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Die Zwei Türme oder Amerika im Herbst

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25.08.2001
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Die Zwei Türme oder Amerika im Herbst

Die Zwei Türme oder Amerika im Herbst

Schatz, bist du es? Hör zu! Hier scheint es irgendwo zu brennen. Mir geht es gut, ich bin vorsichtshalber aufs Dach gefahren, der Rauch ist nicht sehr dicht, ich sehe sogar noch die Freiheitsstatue und den Ozean. Rufe trotzdem meinen Transportchef an, der soll mich mit dem Hubschrauber abholen, nur für alle Fälle, du kannst ja mitfliegen, wenn du möchtest. Landet auf dem Nordturm, du siehst mich dort winken, ich bin allein.

Ja damals, in Europa... Weißt du noch, wie wir mit den Kindern einen riesigen Schneemann bauten, an der Stelle vor dem Haus, wo die alte Linde stand, die wir leider fällen lassen mußten, weil sie wurmstichig geworden war? Was wir an Schnee zusammenbrachten! Du kamst schließlich noch auf die Idee, zwei Orangen als Augen einzusetzen. Die Kinder waren total aus dem Häuschen, es sah auch zu ulkig aus. Nur unser Kleinster fürchtete sich bei diesem Anblick und fing an zu weinen. Aber du warst ja immer so gut im Trösten, mit dem süßen Fruchtfleisch nahmst du ihm schnell seine Angst.

Seid nur vorsichtig, der Qualm ist ziemlich dicht, von unten steigt Hitze auf, ich gehe besser ein wenig näher zum Rand. Vielleicht sind wir ein paar mehr, wenn du da bist, wir haben wohl genug Platz im Helikopter. Die anderen werden langsam panisch, ein paar versuchen, zurück nach unten zu gehen, ich bleibe auf jeden Fall hier auf der Plattform, ich weiß ja, daß du bald kommst.

Ja damals, in Europa... Dieser eine lange Spaziergang im Frühling. Im Schatten von Haselbüschen setzten wir uns zur Rast nieder, unter hohen Kalkwänden nahe des Amalienfelsens schlummerten wir ein und verdösten den Sonnenuntergang. Und so geschah es dann, daß wir unter einem freien, mondlosen Sternenhimmel das letzte Mal miteinander schliefen.

Um mich herum Schreie. Ich schwitze und huste. Keine Ahnung, auf welchem Stockwerk ich bin. Warum kommt nur keine Feuerwehr und holt uns hier raus, so schlimm kann der Brand doch gar nicht sein? Rette du mich aus diesem Inferno. Laß mich nicht verzweifeln. Geh doch endlich ans Telephon!

Ja damals, in Europa... Ich lebte das Leben eines Kühlschranks, und als ich irgendwann mit der Hitze des Sommers nicht mehr fertig wurde, versenkte man mich in der Alten Donau, einem amputierten Flußarm unweit eines umstrittenen Felsens, wo sich Liebende bisweilen hinverirren und als Verwunschene zurückkehren. Sie dachten tatsächlich, mich auf diese Art folgenlos entsorgen zu können. Doch sobald erst das schwarze Wasser mich völlig verschlungen hatte, fingen meine Aggregate wieder an zu summen und bösartige Fische wurden von der Kühlflüssigkeit angezogen, die durch meine Lamellen diffundierte. Oberhalb dieser Liegestätte wollen keine Seerosen wachsen und auch die Jugendlichen, die im Winter zum Schlittschuhlaufen kommen, meiden diese Stelle, weil sie wissen, daß man dort leicht einbricht.

Wie konnte ich nur so töricht sein, zu glauben, in einer Stadt wie dieser mit Millionen Frauen wäre auch nur eine, die mich bemerkte, wenn ich Unsichtbarer ihr meinen Blick anböte. Es gibt keine, die nun um mich bangt, weil ich ausnahmsweise Arbeit fand für heute und ausgerechnet hier fensterputzen sollte. Keine, die die Rauchsäule sieht und angsterfüllt zum Hörer greift. Ach was, ich habe ja nicht einmal ein Handy. Hubschrauberpilot wollte ich werden als Kind und jetzt weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist, weil Hitze und Rauch mir die Sinne nehmen. Wie konnte ich nur.

Ja damals in Europa änderte sich der Gemütszustand im Weltenlauf der Jahreszeiten. Während im Sommer das Leben ringsum die Erinnerungen an eine verkorkste Jugend, an die linkischen Annäherungsversuche damals wie heute wuchern ließ, folgten im Herbst Depressionen, die im Winter zu schweren Entzüngungen an der Speiseröhre führten wegen des allmorgendlichen Erbrechens, was im Frühling einen Zustand der lebensbedrohlichen Abmagerung ergab. Wie man in dieser Verfassung nur auf die irrsinnige Idee der Auswanderung kommen kann, in ein Land, das so von seiner Euphorie lebt. Unglückliche Menschen sind nicht sehr attraktiv, aber es hätte doch Gruppen gegeben mit Leuten, die sich dieselben Probleme machen. Da hilft keine Lichttherapie, da hilft kein Johanniskraut. Aber so trägt wohl ein jeder Mensch seine Last, seine Bürde mit sich.

Der Sauerstoffmangel führt mir weit entfernte Bilder vors Auge. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fallen auf eine hölzerne Mühle, eine Mühle mit einem eigenartigen Glockenturm, auch er ganz aus Holz, aus dem sich ein voller, auf eine angenehme Weise dröhnender Klang vernehmen läßt, der die Müllergesellen zum Abendbrot ruft. Weit irgendwo im Süden muß diese Mühle sein, denn sehr schnell wird die Dämmerung von Dunkelheit abgelöst, das Klappern des Wasserrades wirkt nun lauter, das Echo des letzten Glockenschlages verebbt, die Hungrigen sind im erleuchteten Teil des alten Gebäudes verschwunden. Nun erst, mit dem plötzlichen Einbruch der Nacht, erkenne ich die Täuschung, und stelle fest, daß ich vor dem mir so vertrauten Krematorium stehe. Im künstlichen Licht der Peitschenlaternen ist der gewaltige Schlot erkennbar, den ich in meinem Wahn für einen Glockenturm hielt. Nichts an dieser Festung besteht aus Holz, ein Ziegeldach ruht auf den steinernen, grau gestrichenen Mauern, in die Reliefs von Wasserspeiern und weinenden Engeln eingearbeitet sind. Das Gitter des schmiedeeisernen Tores ist verziert mit Flammensäulen, stilisiert zu Pyramiden aus Feuer, die oben in einem spitzen Winkel zusammenlaufen. „Es ist nicht pietätlos, Preis und Leistung bei einer Bestattung zu vergleichen“ ist auf einem Schild zu lesen, bei dem Beerdigungsinstitut nebenan. Ich schaue noch einmal zurück durch die sperrangelweit offene Pforte und bin erstaunt, daß das Mühlrad geblieben ist, frei in der Luft schwebt es im Atrium des Krematoriums und dreht sich lautlos, immer schneller rotieren die Schaufeln, graben im Nichts, alles dreht sich, Räder drehen sich um Räder, Räder um Räder ja damals in Europa ...

Wer tröstet mich in meinen letzten Augenblicken, wer nimmt mir die Angst vorm Sterben? Mir geht es schlecht, ich bekomme keine Luft, schmecke Blut aus den Bronchien, meine Tränen können nichts ausrichten gegen den beißenden Rauch, der mir die Sicht vollkommen raubt. Ich will gar nicht mehr zu einem Ausgang, nur an die Außenwand, dort sind sicher Fenster geborsten und ich komme mit einem Sprung noch einmal ins Freie.

 

Lieber Echsenflohmarkt!

Ich las deine Geschichte gerne, wie so viele hier, doch im Unterschied zu anderen hier, fand ich deine Geschichte surreal. Scheinbar wirre, zusammenhangslose Gedankengänge sind in einem Text zusammengefasst und ergeben schließlich das Leben, das zwingendermaßen mit dem Tod endet. Auch wenn er viel zu früh kommen mag.

Ähnlich wie Bella Xena hast du ein gutes Thema für die Aufgabenstellung gewählt.

Freut mich, deine Geschichte gelesen zu haben, lg aus (dem dir anscheinend bekannten) Wien, P.H.

 

Lieber Peter,

Vielen Dank für Deine nette Antwort, ich würde mich sehr über weitere Rückmeldungen freuen. Du scheinst Dich auf dieser Seite recht heimisch zu fühlen, vielleicht kannst Du ja ein paar Leute zum Lesen anstacheln, auch deftige Kritik ist mir lieber als keine.

Schöne Grüße von der Donau Echsenflohmarkt

 

Hi Echsenflohmarkt!

Auch ich hab meinen Hauptwohnsitz schon auf kg.de angemeldet... :D Aber Peter hat mich trotzdem nicht aufgestachelt, Deine Geschichte zu lesen...

Teilweise bekam ich Gänsehaut bei der Vorstellung Deiner Beschreibungen...
Leicht (angenehm) surrealistisch, aber auch realistisch. Wobei ich meine, die realistischen Elemente könntest Du noch reduzieren.
Zum Beispiel könntest Du Sätze wie diesen: "Der Sauerstoffmangel führt mir weit entfernte Bilder vors Auge." ganz einfach weglassen. Gerade die Beschreibung des Wahrgenommenen, ohne die Erklärung, warum und wieso (Sauerstoffmangel...), macht das Surrealistische aus.

Liebe Grüße aus Breitensee :D
Susi

 

Liebe Susi,

Die Gänsehaut schmeichelt mir. War der 11. September nicht surreal genug? Mit dem unnötigen Sauerstoffmangel könntest Du recht haben, allerdings gehört die Mühle eben in eine gewisse Erzählebene, und zwar in die genuin surreale, in die des Traumes. Vielen Dank für Deine Kritik!

Dein Echsenflohmarkt

 

Mit dem unnötigen Sauerstoffmangel könntest Du recht haben, allerdings gehört die Mühle eben in eine gewisse Erzählebene, und zwar in die genuin surreale, in die des Traumes.
Das mit der Mühle soll auch so sein, ich meinte in diesem Fall auch nur diesen einen Satz.

Dann wäre da noch dieser:
"weil Hitze und Rauch mir die Sinne nehmen"
Ich war zum Glück noch nie in der Situation, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß, wenn mir die Sinne geraubt werden, ich das dann so bewußt mitbekomme. Niemand kann in der Lage sagen "Hitze und Rauch (oder Sauerstoffmangel) rauben mir die Sinne", das ist meiner Meinung nach unmöglich.
Laß beides einfach weg, den nicht zitierten Rest laß stehen. Der Leser erkennt das selbst, spätestens bei dem Satz nachher, "erkenne ich die Täuschung, und stelle fest, daß ich vor dem mir so vertrauten Krematorium stehe." der ist möglich, paßt demnach auch und ist als Erklärung absolut ausreichend.

Liebe Grüße
Susi

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Echsenflohmarkt,

mir hat die Idee, dass das Erlebnis des 11. September an sich surrealistisch gut gefallen. Deinen Stil finde ich allerdings teilweise zu ausschweifend, wirre Gedankengänge gut, aber mE zu häufig unnötige Details und Beschreibungen die die Intensität des Geschilderten ein wenig mindern. Mich stört vielleicht ein wenig die etwas zu "intellektuelle" oder "philosophische" Auseinandersetzung des Protagonisten mit dem Geschehen und der Vergangeheit, schöner wäre vielleicht einfach nur Eindrücke oder Gedankenfetzen, schneller, mehr aus dem Zusammenhang.

Nicht das ich es besser könnte - kritisieren iss ja immer einfacher. Aber ein Text mit Potential. Und für mich auf jeden Fall eine der besseren Ideen in diesem Challenge.

Lieben Gruß
Kay

 
Zuletzt bearbeitet:

Servus Kay,

Eigentlich sollte diese Geschichte vor allem aus Details bestehen, die bestimmte Bilder evozieren. Beschleunigen wohin? Das Ende ist ja absehbar. Der Hochton ist bewußt gewählt, ein gewisses Pathos soll für Dichte und Schwere der Sätze sorgen, daran möchte ich eigentlich festhalten.

Vielen Dank für Blumen und Kritk
Dein Echsenflohmarkt

 

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