Die Zukunft ist weiß
Wenn mich jemand fragen würde, wie die Zukunft aussieht, so würde ich ihm antworten: "Die Zukunft ist weiß!" Weiß die Wände, weiß alle Häuser, blütenweiß. Auch ich bin weiß. Weiß wie alle anderen Menschen, die in der Zukunft leben. Unsere Gedanken sind genauso weiß wie unsere Kleidung. Es ist alles sauber und rein. Alles ist einfach und nichts macht mehr Mühe. Die Zukunft funktioniert wie das Uhrwerk einer weißen Armbanduhr. Und ich bin ein kleines weißes Zahnrad, dass perfekt in den gesamten Mechanismus eingearbeitet ist. Nun ist es gleich wieder Zeit, für das kleine Zahnrad, sich zu drehen.
Der Mann nahm einen Schluck aus seinem Becher, stellte ihn zurück auf die spiegelnde Tischplatte und zog, um mit dem weißen Kasten, der ihm den Inhalt des Bechers dampfend heiß serviert hatte, abzurechnen, seine persönliche weiße Karte, wie jeder sie hatte, durch einen kleinen Schlitz im Tisch. Jetzt hatte er heute nur noch Anspruch auf zwei heiße Getränke, doch das sollte reichen, denn, wenn er ehrlich war, so hatte er diese Tasse nur getrunken, da der Gutschein am nächsten Tag sowieso verfiel.
Betrachtete man die Zukunft, so waren Gemeinsamkeiten mit dem Marxschen System zu erkennen. In der Weise, wie sie Güter und Dienstleistungen verwaltete. Zentralwirtschaft. Der Mensch arbeitet für die Zunkunft, und die Zukunft arbeitet für ihn. So etwas wie Geld gab es nicht mehr. Die Zukunft hatte es als Hindernis beim Handeln angesehen. So wurden nun Waren und Dienste wieder direkt gegeneinander getauscht, wie es schon vor langer Zeit einmal üblich gewesen war. Meistens erhielt man jedoch Gutscheine von unterschiedlicher Laufzeit, die, gespeichert auf der weißen Karte, jederzeit griffbereit waren. Somit war die Zukunft selber ebenfalls nur ein Zahnrad im Uhrwerk. Genaugenommen gab es gar keine Feder. Die Zahnräder trieben sich gegenseitig an, wie bei einem Perpetuum Mobile.
Der Mann schob seinen Stuhl unter den Tisch und verließ die Kantine. Langsam schritt er durch die endlosen weißen Korridore, die ihn direkt zurück an seinen Arbeitsplatz führten. Er ließ sich in seinen Stuhl sinken und blickte über das lange Schaltfeld auf dem, nachdem er es reaktiviert hatte ausschließlich grüne Lämpchen zu sehen waren. Kontrolle. Grün, grün, grün. Seine einzige Aufgabe bestand darin, die Arbeit der vollautomatischen Fertigungsmaschinen zu überprüfen. Sollte ein Fehler auftreten, hatte er ihn lediglich zu melden. Er wusste nicht einmal, was er durch so eine Meldung auslöste. Wurden die Maschinen repariert? Von Menschen, oder von Robotern? Oder wurden sie gar komplett ausgewechselt? Verflucht, er wusste nicht einmal ob es die Produktionsstätten überhaupt gab.
Gebe ich durch meine Arbeit wiederum jemandem anders eine Arbeit? Wer ermöglicht es mir, zu arbeiten? Die Zukunft. Selbstverständlich. Wenn es Roboter gab, die die Konstruktionsgeräte reparierten, warum gab es dann keine, die die Reparaturrobotor kontrollieren und im Notfall reparierten? Wer würde die Kontrolleure reparieren? Wer kontrollierte sie? Eigentlich könnte die gesamte Produktion in die Hände der Roboter gelegt werden, die sich gegenseitig reparieren und immer mehr Roboter produzieren würden, so lange bis die Kontrollen so exakt waren, dass es keine Fehler mehr gab. In so einem Kreislauf wäre für ihn kein Platz. Schnell verwarf er den Gedanken wieder. Jemand mit solchen Gedankengängen war gefährlich. Gefährlich für die Zukunft und für das Bestehen dieses perfekt scheinenden Systems.
Ein weiteres Mal ließ der Mann seinen Blick über das Schaltpult schweifen. Heute würde es wieder keine Fehler geben, so wie gestern, oder vorgestern, wahrscheinlich auch wie morgen und übermorgen.
Er sollte Recht behalten. Nach Ablauf seiner Schicht schaltete sich das Kontrollfeld automatisch ab. Der Mann erhob sich langsam aus seinem Stuhl. Wie lang hatte er heute gearbeitet? Er wusste es nicht. Niemand wusste es. Doch! Die Zukunft.
Die Zukunft hatte, wenn man so wollte die Zeit abgeschafft. Aber nur äußerlich. Sie behielt sich vor, die Zeit zu kontrollieren. Der Mensch musste die Zeit nicht erfahren. Er arbeitete, und er vertraute darauf, dass dementsprechend für ihn gearbeitet wurde. Die Zukunft missbrauchte dieses Vertrauen nicht. Jeder Arbeiter wurde entlohnt und so gut wie jeder Arbeiter leistete genausoviel, wie ein anderer. Doch es waren nicht nur die Arbeiter, die das Uhrwerk antrieben. Nein, es war die Zukunft in gleichem Maße, sie arbeiteten zusammen. Niemand würde die Leistung der Zukunft in Frage stellen. Er würde eher seine eigene anzweifeln.
Die Angst, nicht genug für die Zukunft zu leisten war größer, als die Angst nicht ausreichend dafür entlohnt zu werden.
Der Mann trat auf die Straße. Obwohl die Häuser entlang der Gehwege ebenso weiß gewesen waren, wie die Wände innerhalb des Gebäudes, blendeten sie ihn. Zügig machte er sich auf den Heimweg. Immer wieder kehrten die Dinge, über die er während der Arbeit nachgedacht hatte in seinen Kopf zurück. Verzweifelt versuchte er, sie zu verdrängen. Sie brachten ihn in Gefahr.
Erst als er die Tür seiner Wohnung hinter sich schloss verspürte er eine gewisse Geborgenheit. Das hier war sein Zuhause. Hier durfte er denken, was er wollte. Er erschrak vor sich selbst. Er wollte doch garnicht denken. Die Zukunft übernahm das für ihn. Die Zukunft wusste doch was für ihn richtig war.
Es ist nicht meine Aufgabe über die Richtigkeit der von der Zukunft aufgestellten Regeln und Normen zu entscheiden. Es ist meine Aufgabe zu Arbeiten. Nicht für mich, sondern für alle anderen Arbeiter und für die Zukunft. Aber was tue ich denn für sie? Ich sitze in meinem Stuhl und überwache die Lämpchen. Eigentlich könnte doch auch der Mechaniker direkt auf meinem Platz sitzen. Oder der Roboter. Dann müsste ich garnicht arbeiten. Dann würde aber auch niemand für mich arbeiten. Aber das würde die Zukunft nicht machen. Ich muss einen Nutzen haben! Ich muss! Ich habe einen Nutzen! Ich kontrolliere die Roboter.
Der Mann entspannte sich. Er setzte sich an seinen Tisch und überlegte, welche seiner zwei Gutscheine für eine warme Mahlzeit er einlösen sollte. Er entschied sich für einen Teller Spaghetti. Wieder zog er seine weiße Karte durch einen Schlitz im Tisch. Ein Pfeifton bestätigte seine Bestellung. Während er auf sein Essen wartete, betrachtete er die Karte. Ausser seinem Bild und einer Nummer war nichts darauf.
Die Zukunft hatte Namen für überflüssig erklärt. Nummern waren unfehlbar. Verwechselungen waren ausgeschloßen. Jeder hatte eine Nummer. Starb er, so wurde sein genetisches Erbe mit seiner Nummer versehen. Niemand wusste, wohin das Erbmaterial ging, aber im Grunde interessierte es niemanden. Die Zukunft tat das, was sie für richtig hielt. Nein, die Zukunft tat das, was richtig war. Keine Zweifel. Zweifel waren verboten. Menschen, die die Unfehlbarkeit der Zukunft anzweifelten, waren gefährlich. Eine Gefahr für sich selbst und ihr näheres Umfeld.
Der Mann hatte seine Nahrungsaufnahme abgeschloßen. Wie jeden Tag um diese Zeit legte er sich auf seine weiße Liege und klebte sich die beiden Elektroden, die an langen Kabeln aus dem Fuß der Liege kam, an die Schläfen. Wenn er ehrlich war, so wusste er nicht, was dieser Apparat für einen Einfluss auf ihn hatte. Er ahnte es, doch er wagte nicht, es auszusprechen. Die Minuten verstrichen. Lange Zeit geschah nichts, doch auf einen Schlag ging ein fast unmerkliches Vibrieren durch die Liege und ein leises Summen war zu hören.
Was geschieht hier mit mir? Was passiert in meinem Kopf? Was tut die Zukunft? Was macht sie mit mir? Werde ich kontrolliert? Oder repariert? Was, wenn die Überprüfung ergibt, dass ich fehlerhaft bin? Werde ich ausgewechselt? Leuchten gerade jetzt irgendwo grüne Lämpchen auf? Oder rote? Sitzt irgendwo ein Kontrolleur vor einem Schaltpult und kontrolliert mich? Oder kontrolliert mich die Zukunft? Die Zukunft wechselt mich aus. Die Zukunft wechselt meine Gedanken aus. Sie wechselt die Gedanken aller aus. So lange, bis wir alle weiß sind. Ja, wenn die Zukunft könnte, würden wir alle sogar weiß sehen, sollten wir die Augen schließen.
Für gewöhnlich fiel der Mann auf der Liege immer in einen kurzen, unruhigen Schlaf, doch dieses Mal durchzuckten plötzlich gräßliche Schmerzen seinen Körper. Er wollte schreien, doch er konnte nicht. Seine Extremitäten führten wirre Bewegungen aus, die er nicht mehr verfolgen konnte. Alles was er wahrnahm waren unendliche Schmerzen. Doch plötzlich waren sie weg. Einfach weg, als wären sie nie da gewesen. Er hatte eine Elektrode verloren. Keuchend erhob er sich aus seiner liegenden Position. Immernoch am ganzen Körper zitternd, rannte er quer durchs Zimmer, riss die Tür auf und sprang mit vier-Stufen-großen Schritten die Treppe hinab. Auf der Straße blickte er sich verwirrt um. Seine Haare waren zerzaust und der Schweiß lief ihm in Strömen herunter. Er begann zu laufen. Er lief, so schnell er konnte. Vorbei an den ganzen weißen Häusern und über die Querstraßen, die alle gleich aussahen. Er wusste nicht, wohin er rannte, doch er hatte einen Punkt am Horizont, des weißen Waldes aus Gebäuden und Türmen fixiert.
Den weißen Magnetschwebezug, der die Hauptstraße kreuzte bemerkte er erst zu spät. Er wurde durch die Luft geschleudert, und prallte auf hartem Stein wieder auf. Er spürte nichts und zugleich mehr denn je zuvor.
Die Zukunft hat mich nicht gekriegt. Sie kann mich nicht auswechseln. Sie kriegt mich nicht. Sie sollen mich alle sehen. Die Zukunft hat mich nicht gekriegt. Sie hat mich nicht...sie...
Der Mann spürte, wie warmes Blut aus einer Kopfwunde über sein Gesicht lief. Langsam drehten sich die hoch über ihm aufragenden Häuser wie in einem Strudel um ihn selbst, bis ihm schwarz vor Augen wurde. Schwarz. Noch nie hatte er sich so wohl gefühlt. Umgeben von nichts. Alles schwarz.
Plötzlich erstrahlte in weiter Ferne ein weißes Licht, von dem er wie magisch angezogen wurde. Er wehrte sich, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Immer größer wurde das gleißend helle
Licht, immer größer, immer größer, bis es ihn schließlich in sich aufgenommen hatte.