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Die Zukunft im Dunkeln lassen
„Was machst du da?“, fragte eine Stimme hinter mir. Vor allem war ich überrascht. Zum einen, weil ich doch ganz offensichtlich beim Zähneputzen war. Und zum anderen, weil ich allein lebe. Immer schon. Frühmorgendliche Stimmen in meinem Badezimmer waren bisher noch nie ein Thema gewesen. Vermutlich wäre ich mehr als nur überrascht gewesen. Eher Erschrocken. Vielleicht sogar zu Tode verängstigt. Wenn diese Stimme nicht so zart geklungen hätte. Es war die Stimme eines Kindes.
Hinter mir hatte sich ein kleiner Junge, vielleicht 8 Jahre, ganz selbstbewusst in meinem Badezimmer aufgestellt. Als hätte er einen großartiges Kunststück vollführt stand mit den kleinen Hände stolz in die Hüften gestemmt da, lächelte er mich an und lies dabei seine Zahnspange blitzen. Kannte ich diesen Jungen? Ich war mir nicht sicher. Für einen Einbrecher war er jedenfalls reichlich jung. Und etwas an ihm kam mir seltsam vertraut vor. Die Zahnspange vielleicht. So ein Ding hatte ich jahrelang selbst getragen. Überhaupt erinnerte mich der kleine Kerl an mich selbst.
Trotzdem war es natürlich völlig unangebracht, einen fremden Erwachsenen so zu erschrecken. Mitten in seinem Badezimmer. Um nicht mal 7h morgens. Und wie war der kleine Kerl überhaupt in meine Wohnung gekommen? Ich baute mich in voller Größe vor dem kleinen Zwerg auf und begann mit einer Standpauke. Ich erzählte ihm von Privateigentum, Hausfriedensbruch und dass ich jedes Recht hätte, die Polizei zu rufen. Und was tat der Junge? Er grinste noch breiter. Mein Vortrag schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Stattdessen stellte er mir seine zweite Frage: “Hast du denn nicht mit mir gerechnet?“
Damit brachte er mich aus dem Tritt. Ich wollte ihn gerade nach seinen Eltern und deren Meinung zu frühmorgendlichen Besuchen in Badezimmern befragen, doch ich brach mitten im Satz ab. Dieses vertraute Gefühl beim Klang seiner Stimme war einfach überwältigend. Ich ging vor dem kleinen Kerl in die Knie, um ihn näher zu betrachten. Er blickte mir dabei ernst in die Augen, aber ich hatte das Gefühl, dass er schon im nächsten Augenblick wieder in fröhliches Lachen ausbrechen könnte. Mir gefielen seine wachen Augen und das strubbliges Haar, das auch durch den kurzen Haarschnitt kaum im Zaum gehalten wurde. Er schien so voller Leben, gemacht für kleine Streiche und Abenteuer.
Der Junge strecke seine Hand aus und berührte mein Gesicht ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen. Er zeichnete die Furche zwischen meinen Augenbrauen nach. Dann strich er mir zärtlich die Haare aus der Stirn. Morgens waren meine Haare immer kaum im Zaum zu halten. So wie seine. Besser gesagt – unsere. Denn als er mich berührte erkannte ich, wer dieses Kind war. Das war ich. Ich vor fast drei Jahrzehnten.
Während seine kleinen Hände mein Gesicht erkundeten rasten meine Gedanken. Natürlich wusste ich, dass es unmöglich war einfach mal so durch die Zeit zu reisen. Aber damals mit acht hatte mich so ein „unmöglich“ nicht davon abgehalten, es zu versuchen. Ich war von der Idee besessen gewesen, mein späteres Leben zu besuchen.
Und so hatte ich als ich acht Jahre alt war einen ganzen Sommer damit verbracht, einen Weg zu finden die Zukunft zu besuchen. Alles begann damit, dass ich in einem der Bücher meines Großvaters gelesen hatte, dass für Zeitreisen hohe Geschwindigkeiten notwendig wären. Unermüdlich tüftelte ich darauf hin an Verbesserungen für meine Seifenkiste, um mich dann hoffnungsvoll in halsbrecherischem Tempo vom Hügel hinter unserem Haus zu stürzen. Ich überredete meine Freunde zu mystischen Ritualen auf unserem Dachboden. Am Jahrmarkt stand ich bei bestem Badewetter geduldig in der Warteschlange vor dem Zelt des Hellsehers. Und als auch das nichts nützte bestach ich den Nachbarsjungen mit meinem gesamten Gummibärchenvorrat, damit er mich k.o. schlägt. Ich hatte gehofft dann mit leichtem Gepäck, nur als Geist, in die Zukunft reisen zu.
Den ganzen Sommer lang hatte ich fast jeden Abend mit vor Vorfreude klopfenden Herzen wach gelegen und mir mein Leben als Erwachsener ausgemalt. Was würde ich später mal mit so unglaublich viel Freiheit anfangen? Erwachsene konnten immerhin einfach aufstehen, ihr Auto zum nächsten Flughafen lenken und ans andere Ende der Welt fliegen. Oder sie drehten einen Film über Tiefseehaie. Fuhren Rennautos. Bauten Raumschiffen und flogen zum Mond. So unglaublich viele Möglichkeiten. Ich brannte damals darauf rauszufinden, welche ich wählen würde.
Als ich den kleinen Jungen vor mir stehen sah erinnerte ich mich an tausend Details aus diesem Sommer. Die aufgeschürften Knie nach meinem ersten Sturz mit der Seifenkiste. Der holzige Geruch des Dachbodens. Und wie verdammt weh dieser Kinnhaken des Nachbarjungen getan hatte. Nur an eines konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern. An einen Versuch, der wirklich geklappt hatte. So angestrengt ich auch überlegte, ich konnte mich nicht daran erinnern jemals wirklich durch die Zeit gereist zu sein. Aber seit der Junge mich berührt hatte gab es keinen Zweifel mehr, dass es mir doch irgendwie gelungen sein musste.
Ich beschloss, mir erstmal in der Küche einen Kaffee zu machen. Nicht, dass ich besonderen Appetit darauf hatte. Aber es war das Erste, das mir einfiel, um ein wenig Abstand zwischen mich und den Jungen zu bringen. Und ich musste unbedingt etwas Zeit gewinnen. Denn noch ich hatte keine Ahnung was ich antworten sollte wenn der Kleine mich fragen würde, wie mein Leben so aussieht. Und er würde fragen.
Ich hatte natürlich kein Problem damit, sagen wir mal auf einer lauschigen kleinen Sommerparty mit einem kühlen Martini in der Hand, darüber zu plaudern was ich so mache. Bei solchen Gelegenheiten konnte man sich aber auch darauf verlassen, dass das Gegenüber die Frage nur aus Höflichkeit gestellt hatte. Und in Gedanken längst beim nächsten Canapee war.
Um ehrlich zu sein war mein Leben aber nicht geeignet, um ein gutes Gesprächsthema abzugeben. Nicht mal bei oberflächlichem Small Talk. Ich wurde auch nur sehr selten zu Partys eingeladen. Trotzdem hatte ich vorsichtshalber mit meinem Therapeuten diese Situationen ausreichend geübt, damit ich im Fall des Falles nicht wieder mit hektischen Schweißausbrüchen auf die Toilette flüchten müsste.
In den Sitzungen hatte ich gelernt, alles was ich tun musste war, mich an eine der einstudierten Antworten zu halten. Diese Erkenntnis hatte meinen Therapeuten um einige tausend Euro reicher gemacht. Zusätzlich hatte er mir im Gegenzug den guten Rat gegeben, nicht mehr zu sehr an den Sommer als ich acht Jahre alt war zu denken.
Ein guter Rat. Doch jetzt schien genau dieser Sommer mich doch noch eingeholt zu haben. Bisher hatte ich nur gewusst, dass ich mich damals eines Tages in mein Zimmer eingeschlossen hatte. Mitten in einem Jahrhundertsommer mit bestem Badewetter. Ich hatte die Rollläden herunter gelassen und mich tagelang geweigert, das dunkle Zimmer zu verlassen. Schließlich wussten meine Eltern keinen anderen Ausweg mehr, als mich in eine Klinik zu bringen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, warum ich mich überhaupt so plötzlich in meinem Zimmer eingesperrt hatte. Oder wie ich dann in der Klinik behandelt wurde. Überhaupt kann ich mich nicht mehr an viel aus diesem Sommer erinnern. Die Ärzte sprachen von einem Trauma. Ich hatte wohl etwas erlebt, das so schrecklich war, dass es mich völlig aus der Bahn geworfen hatte. Ich hatte jedenfalls keine Erinnerung daran.
Man hatte sich jedenfalls alle Mühe mit mir gegeben. Dennoch war ich im Herbst nicht mehr der aufgeweckte, fröhliche Junge, der ich vor diesem Sommer gewesen war. Ein düsterer Schatten schien auf mir zu liegen. Und daran änderte sich auch nichts bis zum drauf folgenden Sommer. Oder in all den Sommern danach.
Der Junge näherte sich mit großen Augen dem Küchentisch. Und dem Mann, der er mal werden würde. Noch sah er sich neugierig um in der düsteren Einzimmerwohnung. Sie war mit festen Rollos verdunkelt, so wie ich es seit diesem Sommer damals bevorzugte. Und ich wusste, bald würde er mir seine vielen Frage stellen. Und ich würde vor einer Antwort nicht flüchten können.