dass meine Großmutter jüdische Wurzeln hat? Oder wäre es ihm egal, weil ich noch immer derselbe Mensch bin wie früher?
Bin ich überhaupt noch wie früher?
Der Oberst rümpft die Nase und setzte die Flasche ab. „Das Beste wäre, wenn ich Sie einfach erschieße, aber dafür ist mir die Kugel zu teuer, wenn ich sie auch auf einen Russen schießen kann. Außerdem würde ich nur ungern einen ehemaligen Soldaten hinrichten, selbst wenn es nur jemand wie Sie ist.“ Der Oberst zeigt aus dem Fenster. „Das, Knabe, das ist ihr Weg. Verlassen Sie mein Auto und entfernen Sie sich aus dem Lager.“
Lächelnd setzte er die Flasche wieder an, während ich beinahe ohnmächtig in den Schneesturm starre und über mein Schicksal nachdenke. Ohne Feuer und Schutz vor dem Wind werde ich in wenigen Minuten den Kältetod sterben; meine Hände werden vor Kälte abfrieren und schwarz werden, meine Lippen werden aneinander festkleben und am Ende werde ich vor Erschöpfung in den Schnee fallen und darum betteln, sterben zu dürfen. Es ist ein grausameres Schicksal, als eine Kugel je sein könnte, und ich habe nie so sehr an einen Gott geglaubt, als dass er sich jetzt erkenntlich zeigen und mich beschützen würde.
Aber was habe ich für eine Wahl?
Mir kommt ein grausamer Gedanke. Es wäre hinterlistig und feige, aber wenn es das ist, für dass mich der Herr Oberst sowieso hält, dann macht es ja keinen großen Unterschied. Ich schließe meine Augen und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, aber es ist so unglaublich schwer. Alles, was in meinem Kopf atmet, ist die Erkenntnis, dass an nur einem einzigen Tag meine Familie verhaftet und verurteilt, meine Zukunft in Deutschland zerstört und ich zu einem vogelfreien, gottlosen Verbrecher geworden bin. Ich habe nichts mehr, nichts, an das ich jetzt noch glauben kann. Was habe ich denn jetzt noch zu verlieren, außer meinem Leben?
Und verdammt, ich will leben.
Ich atme langsam und tief aus; dann ziehe ich meine Pistole aus dem Halfter und schieße dem Oberst durch den Rücksitz in den Kopf. Eins, zwei, drei, so rhythmisch perfekt wie der Schlag eines Metronoms. Hier, in einem geschlossenen Auto, sind die Schüsse ohrenbetäubend. Die Patronen durchschlagen seinen Schädel, treten zwischen seinen Augen wieder aus und zerfetzen die Flasche, aus der er noch eben getrunken hat. Mit offenem Mund kippt er vornüber und bleibt auf dem Lenkrad liegen, währende die Scherben auf den Boden fallen und sich der Alkohol mit seinem Blut vermischt. Die offenen Augen starren aus dem Fenster, als wollten sie fragen, wie es möglich ist, dass er durch die Hand eines Nichtdeutschen stirbt. Das muss es wohl sein, was der Oberst mit Verrat gemeint hat.
Ich bin wirklich nicht mehr wie früher.
Mit zitternden Händen ziehe ich den Leichnam auf die Rückbank und klettere selbst auf den blutverschmierten Vordersitz. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, es muss schnell gehen. Ich blickte aus dem Fenster, aber der Kämmerer ist nicht zu sehen und der Sturm ist so laut, dass niemand außer ihm die Schüsse hätte hören können. Niemand hat den Mord mitbekommen.
Ich atme nervös aus, starte das Auto und fahre langsam los. Meine Finger jucken vor Adrenalin und Anspannung, aber ich reiße mich zusammen und konzentriere mich. Hier in Russland ist der Boden nicht mehr als gefrorener Acker und der Schneesturm macht das Fahren auch nicht ungefährlicher.
Zu gern würde ich Thomas Lebewohl sagen, ihn noch einmal umarmen und versuchen, ihm alles zu erklären, was heute passiert ist. Aber er würde es nicht verstehen. Nicht, solange er sich an das Bild in seiner Brusttasche klammert. Ich verdrücke mir eine Träne und beschleunige, vorbei an den den Soldaten in ihrem Schneelöchern und ihren Lagerfeuern aus Scheiße.
Am Fachwerkhaus angekommen setzte ich den toten Oberst auf die Rückbank und wickle ihn in eine Decke ein, sodass es aussieht, als wenn er schläft. Ich lasse mir den Laderaum voll mit Lebensmitteln und Benzinkanistern packen und verschwinde mit der Ausrede, dass der Oberst und ich die Front kontrollieren würden und wir erst in einigen Tagen, ja wenn nicht sogar Wochen zurück sein könnten. Schließlich ist der Sturm unberechenbar, und zum Glück viel zu kalt, als dass man irgendeine Nachricht außerhalb eines Autos überbringen könnte.
Ohne einen Blick zurück trete ich das Gaspedal durch und verschwinde vom Gestüt. Mittlerweile ist mein Puls wieder normal und die Anspannung weitestgehend verschwunden. Von außen betrachtet sehe ich wieder aus wie der unschuldige Großstadtjunge, der auf der Suche nach Abenteuern in die Welt hinausgereist ist. Nur das Loch in der Lehne und die eingewickelte Leiche auf meinem Rücksitz zeugen davon, dass ich zu weit gegangen, als dass ich noch irgendwie unschuldig sein könnte. Trotzdem bereute ich es nicht. Schlagartig muss ich wieder an das Buch denken, das ich vor dem Feuer gerettet habe; zu gerne würde ich jetzt einen Stift ziehen und mit dicker Tinte hineinschreiben, dass es zwei Arten von Kälte gibt. Die Eine, die auf der Haut sitzt und den Körper kühlt. Und die Andere, tief unter der Haut, die die Seele in einen Eiszapfen verwandelt.
Russische Winter sind wirklich kalt.