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Die Zukunft liegt in deiner Hand
Erich Gallemann verlies wütend die Wohnung, die sich im 12. Stock eines Blocks in Kaiserslautern befand. Eine Wahrsagerin! Zu einer Wahrsagerin war er gegangen! Und wie hatte es so weit kommen können? Das Fernsehen war schuld.
Er hatte herumgezappt und war bei einem politischen Magazin hängen geblieben, obwohl ihn Freunde vor so einem pessimistischen Scheißdreck gewarnt hatten; aber nein, er musste natürlich zusehen, statt gleich weiter zu zappen.
Die Renten seien unsicher, hieß es, und die Zukunft ungewiss. Natürlich nur für jemanden, der sie nicht kennt, dachte Gallemann gleich. Gallemann liebte aber keine Überraschungen. Obwohl Überraschungen letztlich nur fehlende Kenntnis des Zusammenhangs waren, sagte sein Sachverstand.
Gut, wir schmelzen die Polkappen ab und wundern uns ernsthaft über Flutkatastrophen und solche Sachen, dachte er, und überhaupt war es ein wenig – seltsam, – dass die Könige des Planeten sich trotz Fortschritts ständig selbst anpassen mussten, statt die Umgebung so zu gestalten, wie es ihrer Natur entsprach. Aber was hatte das mit ihm zu tun?
Er arbeitete und zahlte Rentenversicherungsbeiträge; jetzt hatte er diese Wahrsagerin aufgesucht, um zu erfahren, wie es ihm im Alter gehen würde.
Er hatte sich seinen schönen dunkelblauen Anzug angezogen, um beim feierlichen Augenblick der feierlichen Enthüllung seiner feierlichen Zukunft feierlich auszusehen. Dann war er zu ihr gefahren.
150 Euro hatte die elende Essiggurke verlangt, mit ihrer Glaskugel rumgemacht, in die er schauen durfte (obwohl absolut nichts darin zu sehen war), und bevor es dann los gegangen war, hatte sie gesagt: „Danke für Ihren Besuch.“ Und das war’s gewesen. 150 Euro.
Gallemann war stinksauer. Nichts hatte er in Erfahrung gebracht.
Schluss mit dem Unsinn! Er würde einfach eine gediegene Lebensversicherung abschließen und damit fertig mit dem Scheißdreck, der kein Thema mehr sein würde.
Er bahnte sich seinen Weg durch diese Heerscharen Lauterer Penner, und als einer dieser Trauergreise es wagte, ihn anzuquatschen: „Lieber Herr, ich habe Hunger!“, war er so ungehalten, dass er ihm einfach die Faust in die Fresse rammte und weiter ging.
Die Lebensversicherungsgesellschaft in Form ihres Beraters versprach einen super Lebensabend – Bilder waren zu sehen von zufriedenen grauhaarigen Männern, die auf ihren Yachten die Welt umsegelten; wenn sie etwas in ihrem Leben anders gemacht haben wollten, so hätten sie gleich Fielmann-Brillen gekauft; so würde auch er sein.
„Vertrauen Sie uns“, sagte der Berater und lächelte.
Gallemann vertraute ihm.
Vierzig Jahre später, in der Gosse, hatte Erich Gallemann ein seltsames Gefühl von Vertrautheit, ein Deja-Vu wohl, als er sehr hungrig auf diesen gutgekleideten Mann mittleren Alters in blauem Anzug zuging, um einen Almosen zu erhalten. „Lieber Herr, ich habe Hunger“, sagte er, - das war der Spruch, der manchmal Erfolg hatte. Aber diesmal schlug ihm der Angesprochene ohne Kommentar die Faust ins Gesicht. Gallemann kippte um und blieb liegen. Blut rann ihm aus der Nase. Es war keine Empörung, die er empfand, sondern Scham.