Die Zukunft ist ein Hundehaufen
Mit letzter Kraft zerrt sich mein Restkörper am Schreibtisch hoch und tippt mit zitternden Händen diese Zeilen in die Tastatur. Ich stinke und habe einen faden Geschmack im Mund. Meine Lunge ist eine Rosine und meine Leber Bier. Ein Nachhall des Knallergeballers dröhnt meinen Kopf in Grund und Boden. Wer dem Wagnis ins Auge blicken sollte, mich zu fragen, ob ich gut ins neue Jahr gestartet sei, der renne, so schnell er kann.
Schon das Bleigießen war die letzte Scheiße. Mit Manuel, Karen und Jochen sitze ich um einen mit Wasser gefüllten Topf und eine Kerze. Reihum verbrennt man sich die Finger beim Bleierhitzen und schlabbert dann das flüssige Metall in den Pott. Die Zukunft, verbleit. Was folgt: Positives in bleierne Pilze, Quallen und Wurzeln reindeuten. Mir ist vom Käsefondue sowieso schon speiübel. Jetzt auch noch diese Idiotenspielchen ertragen…
Ich bin an der Reihe. Karen reicht mir den Blei-Erhitzungslöffel, ich erwärme mein Metallteilchen, schütte das flüssige Blei in den Topf. Plop. Ich gieße einen schäbigen Bleiklumpen. Am ehesten erinnert er noch an einen Hundehaufen. Oder an einen Knödel, auf den man kräftig draufgehauen hat. Weder Rose, noch Feder erkennbar. Manuel schlägt in der Fachliteratur nach. In dem Heftchen, das dem Bleigieß-Set beiliegt, stehen Erklärungen, was Gegossenes für die Zukunft bedeutet. „Schäbiger Bleiklumpen“ wird nicht aufgelistet. Kein Raum also für schöngeistige Interpretationen. Einfach ein fieser Bleiklumpen. Und das soll meine Zukunft sein?
Der Unvernunfts-Alkoholpegel ist schnell erreicht, die ersten Feuerwerkskörper werden sich schon lustig ins Gesicht geworfen. Ich habe mir fest vorgenommen, spätestens wenn feuchtfröhliche Knallfrösche auf die glorreiche Idee kommen sollten, Raketen aus Nasenlöchern starten zu lassen, schleunigst den Heimweg anzutreten.
Es ist bereits kurz vor knapp. Plötzlich schießt mir ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf: Was, wenn mehrmals im Jahr Neujahr wäre? Was, wenn der Grottenolm, der festgelegt hat, wann ein Jahr rum ist, Silvesterfetischist gewesen wäre? Was, wenn er gesagt hätte: „Ein Jahr hat vier Wochen“?
Was für ein Stress! Ständig neue Kalender kaufen. Ständig billigen Rotkäppchensekt saufen. Ständig von besoffenen Freunden die Kapuze voll gekotzt kriegen…und ständig Blei gießen.
Als ich den Gedanken zu Ende fasse, grölen Manuel und Karen (Jochen liegt bereits unansprechbar aber grinsend auf dem Sofa) den Countdown herunter. Dann ist das Jahr rum. Ohne auch nur im Ansatz ein „frohes Neues“ zu wünschen kralle ich mir meinen Blei-Hundehaufen und laufe nach Hause.
Mit letzter Kraft zerrt sich mein Restkörper am Schreibtisch hoch und tippt mit zitternden Händen diese Zeilen in die Tastatur. Es ist ein Hilferuf, ein verzweifelter Schrei nach Trost. Ich weiß keinen Ausweg, bin mit meinem Latein am Ende. Meine Zukunft ist ein Hundehaufen.