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Die Zuflucht
Sie fühlte sich wie unter Wasser, wie in sich selbst abgetaucht. Ihr Bewusstsein schien wie ein Pendel über ihre innere Mitte hinaus zu schwingen und diese immer nur für kurze Momente zu streifen. Ihre Hände umklammerten etwas. Sie sah die Umrisse eines schwarzen Schattens, hörte dumpfe Geräusche. Sie spürte ein Kribbeln auf ihrem Rücken und zuckte zusammen.
Lichtblitze tauchten vor ihren Augen auf, gefolgt von kleinen Farbtupfern, die sich wie Moleküle verbanden und verzerrte Bilder formten. Die Geräusche wurden lauter, schmerzten in ihren Ohren. Dann wurde es still. Die Bilder schwebten davon, wie abgekoppelte Astronauten im Weltraum. Für einen Moment war sie umgeben von Dunkelheit. Eine gräuliche Gestalt tauchte auf, umkreiste sie. Erst schnell, dann immer langsamer. Ein Delfin schaute sie an. Wie durch Meerwasser gebrochene Sonnenstrahlen erzeugten Schattenspiele auf seinem Körper.
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Du weißt, wer ich bin«, sagte der Delfin.
»Ich erkenne nicht, wer du bist, nur was du bist.«
»Das ist das, was du siehst, aber was fühlst du?«
Sie schwieg einen Moment.
»Mein Gefühl sagt mir, dass wir miteinander verbunden sind.«
Der Delfin bäumte sich vor ihr auf und schaute sie an.
»Das ist Liebe. Sie ist wie Feuer. Sie schenkt uns wundervolle Dinge wie Wärme und Geborgenheit.«
»Aber es macht mich traurig, zerreißt mich. Warum ist das so?«
»Liebe kann auch Schmerzen verursachen oder uns innerlich zu Asche verbrennen lassen.«
»Warum fühle ich diesen Schmerz in deiner Gegenwart?«
»Ich bin der Grund, warum du hergekommen bist«, sagte der Delfin. »Ich bin das Symbol für dein Leid.«
»Kannst du mir sagen, wo wir hier sind?«
»Wir sind an deinem Zufluchtsort, du hast ihn selbst erschaffen.«
»Warum habe ich das getan?«
Der Delfin umkreiste sie wieder und schwieg.
»Sage es mir bitte.«
»Das Schicksal hat dich über die Grenze des Erträglichen gestoßen«, sagte er.
»Was bedeutet das? Was ist mir passiert?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass wir deswegen hier sind.«
»Um mich herum ist alles schwarz«, sagte sie. »Warum sehe ich nur dich?«
»Du hast auch mich erschaffen«, sagte der Delfin. »Hier in dir.«
Sie hörte wieder die dumpfen Geräusche in ihren Ohren, die stetig lauter wurden.
»Du solltest jetzt wieder gehen«, sagte er.
»Ich möchte nicht. Kann ich nicht noch etwas bei dir bleiben?«
»Nein«, sagte er. »Du musst dich dem Schicksal wieder stellen, für mich und für dich selbst.«
»Und wenn ich es nicht ertrage?«
»Dann denke daran, dass du mich hier immer finden wirst. Du trägst mich in dir, so wie du es seit dem Beginn meiner Existenz getan hast. Das wird nie anders sein. Sorge nur dafür, dass dich die Liebe zu mir nicht verbrennt, denn dann werde auch ich nur noch Asche in den Abgründen deiner Seele sein.«
»Ich werde es versuchen«, sagte sie.
»Dann geh jetzt«, sagte der Delfin und verschwand in der Dunkelheit.
Die Geräusche wurden deutlicher. Sie hörte Stimmen. Ihre Sicht wurde klar. Sie sah die Rutsche, die Schaukeln. Neben ihr auf der Holzbank saß ihre beste Freundin, die ihr über den Rücken streichelte. Direkt vor ihr stand ein Polizist, hinter ihm Leute mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern. Einige steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.
Sie schaute auf den abgenutzten, mit Sand verdreckten Stoffdelfin zwischen ihren Händen.
»Wo ist Lucas«, fragte sie.
»Alles wird gut«, sagte ihre Freundin und strich ihr mit der Hand über die Wange. »Sie werden ihn finden.«