Die zwanzigste Etage
Ich rede mit dem kleinen, glatzköpfigen Mann. Er hört mir kaum zu, das kann ich deutlich erkennen, und früher hätte mir das ganz und gar nicht gefallen. Aber ich lächle freundlich und denke daran, was ich ihm damals dafür angetan hätte. Ich muss lächeln, wisst ihr, damit sie mich irgendwann gehen lassen. Sie müssen sehen, wie normal ich bin. Der Kittelträger mit dem dicken Leberfleck, der normalerweise vor dem Raum herumlungert, der kann mich am wenigsten leiden. Bei ihm lächle ich immer besonders breit und stelle mir vor, wie ich ihm den braunen Punkt auf der Stirn ausreiße und auf seine Nase klebe. Er würde einen guten Clown abgeben, wenn er so ein bezauberndes Lächeln wie ich hätte.
Ich erzähle dem Glatzkopf von dem Hochhaus und von den Etagen. Und dass ich zwischen ihnen hin- und herspringen kann, wie es mir beliebt. Bei dem Gedanken an mein Hochhaus werde ich meistens eifrig und meine Wangen fangen an zu glühen.
„ Die meisten können zwischen den Ebenen nicht unterscheiden“, erkläre ich ihm und lächle geduldig, „ doch ich kann es! Ich weiß, auf welcher Etage ich bin und ich kann wechseln, wie ich möchte. Und dazu brauche ich keine menschlichen Gefühle, wie ihr. Und wenn ich mich auf der Treppe nach unten bewege, dann bringt mich kein schlechtes Gewissen wieder nach oben. Aber manchmal denke ich, das Hochhaus ist ein schlechter Vergleich …“ Ich lehne mich nachdenklich zurück und starre an die Decke. „ Nun, weißt du, es ist nämlich folgendermaßen: Die Ebenen nehmen kein Ende. Immer wenn ich denke, ich befinde mich im tiefsten Untergeschoss, dann sehe ich eine Treppe, die mich ein Stückchen tiefer nimmt.“ Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich knete meine Hände, damit sie sich vor Aufregung nicht verkrampfen.
„ Die Ebenen werden zu einem Kontinuum“, wirft plötzlich ein Kerl ein, den ich noch nie bemerkt habe. Er trägt einen Vliespulli und eine kreisrunde Brille und sieht mindestens so aufgeregt aus, wie ich mich fühle. Aber ich mag ihn nicht. Das merke ich sofort.
„ Was?“, sage ich und versehe meine Stimme mit einem scharfen Unterton.
„ Man kann es mit einem Energiespektrum vergleichen“, beginnt er und seine Wörter schlagen beinahe Purzelbäume, „ die Ebenen sind Energieniveaus, nicht Stockwerke eines Hochhauses –“
„ Doch“, widerspreche ich barsch, „ sie sind Ebenen eines Hochhauses.“ Ich sage doch, der Kerl ist unsympathisch.
„ Aber –“
Ich klappe meine Ohren zu und ignoriere ihn.
Dann drehe ich mich wieder zu der Glatze.
„ Vielleicht verstehst du es mit einem anschaulichen Beispiel“, sage ich ihm, „ lass mich damit beginnen, wie ich mich einmal auf die vierundfünfzigste Etage wagte. Ich rettete einer hässlichen alten Frau das Leben. Zuvor hatte ich mich noch auf der achtzehnten Etage befunden, denn ich hatte die hässliche Frau für ein schönes junges Mädchen gehalten und, du verstehst schon, es steckten ein paar eigennützige Gedanken dahinter. Aber ich wollte ihr das Leben retten, das ist eine achtzehnte Etage schon wert.
Jedenfalls sprang ich hinter ihr in den Fluss, sah mit Entsetzen das faltige Gesicht, und wäre am liebsten abgetaucht. Da hörte ich hinter mir Schreie und Jubel, natürlich hatte sich auf der Brücke längst eine Meute versammelt. Nun konnte ich nicht mehr anders und zog die alte Frau aus dem Wasser. Und das beförderte mich schlagartig in die vierundfünfzigste Etage. Nie wieder wagte ich mich bis dort oben.“
Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken und ich schüttle mich instinktiv.
Aber ich bin noch nicht fertig. Der Kerl sieht aus, als hätte man sein Gehirn gewaschen. Eine kleine Ladung Intelligenz meinerseits wird ihm ganz bestimmt gut tun.
„ Ich möchte dir von meinem bisher großartigsten Sprung erzählen, aus dem tiefen Keller bis ins zwanzigste Geschoss. Ich bin immer noch stolz darauf, manchmal sitze ich in einer Besprechung und muss plötzlich daran denken. Es fällt mir ungemein schwer, das Grinsen zu unterdrücken was sich doch so gern auf meinem Gesicht eingefunden hätte. Es fühlt sich jedes Mal an wie Folter. Und ich weiß, wie sich Folter anfühlt. Ich habe Menschen schon oft dabei schreien hören, weißt du.“ Ich beuge mich zu dem Glatzkopf und versuche seinen Blick einzufangen, etwas Verständnis zu erhaschen. Er rührt sich nicht, nicht mal ein Blinzeln, und ich lehne mich enttäuscht zurück. Ein wenig Beteiligung an meiner Geschichte wäre freundlich gewesen. Andererseits muss es ja einen Grund geben, warum der Kerl hier ist. Der Arme tickt wohl nicht mehr ganz richtig. Ich beschließe fortzufahren, ich kann schließlich nicht den großartigsten Sprung der Geschichte erwähnen und dann nicht davon erzählen:
„ Nun möchte ich dich nicht weiter auf die Folter spannen und werde sofort zu dem großartigen Sprung kommen. Ich neige häufig zu Abschweifungen und Ausführungen, das ist mir bewusst, aber es lässt sich einfach nicht vermeiden. Wie könntest du mir wirklich nachempfinden, wenn ich die wöchentliche Folter während der Montagsbesprechung außer Acht gelassen hätte?“ Nein, hier kann ich wirklich keine Reaktion erwarten. Auf eine rhetorische Frage muss keine Antwort gegeben werden, da muss ich der Glatze rechtgeben.
„ Es ergab sich eher durch Zufall, dass ich bis in das sechste Untergeschoss fiel. Nun, ich muss zugeben, ich liebe es, die Treppen hinab zu schleichen, während mein Herz sich vor Aufregung kaum zurückhalten kann und das Trommeln immer lauter und schneller wird. Ich falle nicht wirklich hinab, ich genieße es unheimlich, Stufe für Stufe zu nehmen.
Doch diesmal fiel ich. Ich eilte gerade am Ende eines anstrengenden Arbeitstages zu meinem Auto und es regte mich schrecklich auf, dass vor dem Gebäude am Morgen alle Parkplätze besetzt gewesen waren und ich mein Auto zwei Nebenstraßen weiter hatte parken müssen. Du musst wissen, ich arbeite mitten in der Altstadt und da gibt es leider vor dem Gebäude nur eine begrenzte Anzahl Parkplätze. Ich kam also auf dem Weg an dem umgefallenen Mülleimer vorbei, den ich am Morgen in Rage getreten hatte und dessen Inhalt nun den Bürgersteig zierte. Ich verpasste ihm einen weiteren Tritt, oder auch mehrere. Ich gebe zu, ich befand mich zu dem Zeitpunkt im ersten Untergeschoss. Doch sobald ich im Auto saß legte sich meine Unruhe und ich wurde zufrieden. Ich fuhr nach Hause, fröhlich summend und pfeifend, nur fiel mir dann auf, als ich parkte, dass ich nicht zu Hause war. Ich war die ganze Nacht gefahren und nicht zu Hause. Ich stieg aus, um mir einen groben Überblick zu verschaffen.
Die Autobahn rauschte nebenan und ich entdeckte zwei Lastwägen. Offensichtlich befand ich mich auf einem Rasthof. Und dann entdeckte ich sie – eine alte Frau, rauchend und an einen Müllcontainer gelehnt. Auch diesmal war das Gesicht schwer zu erkennen und für einen Moment tauchte die Hoffnung auf, es könne doch eine junge hübsche Frau sein? Nein, ich verbannte die Hoffnung und das zu Recht. Es war eine alte Frau. Und sie erinnerte mich ein klein wenig an das hilflose Geschöpf, das ich heldenhaft aus dem Fluss gerettet hatte.
Ich gesellte mich zu ihr, fragte sie nach einer Zigarette und so weiter. Wir redeten ein paar Minuten. Aber ich bin ein ungeduldiger Mensch. Länger hielt ich diesen Smalltalk nicht aus. Ich verpasste ihr also zwei Schläge gegen die Schläfe und sie war bewusstlos. Der Körper war klein genug für den Kofferraum und dann fuhren wir gemeinsam zu mir nach Hause. Ich weiß was du denkst: Du bist schockiert, du denkst dir Mörder! Und Vergewaltiger! Und du bist abgestoßen von mir, nicht wahr? Aber was ich dir nun erzähle, wird dich vollkommen aus den Socken hauen, du wirst mich nur sprachlos anstarren und dir mit einem kleinen Lächeln denken: Oh, dieser gewitzte kleine Schelm. Und du wirst mir zuzwinkern, das verspreche ich dir.
Ich brachte sie also zu mir nach Hause, legte ihr im Keller Fesseln an und ließ sie dort. Sie war immer noch bewusstlos, also bereitete ich in der Küche alles vor. Dann wartete ich.
Irgendwann wachte sie auf, ihr Gesicht eine Maske der Angst, aber ich lächelte ihr freundlich zu: „ Keine Angst, junge Dame.“ Ich war ganz charmant, denn natürlich war dieser faltige Lumpen alles andere als jung. Und dann sprang ich auf und servierte ihr all das, was ich geplant hatte: Ein Glas Wein und einen Käseteller à la France und ich löste ihre Fesseln, damit sie essen konnte. Ich grinste froh. Ich war eindeutig auf der zwanzigsten Etage!“
Ich lasse die Worte ein wenig nachklingen und versinke in dem sanften Wirbel aus Eindrücken, Gesten und Wörtern meiner Geschichte, wie in einer Badewanne. Ich kann es nicht lassen, mir den Schaum, die Rosenblätter und den Vanilleduft des Wassers hinzuzudenken. Ich lächle. Doch noch ist die Geschichte nicht vorbei. Ich lege eine kurze Pause ein, um der Spannung Zeit zu geben, ihr Aroma zu entfalten. Dann fahre ich fort:
„ Aber dann tat sie etwas, was viele Menschen tun und sie enttäuschen mich dabei immer wieder aufs Neue. Sie war alles andere als dankbar. Sie blieb versteinert hinter ihrer Maske, sie aß nichts, sie trank nichts. Ich wagte mich vorsichtig auf die einundzwanzigste Etage – möglicherweise würde sie das für mich erwärmen? Ich ließ sie gehen. Einfach so. Einundzwanzigste Etage, ich sage es doch. Sie ging und ich folgte ihr natürlich, was hätte ich auch sonst tun sollen? Zu meinem Erstaunen rannte sie. Sehr lange. Und telefonierte. Aber ich bin nicht dumm. Dieses Miststück hat mich für dumm verkauft! Was hätte ich also anderes tun sollen, als – HÖRST DU MIR EIGENTLICH ZU?!“ Ja, ich schreie. Und meine Hände verkrampfen sich und ich kann nicht anders, als auszuholen und dem Glatzkopf ins Gesicht zu schlagen. Aber er rührt sich nicht. Zwei Kittelträger stürmen in den Raum und packen mich, aber ich bin schon ganz ruhig. Ich bin ruhig! Ich lächle sie an, ich bin ganz Herr der Lage.
Zu Schade, dass die junge blonde Kittelträgerin nicht dabei ist. Ich hätte ihr gern gezeigt, wie ich die Kontrolle über die Situation bewahre.
„ Ich glaube, mit dem stimmt was nicht“, sage ich dem braunhaarigen Kittelmann und deute auf die Glatze. Aber er beachtet meine Worte nicht. Sie legen mir Handschellen an und das macht mich rasend. Ich bin nicht der Verrückte hier! Merken die das denn nicht? Doch dann kommt mir die zündende Idee: Die Glatze hat keine Handschellen. Und warum? Weil er nur sitzt. Es ist so simpel, dass ich mir am liebsten die Hand an den Kopf geschlagen hätte. Wieso bin ich da nicht draufgekommen?!
Ich lächle die Kittelträger an. Es wäre mir deutlich leichter gefallen, hätte der eine nicht so abstehende Ohren und der andere nicht immer noch den dicken Leberfleck auf der Stirn. Aber ich lächle trotzdem ganz ruhig, wie jemand das macht wenn er nicht verrückt ist.
„ Meine verehrten Kittelfreunde, hättet ihr was dagegen wenn ich mich zu meinem glatzköpfigen Kumpel gesellen würde? Ich werde ganz ruhig sein und sitzen, so wie ihr es gernhabt.“ Wohlwollend schenke ich ihnen ein weiteres Lächeln.
„ Ich denke, Sie könnten für heute etwas Ruhe gebrauchen“, sagt der eine und will mich mitzerren.
„ Nein!“ Ich kreische. Ich winde mich. Die zwei Kittel sind verwirrt, erst halten sie mich fest, aber dann lassen sie mich gehen. Ich setze mich neben die Glatze, schaue kurz zu ihm rüber, um zu sehen wie er das macht. Ich imitiere ihn wirklich gut, es ist etwas, auf das ich stolz sein kann. Wenn er seine Füße ausstreckt oder seine Hände auf die Knie legt, tue ich es ebenfalls. Ich registriere jede Handlung und dann mache ich sie nach.
Und mittlerweile ahne ich sogar im Voraus, was er als nächstes tun wird und bin schneller als er. Ich weiß nicht, wie lange ich hier bereits sitze, denn die Glatze schaut nie auf die Uhr, also tue ich es auch nicht. Aber ich weiß, dass ich seitdem nie mehr Handschellen angelegt bekommen habe und dass die hübsche Blonde mir häufiger Blicke zuwirft. Da kann ich mir ein Lächeln manchmal doch nicht verkneifen.