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Die Zwei Türme oder Amerika im Herbst
Die Zwei Türme oder Amerika im Herbst
Schatz, bist du es? Hör zu! Hier scheint es irgendwo zu brennen. Mir geht es gut, ich bin vorsichtshalber aufs Dach gefahren, der Rauch ist nicht sehr dicht, ich sehe sogar noch die Freiheitsstatue und den Ozean. Rufe trotzdem meinen Transportchef an, der soll mich mit dem Hubschrauber abholen, nur für alle Fälle, du kannst ja mitfliegen, wenn du möchtest. Landet auf dem Nordturm, du siehst mich dort winken, ich bin allein.
Ja damals, in Europa... Weißt du noch, wie wir mit den Kindern einen riesigen Schneemann bauten, an der Stelle vor dem Haus, wo die alte Linde stand, die wir leider fällen lassen mußten, weil sie wurmstichig geworden war? Was wir an Schnee zusammenbrachten! Du kamst schließlich noch auf die Idee, zwei Orangen als Augen einzusetzen. Die Kinder waren total aus dem Häuschen, es sah auch zu ulkig aus. Nur unser Kleinster fürchtete sich bei diesem Anblick und fing an zu weinen. Aber du warst ja immer so gut im Trösten, mit dem süßen Fruchtfleisch nahmst du ihm schnell seine Angst.
Seid nur vorsichtig, der Qualm ist ziemlich dicht, von unten steigt Hitze auf, ich gehe besser ein wenig näher zum Rand. Vielleicht sind wir ein paar mehr, wenn du da bist, wir haben wohl genug Platz im Helikopter. Die anderen werden langsam panisch, ein paar versuchen, zurück nach unten zu gehen, ich bleibe auf jeden Fall hier auf der Plattform, ich weiß ja, daß du bald kommst.
Ja damals, in Europa... Dieser eine lange Spaziergang im Frühling. Im Schatten von Haselbüschen setzten wir uns zur Rast nieder, unter hohen Kalkwänden nahe des Amalienfelsens schlummerten wir ein und verdösten den Sonnenuntergang. Und so geschah es dann, daß wir unter einem freien, mondlosen Sternenhimmel das letzte Mal miteinander schliefen.
Um mich herum Schreie. Ich schwitze und huste. Keine Ahnung, auf welchem Stockwerk ich bin. Warum kommt nur keine Feuerwehr und holt uns hier raus, so schlimm kann der Brand doch gar nicht sein? Rette du mich aus diesem Inferno. Laß mich nicht verzweifeln. Geh doch endlich ans Telephon!
Ja damals, in Europa... Ich lebte das Leben eines Kühlschranks, und als ich irgendwann mit der Hitze des Sommers nicht mehr fertig wurde, versenkte man mich in der Alten Donau, einem amputierten Flußarm unweit eines umstrittenen Felsens, wo sich Liebende bisweilen hinverirren und als Verwunschene zurückkehren. Sie dachten tatsächlich, mich auf diese Art folgenlos entsorgen zu können. Doch sobald erst das schwarze Wasser mich völlig verschlungen hatte, fingen meine Aggregate wieder an zu summen und bösartige Fische wurden von der Kühlflüssigkeit angezogen, die durch meine Lamellen diffundierte. Oberhalb dieser Liegestätte wollen keine Seerosen wachsen und auch die Jugendlichen, die im Winter zum Schlittschuhlaufen kommen, meiden diese Stelle, weil sie wissen, daß man dort leicht einbricht.
Wie konnte ich nur so töricht sein, zu glauben, in einer Stadt wie dieser mit Millionen Frauen wäre auch nur eine, die mich bemerkte, wenn ich Unsichtbarer ihr meinen Blick anböte. Es gibt keine, die nun um mich bangt, weil ich ausnahmsweise Arbeit fand für heute und ausgerechnet hier fensterputzen sollte. Keine, die die Rauchsäule sieht und angsterfüllt zum Hörer greift. Ach was, ich habe ja nicht einmal ein Handy. Hubschrauberpilot wollte ich werden als Kind und jetzt weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist, weil Hitze und Rauch mir die Sinne nehmen. Wie konnte ich nur.
Ja damals in Europa änderte sich der Gemütszustand im Weltenlauf der Jahreszeiten. Während im Sommer das Leben ringsum die Erinnerungen an eine verkorkste Jugend, an die linkischen Annäherungsversuche damals wie heute wuchern ließ, folgten im Herbst Depressionen, die im Winter zu schweren Entzüngungen an der Speiseröhre führten wegen des allmorgendlichen Erbrechens, was im Frühling einen Zustand der lebensbedrohlichen Abmagerung ergab. Wie man in dieser Verfassung nur auf die irrsinnige Idee der Auswanderung kommen kann, in ein Land, das so von seiner Euphorie lebt. Unglückliche Menschen sind nicht sehr attraktiv, aber es hätte doch Gruppen gegeben mit Leuten, die sich dieselben Probleme machen. Da hilft keine Lichttherapie, da hilft kein Johanniskraut. Aber so trägt wohl ein jeder Mensch seine Last, seine Bürde mit sich.
Der Sauerstoffmangel führt mir weit entfernte Bilder vors Auge. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fallen auf eine hölzerne Mühle, eine Mühle mit einem eigenartigen Glockenturm, auch er ganz aus Holz, aus dem sich ein voller, auf eine angenehme Weise dröhnender Klang vernehmen läßt, der die Müllergesellen zum Abendbrot ruft. Weit irgendwo im Süden muß diese Mühle sein, denn sehr schnell wird die Dämmerung von Dunkelheit abgelöst, das Klappern des Wasserrades wirkt nun lauter, das Echo des letzten Glockenschlages verebbt, die Hungrigen sind im erleuchteten Teil des alten Gebäudes verschwunden. Nun erst, mit dem plötzlichen Einbruch der Nacht, erkenne ich die Täuschung, und stelle fest, daß ich vor dem mir so vertrauten Krematorium stehe. Im künstlichen Licht der Peitschenlaternen ist der gewaltige Schlot erkennbar, den ich in meinem Wahn für einen Glockenturm hielt. Nichts an dieser Festung besteht aus Holz, ein Ziegeldach ruht auf den steinernen, grau gestrichenen Mauern, in die Reliefs von Wasserspeiern und weinenden Engeln eingearbeitet sind. Das Gitter des schmiedeeisernen Tores ist verziert mit Flammensäulen, stilisiert zu Pyramiden aus Feuer, die oben in einem spitzen Winkel zusammenlaufen. „Es ist nicht pietätlos, Preis und Leistung bei einer Bestattung zu vergleichen“ ist auf einem Schild zu lesen, bei dem Beerdigungsinstitut nebenan. Ich schaue noch einmal zurück durch die sperrangelweit offene Pforte und bin erstaunt, daß das Mühlrad geblieben ist, frei in der Luft schwebt es im Atrium des Krematoriums und dreht sich lautlos, immer schneller rotieren die Schaufeln, graben im Nichts, alles dreht sich, Räder drehen sich um Räder, Räder um Räder ja damals in Europa ...
Wer tröstet mich in meinen letzten Augenblicken, wer nimmt mir die Angst vorm Sterben? Mir geht es schlecht, ich bekomme keine Luft, schmecke Blut aus den Bronchien, meine Tränen können nichts ausrichten gegen den beißenden Rauch, der mir die Sicht vollkommen raubt. Ich will gar nicht mehr zu einem Ausgang, nur an die Außenwand, dort sind sicher Fenster geborsten und ich komme mit einem Sprung noch einmal ins Freie.