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Die Zuflucht des Menschen
Sie wurde in der Sekunde entdeckt, in der sie das Großraumbüro betrat, das Smartphone zwischen Schulter und Ohrläppchen verkeilt. »Tel-Co mit Shanghai«, schrie Schallreuther über die Stellwände hinweg, »Startschuss in fünf Minuten.« »Monika, are you still there?«, rief eine Stimme im Hörer. Sie sah zu Schallreuther, dessen Wangen vor Aufregung glühten. Er hatte Tage an der Präsentation gefeilt, der Einsatz, den sie immer verlangte, aber er würde auf ihre Anwesenheit verzichten müssen. Heute konnten sie alle mal kreuzweise. Das Bauamt, das das Bodengutachten für den Messeplatz versaut hatte, die katastrophalen Quartalszahlen der Osteuropa-Offices und Lundberg, der ihr vor wenigen Augenblicken im Foyer gekündigt hatte. Ihr täglicher Reset, die fünfzehn Minuten, in denen keiner das Büro der Chefin zu betreten hatte, wurden soeben vorverlegt.
»Colin, I will get back to you«, rief sie in den Hörer, »give me one hour.« Auch London musste warten.
Sie legte auf und sah Friedrich auf sie zueilen. »Das Bodengutachten«, rief er und sah aus wie sie sich fühlte. »Ich weiß«, sagte sie, »ich ruf den Bürgermeister an.« Sie ließ ihn stehen und verlegte das Brandlöschen auf später. Kollwitz war der nächste, der sie abfing und ihr in vollem Laufschritt eine Ringmappe hinhielt. »Das Dossier über Neustadt-Harfurch«, nuschelte er, aber sie winkte ab. »Bitte an die Rechtsabteilung, Gonzalo weiß Bescheid. Den Mustervertrag sollen die mir per Mail zuschicken.« Kollwitz nickte.
Als sie an ihrer Bürotür ankam, hatte sie die Verfolger abgeschüttelt. Martens sah vom Rechner auf.
»Buchen Sie mir bitte für Montag den Sechs-Uhr-vierzig-nach-München.«
»Abends zurück?«, fragte er.
»Sie kennen mich.«
Sie griff nach der Türklinke. »Ich mache meinen Reset.«
Martens zuckte. »Vor Shanghai?«
Er schaute auf die Uhr und bereute es.
»Schallreuther macht das. Ich komme dann nach.«
Sie wusste, dass das kein toller Move war. Sie könnte sich zusammenreißen, sie müsste den Einsatz ihrer Mitarbeiter respektieren, die übliche Kette aus hätte, müsste und sollte. Aber sie wollte nicht. So einfach war das. Sie lebte nach ihren Regeln, sonst würde sie ihre Zwölfstundenschichten nicht durchstehen.
»Bis gleich«, sagte Martens und lächelte.
Ohne sich noch mal umzudrehen schlüpfte sie durch den Spalt, sie zog die Tür zu, schloss die Augen und tauchte ein in die Stille ihrer heiligen vier Wände.
Der linke Pumps fiel vom Fuß, gefolgt vom rechten, und als sie ihre Zehen in die flauschigen Teppichflusen grub, stöhnte sie auf. Sie legte ihre Tasche ab und tippelte zur Fensterbank. Blumentopf für Blumentopf fuhr sie über die aufgereihten Krausebüschel, eine sattgrüne Pracht auf feuchtschwarzer Erde. Sie zerbröselte ein Daumengroßes Stück Torf zwischen den Fingern, ein Nährstoffkonzentrat, das sie sich aus Italien kommen ließ. Ein Schluck für jede Pflanze und die Gießkanne landete wieder auf der Fensterbank. Sie suchte sich die schönsten Blätter aus, kräftige, noch junge Triebe, ohne die kleinste Unregelmäßigkeit, Auswahl hatte sie genug. Ein Arbeitstag ohne einen gelungenen Reset? Er wäre undenkbar.
Mit einer Handvoll Grün lief sie zum Schreibtisch. Der Polsterstuhl gab nach und sie genoss die Kippbewegung. Sie zog sich dicht an die Tischkante, bis sie einen angenehmen Druck auf ihren Bauch ausübte. Große Blätter, kleine Blätter, ohne ein System stapelte sie unterschiedliche Formen aufeinander, sie faltete sie zu einem kleinen Paket, das sie zwischen Daumen und Mittelfinger rollte. Es würde sich ihrem Mund sogleich wieder entfalten, war aber dennoch ein wichtiger Bestandteil des Rituals, das sie so sorgsam zelebrierte. Das sich aus solchen Dingen zusammensetzte, Gesten, Körperbewegungen und Sinneseindrücken, die ebenbürtig und unabdingbar nebeneinander standen. Die vertraute Abfolge ließ die Gedanken zuverlässig in den über die Jahre in ihrer Seele gewachsenen spirituellen Trichter fließen, eingebrannt und unauslöschbar.
Sie schloss ihre Augen.
Den ersten Geschmack mochte sie nicht, auch das gehörte dazu. Das Kauen und das Warten, bis sich die Spurenelemente der Pflanze verwandelten und auch ihr eigener Zustand sich transformierte. Zellen brachen auf, chemische Reaktionen kamen in Gang und die Gedanken trugen sie davon. Der Geschmack entfaltete sich auf der Zunge, zwischen den Zähnen und unter dem Gaumen und die Frische, die durch sie hindurchströmte, führte sie an einen fernen Ort, die immer gleiche Oase, die ihrer erschöpften Fantasie entsprang. Ihre Zuflucht. Sie spürte den Wind in den Haaren, sie hörte ihn durch die schroffen Felsen pfeifen. Schafe blökten und der Geruch nach Gras kitzelte in ihrer Nase. Er würzte den aromatischen Kräuterbrei, der sich in ihrem Mund verteilte. Als würde das Ocker der Klippen, das moosige Geflecht der Küstenwelt sich in ihr auflösen und ihre Seele zur Ruhe bringen.
Tief unten schlug die Brandung gegen den Fels. Sie rumpelte über das Ufer und spülte Kieselsteine ins Meer, Welle für Welle, Windstoß für Windstoß. Gischt staubte auf ihre Unterarme, Wiesenflecken plusterten sich auf den Hängen und das benetzte Gras glitzerte im Sonnenschein. Sie bewegte ihre Zehen, die sich wie von selbst im weichen Untergrund vergruben. Versumpft, verbunden, verstrandet. Weiter, und noch weiter, gleich war er erreicht, der Punkt der maximalen Entfernung.
Kein Kondensstreifen am Himmel, kein Brüllen einer Autobahn, nur die überwältigende Abwesenheit menschlicher Existenz; die einen überrollte, die einen klein machte, die ihre Hand nach einem ausstreckte. Zärtlich strich sie ihr durchs Haar.
Wenn der Wind wehte und das Meer rauschte, wenn Regen fiel und Sonne brannte, dann merkte der Mensch, dass er zur Natur gehörte, in seiner ganzen Ursprünglichkeit. Jeder Mensch, das war das Erstaunliche. Das Gefühl, dass man hier richtig war, jenes diffuse Nachhausekommen, das im Unterbewusstsein schlummerte und das der Grund war, warum wir bei Gewitter aus dem Fenster schauten. Als würde ein urzeitliches Programm abgespult, als riefe die Vergangenheit nach uns, aktiviert durch Haut und Elemente. Die archaische Genspur der Höhlenmenschen, die auf unserer DNA aufleuchtete. Zehen auf Gras, Nase im Wind, Kopf unter Wasser.
Sie fuhr sich mit der Zunge über den Gaumen. Der Geschmack machte es unglaublich real. Möwen krakelten. Sie standen in der Luft, über windschiefen Bäumen und Wollbüscheln am Fels. Und so hätte es noch ewig weitergehen können, der Drift in eine unberührte Welt, würde nicht wie jedes Mal am Ende ein Piepsen aus dem Hintergrund die Realität in ihr Bewusstsein zerren. Der Wecker, der ihrer Lieblingspause ein Ende machte.
Energie für die zweite Tageshälfte pumpte durch ihre Venen, Nachgeschmack und Kraftüberschuss. Sie schüttelte sich und tauchte auf, sie rieb sich die Augen. Und als sie sich wieder hergestellt hatte, gänzlich im Hier und Jetzt, marschierte sie zurück ins Büro.
Draußen war es still. Sie sog Luft durch ihre Nase.
»Was zum …«
Martens war verschwunden. Und mit ihm die ganze Belegschaft. Sie hielt den Atem an. Und erstmals, seit sie hier arbeitete, hörte sie das Surren der Klimaanlage. Als hätte sich die Ruhe ihrer Insel in die reale Welt übertragen. Sie gluckste. Musste eine vernünftige Erklärung haben. Langsam setzte sie sich in Bewegung, tastete sich durch den Mittelgang und verließ das Büro. Aber auch im Foyer war keine Menschenseele zu sehen. Ihr Kopf war leer und ihre Hände zitterten, als sie einen der Fahrstuhlknöpfe drückte.
Der Fahrstuhl kam, nach unendlich langer Wartezeit, und schob mit einem Pling seine Türen auseinander. Schallreuther stürzte ihr entgegen, gefolgt von Friedrich und den anderen.
»Der Ärmste.« Friedrich lachte. »Mitten in der Präsentation.«
»Frau Hasselbeck!« Kollwitz winkte. »Wir haben Sie vermisst.«
Sie kniff die Augen zusammen.
»Arbeitet einfach weiter.« Er schüttelte den Kopf.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie.
»Jetzt sagen Sie nicht, Sie haben den Feueralarm verpasst.«
Feueralarm! Sie hätte selbst drauf kommen können.
»Es gibt wichtigeres im Leben, meine Herren.« Sie lachte.
Kollwitz zog die Brauen hoch.
»Solange Sie das nicht von uns verlangen«, bemerkte er.
Friedrich warf ihm einen vielsagenden Blick zu und die beiden zogen von dannen.
Martens taucht vor ihr auf. »Wo waren Sie?«
»Habs überhört«, sagte sie und hob die Arme, »ich hoffe, es gab keinen Ärger.«
Martens war fahl im Gesicht.
»Ich …«, er räusperte sich, »ich war in Ihrem Büro.«
Man sah, wie unangenehm es ihm war.
»Ist in Ordnung Martens, das waren besondere Umstände.«
»Sie haben mir nie erzählt, dass Sie einen zweiten Eingang haben.«
»Was meinen Sie?«
Er zerrte an seiner Krawatte. »Der zweite Eingang?«
»Gibt es nicht«
Seine Wange zitterte bei einem Lächelversuch.
»Sie waren nicht in Ihrem Büro.«
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Martens war niemand, der Witze machte.
»Ich saß an meinem Schreibtisch«, sagte sie.
Schrecken stand in seinem Gesicht und als sie seine Verzweiflung sah, wurde sie von einer alptraumhaften Schwere überrollt. Nicht die Kontrolle verlieren. Was passierte hier? Nicht in ihrem Büro? Wann kam das erlösende Lachen? Aber es passierte nichts. Und ihre Kehle brannte, als würde sie gerade erwürgt.
»Shanghai will ins Bett«, rief Kollwitz, der um die Ecke lugte.
Stillstand. Niemand sagte etwas. Und dann riss sie sich zusammen, wie jeden Tag, nahm ihre Kräfte und setzte ein Lächeln auf und hoffte, dass es aussah wie immer.
»Nach Ihnen, Martens.«
Sie zeigte aufs Büro und er zuckte.
»Natürlich. Entschuldigen Sie.«
»Schon vergessen, Martens.«
Er lief voraus, an Kollwitz vorbei, und an Friedrich, der auf sie wartete. Sie lief mit den Männern durch das Büro und den Gang, mit zitternden Knien und donnerndem Herz, und während sie lief und lief und dieser Nachgeschmack auf ihrer Zunge brannte, zweifelte sie, ob sie jemals wieder ankommen würde.