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Die Zugfahrt
Der Mann ist mittelgross, eher mager, gepflegt. Ein gewöhnliches Gesicht auf den ersten Blick, jedoch lassen einen guten Beobachter einige kleine Merkmale auf überdurchschnittliche Intelligenz schliessen.
Kleine, eisgrau blitzende Augen tasten den Zugwaggon beim Eintreten schnell ab, erkennen eine Lücke zwischen all den besetzten Sitzen. Zielstrebig schreitet der Mann durch den schmalen Gang zwischen den Plätzen hindurch, umgeht elegant eine achtlos hingeworfene Sporttasche, setzt sich, leise entschuldigende Wörter murmelnd, auf den von ihm auserwählten Sessel. Rechts von ihm rückt eine junge Mutter mit Kind auf den Knien etwas Richtung Fenster ab, um den jederzeit bewährten Anstandsabstand zwischen sich und dem Fremden zu bringen. Ihr gegenüber sitzt ein junger Mann, die Konzentration völlig auf sein Handy gerichtet, laute Bassmusik dringt aus seinen Kopfhörern, welche an eine ausserirdische Uniform erinnern könnten.
Neben der Musik, die Hände im Schoss verschränkt, Beine im rechten Winkel aufgestellt, den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen, eine Frau. Mittvierzigerin ungefähr, das lange, blond gefärbte Haar gescheitelt hinter die Ohren geklemmt, den schmalen Mund leicht geöffnet. Langsam hebt und senkt sich ihr Brustkorb, was erkennen lässt, dass die Dame schläft.
Der Mann räuspert sich, wohl ausgelöst durch die kurze Spannung, welche zwischen fremden Menschen entsteht, welche sich unfreiwillig auf engstem Raum begegnen, bis sich die Sinne wieder beruhigen und die instinktive Abneigung gegen alles Unbekannte sich nach einigen Atemzügen auflöst.
Nach dem Räuspern greift er in seine Jacketttasche, fischt ein überdimensionales Smartphone hervor, beginnt geschäftig darauf herum zu tippen und zu streichen, Augenbrauen ziehen sich vor Konzentration zusammen, abwesend hebt er immer wieder den Blick vom Display, lässt ihn im Abteil herumschweifen, nichts wirklich erkennend, da innere, wichtigere Bilder ihn davon abhalten. Wieder zurück zum Smartphone, Mails sind zu beantworten, er lässt sich etwas in den Sitz zurückfallen, entspannt sich, dankbar für die Zeit, die ihm im dahinrasenden Zug gegönnt ist, um sich um solche Dinge kümmern zu können.
Das Kleinkind patscht mit kleinen Händchen gegen die Scheibe, patsch patsch patsch patsch, passend zum Beat der Musik, der junge Mann registriert es, ein rasches Lächeln huscht über sein Gesicht, sucht den Blick der Mutter, schenkt auch ihr ein leicht verschwörerisches Lächeln, scheint doch ihr Kind ein kleiner Musikfreund wie er. Die Mutter, mit den Gedanken beim harten Alltag einer arbeitenden, erziehenden, modernen Frau, schenkt dem Mann einen verwirrten Blick, ehe sie wieder aus dem Fenster schaut.
Der Zug, ein neues Modell, gleitet fast lautlos die Schienen entlang, rauscht monoton durch die Landschaft, zielstrebig dem nächsten Bahnhof entgegen. Ein Geräusch, als sauge ein riesiges Monster Nahrung in sich herein, der Zug verschwindet in einem Tunnel. Kurzes Flackern, dann springt im Waggon gelbliches, warmes Licht an, was wohl an die Sonne an einem warmen Herbsttag erinnern soll.
Das Kind kräht, versucht zu verstehen, weshalb statt der leuchtend grünen Felder und dem türkisblauen Himmel nun mehr Dunkelheit vor dem Fenster herrscht und wendet sich dann enttäuscht einem Knopf an der Jacke der Mutter zu.
Der Anzugträger scheint eine sehr amüsante Nachricht zu lesen, vergisst fast seinen Aufenthaltsort, so sehr ist er in seine eigene Welt eingetaucht aus privaten und geschäftlichen Dingen, wühlt in elektronischen Briefkästen und Chatrooms und kann sich nur in letzter Sekunde ein lautes Lachen verkneifen. Erschrocken über seine eigene Überschwänglichkeit, schaut er kurz auf, lässt blitzschnell die eisgrauen Augen über die Gesichter der näher Anwesenden schweifen, versucht herauszufinden, ob irgendwer seinen unkontrollierten Gefühlen Achtung geschenkt hat, erkennt nur Gleichgültigkeit und konzentriert sich erneut auf die Nachricht. Wieder ein Lächeln, das hurtig über seine Miene huscht, diesmal jedoch kontrolliert und gesittet.
Nach einiger Zeit löst sich seine Konzentration wieder vom Smartphone, er lässt es in der Anzugstasche verschwinden, erhebt sich, wendet sich nach rechts, der Toilettenkabine zu. Mit einem saugenden Geräusch öffnet sich die automatische Tür, er verschwindet im nächsten Wagen.
Die schlafende Dame zuckt leicht zusammen, lässt sich aber nicht aus ihren Träumen reissen, als das Kind, gelangweilt vom Knopf, sich wieder dem Fenster zuwendet und mit freudigem Jauchzen erkennt, dass es nun anstatt schöner Landschaften, die Menschen im Zug darin erkennt. Freudig beginnt es wieder zu patschen, diesmal jedoch nicht im Takt der Musik.
In der Toilette wäscht sich der Mann das Gesicht, er wirkt etwas überspannt, bleiche Gesichtshaut, dunkle Schatten um die hellen Augen. Er beugt sich vor, beobachtet eine dicke Ader, welche auf seiner tropfenden Stirne pocht. Langsam hebt er die Hand, berührt die wulstige Erhebung, streicht verwundert darüber. Er scheint diese Ader vorher noch nie gesehen zu haben. Erneut beugt er seinen Rücken über das Waschbecken, reibt sein Gesicht mit kaltem Wasser ab. Es scheint ihm nicht wohl zu sein, ein Stöhnen entfährt ihm, als er sich aufrichtet. Langsam schwankend hält er sich mit einer Hand am Beckenrand fest, lässt sich auf den Toilettensitz fallen. Presst die Hände an die Schläfen, es kommt ein leises Seufzen über seine bleichen Lippen. Öffnet die Augen, lässt die Arme sinken, beugt sich vor, kaum kann er sich gerade halten, er schwankt wie auf einem Schiff mit wildem Seegang. Versucht, sich im Spiegel anzusehen, reisst die Augen auf-
-fast erkenne ich mein Gesicht nicht, schrecklich bleich, dunkle Ringe unter den Augen, schaut mir mein eigenes Gespenst im Spiegel entgegen. Mir ist speiübel, rote Blitze zucken immer wieder vor meinen Augen, mein Herz rast, der Kopf scheint fast zu explodieren. Was ist bloss los mit mir?
Konzentriert versuche ich mich zu beruhigen, lehne mich zurück, schliesse die Augen.
Ich zähle meinen Atem. Die Lichtblitze hinter meinen Augen bewegen sich stetig langsamer, werden zu einem dunkelorangen Wabern. Meine Zungenspitze lasse ich den Gaumen berühren, ein Yoga-Trick um die Gedanken zu beruhigen, hat mir meine Assistentin beigebracht.
Doch das beklemmende Gefühl will nicht wirklich verschwinden. Noch zehn Atemzüge. Mein Herz klopft, der Gedanke, dass etwas nicht stimmt, nimmt Überhand.
Thomas, reiss dich zusammen! Diese Worte sage ich zu mir selbst, zwinge mich, noch einmal sechzig Atemzüge zu zählen. Endlich klopft mein Herz im gewohnten Takt, die Schmerzen lassen nach, die Übelkeit zieht sich zu einem kleinen, zwar unangenehmen, Klumpen zusammen, beeinträchtigt mich jedoch nicht mehr.
Vorsichtig erhebe ich mich, wische das feuchte Gesicht mit einem nach Pappe riechenden Papiertuch ab, schliesse die Türe auf, werfe einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel, erkenne mich selbst wieder und verlasse die Kabine.
Die Erkenntnis, dass sich der Zug immer noch im Tunnel befindet, durchzuckt mich wie ein greller Blitz aus Eis. Zur Säule erstarrt erkenne ich vor dem Fenster weiterhin nichts als schwarzgraue Schatten, welche schemenhaft vorbeihuschen.
Wie auf Knopfdruck wird mir schwindlig, der Gedanke an den Tunnel gräbt sich weiter in mein Hirn ein, überschlägt sich, breitet sich rasend aus, ich rechne nach, überlege, schüttle den Kopf, um die Schmerzen loszuwerden, welche sich erneut ausdehnen.
Normalerweise befindet sich der Zug auf dieser Strecke für rund fünf Minuten in dem Tunnel. Bevor mir vorhin schwindlig wurde, vergingen sicherlich schon rund vier Minuten, nachdem sich die künstliche Beleuchtung eingeschaltet hatte. Danach begab ich mich in die Toilettenkabine, wusch mir das Gesicht, kämpfte gegen mein Unwohlsein, zählte ungefähr hundertzwanzigmal meinen Atem, das sind rund vier Sekunden pro Atemzug, ergibt vierhundertachtzig Sekunden, das sind acht Minuten!
Was geschieht hier? Panik klettert in mir hoch, kriecht wie eine geschmeidige Boa an mir hoch, erdrückt mich langsam, schneidet mir die Luft ab…
Ein rettender Gedanke, rasch hole ich mein Handy hervor, lese die Zeit, lasse es wieder im Anzug verschwinden.
Erneut schliesse ich die Augen, erneut zähle ich den Atem, zwinge mich gewaltsam, langsam zu atmen, zu zählen, bis ich bei zwanzig angekommen bin.
Nun kann ich sicher sein, dass mindestens eine Minute vergangen ist, ziehe mein Samsung erneut aus der Tasche, entsperre es, warte. Die Digitaluhr zeigt exakt die gleiche Zeit, wie vorher, bevor ich die Atemzüge gezählt habe, bevor ich das Phone in die Tasche gleiten liess.
Mein Herz klopft rascher, wieder schaue ich aus dem Fenster, erkenne mich selber darin gespiegelt, die Toilettentür schimmert weisslich wie ein Tor in eine andere Dimension, Schatten fliegen über sie hinweg. Ich muss herausfinden, weshalb wir seit ungefähr einer Viertelstunde durch einen Tunnel rasen, in welchem wir uns normalerweise bei ähnlicher Geschwindigkeit nur fünf Minuten befinden.
Rasch reisse ich die automatische Schiebetüre auf, forciere die Geschwindigkeit in dem ich am Griff zerre, gehe zurück zu meinem Platz, zu der Blondine, dem Typen, der Mutter, dem Kind.
Niemand beachtet mich, als ich mich setze, in der Scheibe spiegelt sich das flackernde Deckenlicht, der Zug legt sich in eine Kurve, holpert etwas, rattert leise.
Wir befinden uns noch immer im Tunnel. Erstaunt betrachte ich meine Mitreisenden, versuche ähnliche Gefühle wie meine aus ihren teilnahmslosen Gesichtern herauszufiltern, ein leichtes, verwundertes Zusammenziehen der Augenbrauen zum Beispiel, ein verwirrter Blick durchs Fenster, irgendwas. Doch erkenne ich nur die stumpfen, müden Mienen der nach anstrengenden Arbeitstagen Heimreisenden.
Mit jeder Sekunde die verstreicht, werde ich unruhiger, Panik will die Überhand ergreifen, dumpf dröhnt mein Schädel, alles verschwimmt zu wabernden Schemen vor meinen Augen, welche immer dunkler werden.
Reiss dich zusammen, Thomas!
Sage ich streng zu mir selbst, versuche die Panikattacke niederzukämpfen.
Ich bin ein praktisch denkender Mensch Mitte dreissig, Manager einer hochangesehenen Schweizer Bank, mein Verstand arbeitet blitzschnell, logisch und ich konnte mich immer auf ihn verlassen.
Bis jetzt.
Wieder betrachte ich die Menschen um mich herum.
Die blonde Frau schläft immer noch, langsame Atemzüge verraten ihre tiefe Entspannung.
Weiterhin schallen tiefe Bassklänge aus der Richtung des jungen Mannes, begleitet von kleinen Jauchzern und Patscher des Kleinkindes. Die Mutter drückt auf dem Handy herum, schreibt eine rasche Nachricht.
Mir ist schlecht, ich weiss nicht, was ich tun soll. Seit ungefähr 20 Minuten befinden wir uns in einem Tunnel, welchen wir nach allen Gesetzen der Architektur seit rund 15 Minuten verlassen haben sollten. Zudem hätten wir, etwaige Verzögerungen oder Verspätungen einbegriffen, seit ungefähr 15 Minuten den nächsten Bahnhof erreichen sollen, von wo aus ich gewöhnlich in einen anderen Zug umsteige, welcher mich nachhause bringen würde. Soweit die Theorie.
Ich versuche, meinen unregelmässigen, stossenden Atem zu kontrollieren, konzentriere mich, ruhig zu werden.
Doch in meinem Verstand explodieren tausend Fragen, wirbeln in meinem Gehirn herum, die Synapsen laufen heiss und hinterlassen grelle Lichtblitze in meinen Augen, Verwirrtheit, Angst.
Meine Gedanken, zu viele, um sie einzeln zu erkennen, vermischen sich zu einem einzigen Gefühl, wieder Panik.
Es ist nicht möglich, es geschieht etwas, was gegen alle physikalischen Gesetze geht, welche die irdische Welt in sich zusammenhalten.
Draussen, vor der spiegelglatten Scheibe, weiterhin Dunkelheit, wo schon längst wieder die Sonne scheinen sollte.
Ich wende mich der jungen Frau zu, berühre sie sanft am linken Arm, meine Stimme zittert, als ich sie frage, wann wir den nächsten Bahnhof erreichen.
Sie beachtet mich nicht, ist mit dem brabbelnden Kind auf ihrem Schoss beschäftigt, spielt ein Fingerspiel mit ihm.
Mein Blick schweift zu dem jungen Typen, er hat die Augen geschlossen, Knie, Finger und Kopf wippen im Takt, er scheint, von seiner Umwelt grundsätzlich nicht allzu viel zu halten.
Die Blonde schläft immer noch.
Links von mir, auf der anderen Seite des Ganges, sitzt ein älterer Herr, vor sich auf den Knien eine grosse Tageszeitung ausgebreitet, welche er geflissentlich am Lesen ist. Ich klopfe ihm sanft auf die Schulter, bitte ihn um Antwort auf die Frage, welche ich soeben der jungen Frau gestellt hatte.
Auch er beachtet mich nicht, keine Regung deutet darauf hin, dass er mich gespürt oder gehört hat.
Verwundert drehe ich mich erneut zu der jungen Mutter. Beuge mich etwas in ihr Blickfeld, versuche Augenkontakt herzustellen. Sie scheint durch mich hindurch zu sehen.
Ein Räuspern, dann stelle ich wieder meine Frage, lauter diesmal, eindringlicher, penetrant. Niemand reagiert.
Wut gesellt sich zu meiner Verwirrtheit, zu meiner Angst, meiner Panik.
Vor dem Fenster nichts als Dunkelheit.
Energisch erhebe ich mich, stosse mich regelrecht mit den Armen an den Lehnen ab, komme zum Stehen.
- Entschuldigen Sie bitte, könnte mir jemand sagen, wann wir den nächsten Bahnhof erreichen, vielen Dank!
Laut schallt meine Stimme durch den Wagen, durchbricht die Stille, welche Alleinreisende meistens geniessen, prallt dumpf an den Wänden ab.
Es erfolgt keinerlei Reaktion von irgendjemandem.
Kein einziger Mensch im Wagen lässt auch nur durch einen winzigen Blick, eine leichte Regung, ein Zucken im Gesicht, darauf schliessen, dass er meine Frage gehört hat.
Weshalb zum Teufel hört mich niemand?!?
Mit langen Schritten gehe ich zur Waggontüre und klatsche dabei in die Hände.
Keine Reaktion.
Verdammte Scheisse, was geht hier vor?
Rasch geht mir eine verworrene Vision durch den Kopf, versteckte Kameras, verkorkste Fernsehsendungen, welche auf dem verzweifelten Leid verarschter Normalbürger basieren, doch dies hier hat nicht den Charakter eines schief gelaufenen Witzes.
Bei der Türe angekommen, poltere ich mit meiner geballten Faust gegen das dicke Glas. Dumpfe, laute Schläge ertönen, zerreissen die Stille.
Niemand hebt auch nur seinen Kopf, um mich anzusehen.
Das Bewusstwerden des Gedankens, dass kein Mensch in diesem Zug mich wahrzunehmen scheint, bringt mich einem Zustand nah, den ich am besten als ausserkörperlich bezeichnen kann.
Existierte ich nur, weil mich die anderen Menschen bis jetzt wahrnehmen konnten?
Warum können sie es jetzt nicht mehr?
Mein Körper scheint sich aufzulösen, ein Kribbeln durchfährt mich, Dunkelheit kommt auf mich zu, ich rutsche mit dem Rücken an der Türe entlang auf den Boden, setze hart mit dem Hintern auf, versuche mit aller Kraft, bei Bewusstsein zu bleiben.
Die Verzweiflung darüber, in diesem Zug eingesperrt zu sein, seit gut einer halben Stunde durch einen schier endlosen Tunnel zu fahren, die Übelkeit, die scheinbare Nicht-Existenz meiner selbst, lässt meine Seele einen lauten Schrei ausstossen.
Auch der Schrei verhallt ungehört von anderen Ohren ausser den meinen traurig zwischen den Sitzen, zieht sich, immer leiser werdend, in die entfernteste Ecke zurück.
Langsam kehre ich in die Realität zurück, meine Augen registrieren Gesichter, die Deckenbeleuchtung, Dunkelheit vor den Fenstern.
Auch mein Zusammenbruch, welcher normalerweise einen Tumult an hastig aufspringenden, hilfsbereiten, besserwissenden, notorischen Lebensretter ausgelöst hätte, blieb von allen unbemerkt.
Mühsam rapple ich mich auf, komme wacklig auf die Beine, mit weit aufgerissenen Augen starre ich jedem einzelnen Menschen ins Gesicht, berühre sie, schreie sie an, schüttle sie, worauf sie reagieren, als hätte eine Fliege sie gestreift. Mit einem leichten Verziehen der Mundwinkel wenden sie sich etwas von mir ab, lassen jedoch nicht von ihrer Tätigkeit ab, ja, die Störung ist ihnen nicht einmal einen Blick wert.
Vor den Fenstern weiterhin graue Schatten.
Schweiss trieft mir vom Gesicht, läuft mir in Bächen aus den Achselhöhlen, durchnässt mein Hemd, ich zerre mir die Krawatte und die Jacke vom Leib, mein Herz rast.
Wahnsinn.
So fühlt sich Wahnsinn an.
In meinem Gehirn formt sich ein Gedanke, ein Plan, ich renne ins Zwischenabteil, meine Augen, suchend, erkennen den roten Hebel, die Notbremse, meine zitternde Hand umschliesst das kühle Metall, mit einem Ruck zerre ich daran-
Es geschieht nichts.
In diesem Moment bricht mein Verstand zusammen. Von aussen kann ich beobachten, wie ich gegen die Zugtüre hämmere, dagegen trete, Risse bilden sich im Glas, ich schlage weiter, meine Hand wird blutig aufgerissen, doch spüre ich keinen Schmerz, sehe mich wie einen Typen im Film, erkenne die Emotionen, doch empfinde sie nicht.
Niemand reagiert auf den Lärm.
Der Zug fährt durch einen endlosen Tunnel.
Plötzlich öffnet sich der Durchgang zum Wagen. Die junge Frau mit dem Kind betritt das Zwischenabteil.
Sie sieht mich nicht.
Sie hört mich nicht.
Drückt auf den Knopf, welche die Toilettentüre aufgleiten lässt, ihr Blick verschwindet in der Kabine, ein leiser Schrei entfährt ihr. Sie dreht sich um, setzt das Kleine unmittelbar neben mich auf den Boden.
Auch das Kind nimmt mich nicht wahr, sein Blick geht durch mich hindurch, als bestünde ich aus einem Hauch Luft.
Meine Gedanken rasen, ich keuche vor Anstrengung.
Die Frau beugt sich nun über etwas, was sich in der Toilettenkabine befindet.
Ich wende meine Augen dorthin, drehe meinen Oberkörper um besser sehen zu können.
Es bin ich.
Ich liege dort in der Kabine.
Auf der Stelle verwandelt sich mein Innerstes.
Alles, was ich wusste, was ich fühlte, was ich empfand, verschwindet und reduziert mein Ich auf das nackte Gefühl des Entsetzens.
Die folgenden Abläufe, Handlungen, Geschehnisse nehme ich als teilnahmsloser Beobachter wahr, an die Zugtüre gelehnt, mein Verstand, umspült von der eisigen Kälte des Wahnsinns, spaltet sich von allem, was ist. Ich bin bewegungslos, mein Körper paralysiert, gefühllos.
Ich sehe, wie die Frau aufspringt, die Türe aufreisst, andere Menschen treten zu meinem daliegenden Körper, es wird telefoniert, der Zug hält, Sanitäter stechen mit Nadeln auf mein zweites Ich ein, hängen Schläuche daran, heben es auf, es wirkt, als läge ein exobiologisches Wesen auf der Barre.
Mein zweites Ich wird aus dem Zug transportiert. Die Türe schliesst sich.
In meinen Körper kehren langsam die Empfindungen zurück, ich spüre mich wieder, nehme meinen Atem wahr, den Boden unter den Füssen.
Ohne einen Blick aus dem Fenster zu werfen, weiss ich, dass wir uns erneut im Tunnel befinden.
Meine Gedanken sind leer, frei von jeglicher Sinnhaftigkeit.
Ich begebe mich zu meinem Platz zurück, setze mich. Die junge Frau erzählt gerade dem interessiert zuhörenden jungen Typen mit dem zurückgeschobenen Kopfhörer, wie sie den Anzugträger bewusstlos in der Toilette aufgefunden habe.
Laut den Sanitätern sei er in Folge eines Schlaganfalls vor dem Waschbecken ins Koma gefallen, als er auf die Toilette wollte.
Der junge Typ hebt die Augenbrauen, nickt ein paarmal, brummt etwas, schiebt die Musik wieder auf die Ohren und lehnt sich im Sitz zurück.
Ich fahre weiter nichtexistierend durch den endlosen Tunnel.