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Die Zuflucht des Menschen

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23.10.2018
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Die Zuflucht des Menschen

Sie wurde in der Sekunde entdeckt, in der sie das Großraumbüro betrat, das Smartphone zwischen Schulter und Ohrläppchen verkeilt. »Tel-Co mit Shanghai«, schrie Schallreuther über die Stellwände hinweg, »Startschuss in fünf Minuten.« »Monika, are you still there?«, rief eine Stimme im Hörer. Sie sah zu Schallreuther, dessen Wangen vor Aufregung glühten. Er hatte Tage an der Präsentation gefeilt, der Einsatz, den sie immer verlangte, aber er würde auf ihre Anwesenheit verzichten müssen. Heute konnten sie alle mal kreuzweise. Das Bauamt, das das Bodengutachten für den Messeplatz versaut hatte, die katastrophalen Quartalszahlen der Osteuropa-Offices und Lundberg, der ihr vor wenigen Augenblicken im Foyer gekündigt hatte. Ihr täglicher Reset, die fünfzehn Minuten, in denen keiner das Büro der Chefin zu betreten hatte, wurden soeben vorverlegt.
»Colin, I will get back to you«, rief sie in den Hörer, »give me one hour.« Auch London musste warten.
Sie legte auf und sah Friedrich auf sie zueilen. »Das Bodengutachten«, rief er und sah aus wie sie sich fühlte. »Ich weiß«, sagte sie, »ich ruf den Bürgermeister an.« Sie ließ ihn stehen und verlegte das Brandlöschen auf später. Kollwitz war der nächste, der sie abfing und ihr in vollem Laufschritt eine Ringmappe hinhielt. »Das Dossier über Neustadt-Harfurch«, nuschelte er, aber sie winkte ab. »Bitte an die Rechtsabteilung, Gonzalo weiß Bescheid. Den Mustervertrag sollen die mir per Mail zuschicken.« Kollwitz nickte.
Als sie an ihrer Bürotür ankam, hatte sie die Verfolger abgeschüttelt. Martens sah vom Rechner auf.
»Buchen Sie mir bitte für Montag den Sechs-Uhr-vierzig-nach-München.«
»Abends zurück?«, fragte er.
»Sie kennen mich.«
Sie griff nach der Türklinke. »Ich mache meinen Reset.«
Martens zuckte. »Vor Shanghai?«
Er schaute auf die Uhr und bereute es.
»Schallreuther macht das. Ich komme dann nach.«
Sie wusste, dass das kein toller Move war. Sie könnte sich zusammenreißen, sie müsste den Einsatz ihrer Mitarbeiter respektieren, die übliche Kette aus hätte, müsste und sollte. Aber sie wollte nicht. So einfach war das. Sie lebte nach ihren Regeln, sonst würde sie ihre Zwölfstundenschichten nicht durchstehen.
»Bis gleich«, sagte Martens und lächelte.
Ohne sich noch mal umzudrehen schlüpfte sie durch den Spalt, sie zog die Tür zu, schloss die Augen und tauchte ein in die Stille ihrer heiligen vier Wände.

Der linke Pumps fiel vom Fuß, gefolgt vom rechten, und als sie ihre Zehen in die flauschigen Teppichflusen grub, stöhnte sie auf. Sie legte ihre Tasche ab und tippelte zur Fensterbank. Blumentopf für Blumentopf fuhr sie über die aufgereihten Krausebüschel, eine sattgrüne Pracht auf feuchtschwarzer Erde. Sie zerbröselte ein Daumengroßes Stück Torf zwischen den Fingern, ein Nährstoffkonzentrat, das sie sich aus Italien kommen ließ. Ein Schluck für jede Pflanze und die Gießkanne landete wieder auf der Fensterbank. Sie suchte sich die schönsten Blätter aus, kräftige, noch junge Triebe, ohne die kleinste Unregelmäßigkeit, Auswahl hatte sie genug. Ein Arbeitstag ohne einen gelungenen Reset? Er wäre undenkbar.
Mit einer Handvoll Grün lief sie zum Schreibtisch. Der Polsterstuhl gab nach und sie genoss die Kippbewegung. Sie zog sich dicht an die Tischkante, bis sie einen angenehmen Druck auf ihren Bauch ausübte. Große Blätter, kleine Blätter, ohne ein System stapelte sie unterschiedliche Formen aufeinander, sie faltete sie zu einem kleinen Paket, das sie zwischen Daumen und Mittelfinger rollte. Es würde sich ihrem Mund sogleich wieder entfalten, war aber dennoch ein wichtiger Bestandteil des Rituals, das sie so sorgsam zelebrierte. Das sich aus solchen Dingen zusammensetzte, Gesten, Körperbewegungen und Sinneseindrücken, die ebenbürtig und unabdingbar nebeneinander standen. Die vertraute Abfolge ließ die Gedanken zuverlässig in den über die Jahre in ihrer Seele gewachsenen spirituellen Trichter fließen, eingebrannt und unauslöschbar.
Sie schloss ihre Augen.
Den ersten Geschmack mochte sie nicht, auch das gehörte dazu. Das Kauen und das Warten, bis sich die Spurenelemente der Pflanze verwandelten und auch ihr eigener Zustand sich transformierte. Zellen brachen auf, chemische Reaktionen kamen in Gang und die Gedanken trugen sie davon. Der Geschmack entfaltete sich auf der Zunge, zwischen den Zähnen und unter dem Gaumen und die Frische, die durch sie hindurchströmte, führte sie an einen fernen Ort, die immer gleiche Oase, die ihrer erschöpften Fantasie entsprang. Ihre Zuflucht. Sie spürte den Wind in den Haaren, sie hörte ihn durch die schroffen Felsen pfeifen. Schafe blökten und der Geruch nach Gras kitzelte in ihrer Nase. Er würzte den aromatischen Kräuterbrei, der sich in ihrem Mund verteilte. Als würde das Ocker der Klippen, das moosige Geflecht der Küstenwelt sich in ihr auflösen und ihre Seele zur Ruhe bringen.
Tief unten schlug die Brandung gegen den Fels. Sie rumpelte über das Ufer und spülte Kieselsteine ins Meer, Welle für Welle, Windstoß für Windstoß. Gischt staubte auf ihre Unterarme, Wiesenflecken plusterten sich auf den Hängen und das benetzte Gras glitzerte im Sonnenschein. Sie bewegte ihre Zehen, die sich wie von selbst im weichen Untergrund vergruben. Versumpft, verbunden, verstrandet. Weiter, und noch weiter, gleich war er erreicht, der Punkt der maximalen Entfernung.
Kein Kondensstreifen am Himmel, kein Brüllen einer Autobahn, nur die überwältigende Abwesenheit menschlicher Existenz; die einen überrollte, die einen klein machte, die ihre Hand nach einem ausstreckte. Zärtlich strich sie ihr durchs Haar.
Wenn der Wind wehte und das Meer rauschte, wenn Regen fiel und Sonne brannte, dann merkte der Mensch, dass er zur Natur gehörte, in seiner ganzen Ursprünglichkeit. Jeder Mensch, das war das Erstaunliche. Das Gefühl, dass man hier richtig war, jenes diffuse Nachhausekommen, das im Unterbewusstsein schlummerte und das der Grund war, warum wir bei Gewitter aus dem Fenster schauten. Als würde ein urzeitliches Programm abgespult, als riefe die Vergangenheit nach uns, aktiviert durch Haut und Elemente. Die archaische Genspur der Höhlenmenschen, die auf unserer DNA aufleuchtete. Zehen auf Gras, Nase im Wind, Kopf unter Wasser.
Sie fuhr sich mit der Zunge über den Gaumen. Der Geschmack machte es unglaublich real. Möwen krakelten. Sie standen in der Luft, über windschiefen Bäumen und Wollbüscheln am Fels. Und so hätte es noch ewig weitergehen können, der Drift in eine unberührte Welt, würde nicht wie jedes Mal am Ende ein Piepsen aus dem Hintergrund die Realität in ihr Bewusstsein zerren. Der Wecker, der ihrer Lieblingspause ein Ende machte.
Energie für die zweite Tageshälfte pumpte durch ihre Venen, Nachgeschmack und Kraftüberschuss. Sie schüttelte sich und tauchte auf, sie rieb sich die Augen. Und als sie sich wieder hergestellt hatte, gänzlich im Hier und Jetzt, marschierte sie zurück ins Büro.

Draußen war es still. Sie sog Luft durch ihre Nase.
»Was zum …«
Martens war verschwunden. Und mit ihm die ganze Belegschaft. Sie hielt den Atem an. Und erstmals, seit sie hier arbeitete, hörte sie das Surren der Klimaanlage. Als hätte sich die Ruhe ihrer Insel in die reale Welt übertragen. Sie gluckste. Musste eine vernünftige Erklärung haben. Langsam setzte sie sich in Bewegung, tastete sich durch den Mittelgang und verließ das Büro. Aber auch im Foyer war keine Menschenseele zu sehen. Ihr Kopf war leer und ihre Hände zitterten, als sie einen der Fahrstuhlknöpfe drückte.
Der Fahrstuhl kam, nach unendlich langer Wartezeit, und schob mit einem Pling seine Türen auseinander. Schallreuther stürzte ihr entgegen, gefolgt von Friedrich und den anderen.
»Der Ärmste.« Friedrich lachte. »Mitten in der Präsentation.«
»Frau Hasselbeck!« Kollwitz winkte. »Wir haben Sie vermisst.«
Sie kniff die Augen zusammen.
»Arbeitet einfach weiter.« Er schüttelte den Kopf.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie.
»Jetzt sagen Sie nicht, Sie haben den Feueralarm verpasst.«
Feueralarm! Sie hätte selbst drauf kommen können.
»Es gibt wichtigeres im Leben, meine Herren.« Sie lachte.
Kollwitz zog die Brauen hoch.
»Solange Sie das nicht von uns verlangen«, bemerkte er.
Friedrich warf ihm einen vielsagenden Blick zu und die beiden zogen von dannen.
Martens taucht vor ihr auf. »Wo waren Sie?«
»Habs überhört«, sagte sie und hob die Arme, »ich hoffe, es gab keinen Ärger.«
Martens war fahl im Gesicht.
»Ich …«, er räusperte sich, »ich war in Ihrem Büro.«
Man sah, wie unangenehm es ihm war.
»Ist in Ordnung Martens, das waren besondere Umstände.«
»Sie haben mir nie erzählt, dass Sie einen zweiten Eingang haben.«
»Was meinen Sie?«
Er zerrte an seiner Krawatte. »Der zweite Eingang?«
»Gibt es nicht«
Seine Wange zitterte bei einem Lächelversuch.
»Sie waren nicht in Ihrem Büro.«
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Martens war niemand, der Witze machte.
»Ich saß an meinem Schreibtisch«, sagte sie.
Schrecken stand in seinem Gesicht und als sie seine Verzweiflung sah, wurde sie von einer alptraumhaften Schwere überrollt. Nicht die Kontrolle verlieren. Was passierte hier? Nicht in ihrem Büro? Wann kam das erlösende Lachen? Aber es passierte nichts. Und ihre Kehle brannte, als würde sie gerade erwürgt.
»Shanghai will ins Bett«, rief Kollwitz, der um die Ecke lugte.
Stillstand. Niemand sagte etwas. Und dann riss sie sich zusammen, wie jeden Tag, nahm ihre Kräfte und setzte ein Lächeln auf und hoffte, dass es aussah wie immer.
»Nach Ihnen, Martens.«
Sie zeigte aufs Büro und er zuckte.
»Natürlich. Entschuldigen Sie.«
»Schon vergessen, Martens.«
Er lief voraus, an Kollwitz vorbei, und an Friedrich, der auf sie wartete. Sie lief mit den Männern durch das Büro und den Gang, mit zitternden Knien und donnerndem Herz, und während sie lief und lief und dieser Nachgeschmack auf ihrer Zunge brannte, zweifelte sie, ob sie jemals wieder ankommen würde.

 

Hallo @Chris Memento

Als ich nur den ersten Teil deiner Geschichte gelesen hatte, erschien mir alles sehr hektisch - so hektisch dass ich nicht einfach den Faden verlor, ich fand einfach überhaupt keinen.
Aber dann kam ich zum 2, Abschnitt. Und da fiel es mir auf: du hast den ersten Abschnitt absichtlich so extrem hektisch geschrieben, um einen klaren Kontrast zu erzeugen - stimmt`s?:D
Ist dir nämlich echt gut gelungen:thumbsup:

Dennoch muss ich gestehen, ich persönlich habe hier und da etwas an der Geschichte auszusetzen:

1. Diesen Moment der Erholung deines Prot - ich muss gestehen ich habe gar nicht so wirklich durchschaut wie dein Prot jetzt überhaupt heißt, denn ich kam mit der Hektik im Textgeschehen nicht so zurecht, sry - würde ich an deiner Stelle viel ruhiger schreiben. Anfangs gelingt dir das sehr gut, aber nach und nach wird es dann wieder zu hektisch und man verliert leicht den Faden. Ob du das als kleine versteckte Ankündigung gemacht hast, um den Leser unterschwellig auf das gleich kommende Ende der Pause vorzubereiten, weis ich nicht - finde diesen Gedankengang aber ziemlich interessant und würde es beibehalten, wenn dem denn so ist. Aber ich würde der Ruhephase trotzdem etwas den Wind aus den Segeln nehmen, alleine schon um den zur Zeit bestehenden Widerspruch - Pause und die zeitgleiche hektische Beschreibung dieser Pause - aufzulösen.

2. Du benutzt sehr viele Kommata - stellenweise etwas zu viele pro Satz. Versuch vlt mal an einigen Stellen auf Kommata zu verzichten, oder ersetze sie hier und da z.B. durch Gedankenstriche - das hilft dem Leser:)

3. Man kommt nie wirklich hinterher, wer gerade welchen Satz sagt. Das verwirrt nur unnötig und führt schneller dazu, dass man den Faden verliert - weil die Situation leider zu unübersichtlich wird.
Deswegen rate ich dir dem Leser erkennbar zu machen, wer was sagt.

4. Hin und wieder gab es so einige Sätze die mich beim Lesen total raus geworfen haben, weil ich leider schlichtweg nichts damit anfangen konnte - sie nicht im Textzusammenhang verstanden habe -, sry.
Solche Sätze meine ich zum Beipiel.

Das Vertraute ließ die Gedanken zuverlässig in den über die Jahre gewachsenen spirituellen Trichter fließen, eingebrannt und unauslöschbar.
Es kann sein, dass dem Leser der Zusammenhang solcher Stellen schlecht erschließt, weil ihm das Wissen und die Gedanken fehlen, welche der Autor beim Verfassen solcher Stellen hatte. Es kann aber auch sein, dass ich da der Einzige bin und meine Augen und mein Verstand einfach schon übermüdet sind. Deshalb würde ich an deiner Stelle erstmal abwarten, wie andere Leser auf solche Textstellen reagieren.

Aber alles in allem gefällt mir deine Geschichte:)
Weiterhin gutes Gelingen und viel Erfolg beim Schreiben.

Mit freundlichen Grüßen.
Invictus013

 

Hallo @Chris Memento,

verdammt, kannst du gut schreiben! Aber bevor ich mich zu sehr in der Schwärmerei verliere, spreche ich das Negative an:

1. Ich sehe den Einstieg ebenfalls problematisch. Da ist Schallreuther, ein Nachname, und dann kommt "sie" und ich denke, sie ist Schallreuther, dann kommt noch "er", und ich denke Moment! er ist Schallreuther und am Ende bin ich mir gar nicht sicher, ob überhaupt einer der beiden Schallreuther ist — das verwirrt. Ich finde die Hektik, die du hier sprachlich rüber bringst, ganz grandios, aber diese Verwirrtheit hält mich davon ab, wirklich mitzuschwimmen in dem Flow.

2. Ich schließe mich ebenfalls der Meinung an, dass die Dialoge, vor allem am Anfang, ein wenig undurchschaubar sind. Zwar bin ich nicht der Meinung, dass man bei so einem hektischen Durcheinandergeqautsche immer genau wissen muss, wer was sagt, aber es sollte schon klar sein, wenn die Person, die spricht, wechselt. Die Chefin (und ich glaube, sie ist diese Monika?) erkennt man sowieso an ihren Anweisungen, und alle anderen sind eben die anderen, aber es gehört getrennt.

3.

Er wäre undenkbar gewesen.

Auch da gehe ich mit: Bitte ersetze das durch undenkbar. Es ist ein sprachlich so wunderbarer Text, aber die Stelle ist ein echter Schandfleck.

4.

Als würde ein urzeitliches Programm abgespult, als würde die Vergangenheit nach uns rufen, aktiviert durch Haut und Elemente.

Die würde-Konstruktion brauchst du nur im ersten Teil des Satzes, weil es sich um eine Passivkonstruktion handelt. Im zweiten Teile würde ich kein würde verwenden :P Sondern einfach den normalen Konjunktiv. Klingt schöner!

5.

Pling. Der Fahrstuhl kam, nach unendlich langer Wartezeit, und schob seine Türen auseinander.

Hier würde ich die "unendlich lange Wartezeit" vor das "Pling" schieben, einfach wegen der logischen Zeitabfolge. Wenn der Fahrstuhl einmal da ist, interessiert es mich als Leser schon nicht mehr, dass sie davor lange gewartet hat.

So und das wars schon mit dem Negativen. Jetzt komme ich wirklich zur Schwärmerei.

1.

Sie könnte sich zusammenreißen, sie müsste den Einsatz ihrer Mitarbeiter respektieren, die übliche Kette aus hätte, müsste und sollte.

Wirklich viel kann ich dazu gar nicht sagen, die Genialität dieses Satzes spricht für sich selbst!

2.

Sie schloss ihre Augen.
Den ersten Geschmack mochte sie nicht, auch das gehörte dazu. Das Kauen und das Warten, bis sich die Spurenelemente der Pflanze verwandelten und auch ihr eigener Zustand sich verwandelte. Zellen brachen auf, chemische Reaktionen kamen in Gang und die Gedanken trugen sie davon. Der Geschmack entfaltete sich auf der Zunge, zwischen den Zähnen und unter dem Gaumen und die Frische, die durch sie hindurchströmte, führte sie an einen fernen Ort, die immer gleiche Oase, die ihrer erschöpften Fantasie entsprang. Ihre Zuflucht. Sie spürte den Wind in den Haaren, sie hörte ihn durch die schroffen Felsen pfeifen. Schafe blökten und der Geruch nach Gras kitzelte in ihrer Nase. Er würzte den aromatischen Kräuterbrei, der sich in ihrem Mund verteilte. Als würde das Ocker der Klippen, das moosige Geflecht der Küstenwelt sich in ihr auflösen und ihre Seele zur Ruhe bringen.
Tief unten schlug die Brandung gegen den Fels. Sie rumpelte über das Ufer und spülte Kieselsteine ins Meer, Welle für Welle, Windstoß für Windstoß. Gischt staubte auf ihre Unterarme, Wiesenflecken plusterten sich auf den Hängen und das benetzte Gras glitzerte im Sonnenschein. Sie bewegte ihre Zehen, die sich wie von selbst im weichen Untergrund vergruben. Versumpft, verbunden, verstrandet. Weiter, und noch weiter, gleich war er erreicht, der Punkt der maximalen Entfernung.
Kein Kondensstreifen am Himmel, kein Brüllen einer Autobahn, nur die überwältigende Abwesenheit menschlicher Existenz; die einen überrollte, die einen klein machte, die ihre Hand nach einem ausstreckte. Zärtlich strich sie ihr durchs Haar. Wenn der Wind wehte und das Meer rauschte, wenn Regen fiel und Sonne brannte, dann merkte der Mensch, dass er zur Natur gehörte, in seiner ganzen Ursprünglichkeit. Jeder Mensch, das war das Erstaunliche.

Dieser ganze Teil ist einfach großartig. Wie du beschriebst, wie sich der Geschmack entfaltet und sich in eine eigene Welt verwandelt. Es ist wie eine Knospe, die in Zeitraffer aufblüht. Ich liebe es, so etwas zu lesen.

3. Das Ende finde ich auch sehr gelungen. Es ist merkwürdig, aber es will sich nicht aufdrängen. Ich habe nicht das Bedürfnis zu wissen, was da abläuft. Nicht, weil es mich nicht interessiert, sondern weil es einfach nicht wichtig ist. Und das finde ich gut. Ich weiß es nicht, die Figuren wissen es nicht, und du weißt es wahrscheinlich auch nicht, und das ist gut so. Man kann im Leben nicht jede Frage beantworten und damit muss man sich nun mal abfinden.

Alles in allem sehr gelungen. Sprachlich ausgezeichnet, der Plot ganz nett und insgesamt ein sehr runder Text. Kleinere Fehlerchen sind da, aber die haben mich nicht gestört oder vom wunderbaren Gesamtbild abgelenkt. Wenn ich könnte, gäbe ich fünf Sterne.

Ich komme bei dir auf jeden Fall wieder mal zum Lesen vorbei. Bis dahin liebe Grüße,
Alveus

 

Wow! Vielen, vielen Dank für die wertvollen Antworten und auch Komplimente. Werde mich am Wochenende intensiv damit beschäftigen. :)
Was mir sofort ins Auge gesprungen ist, dass ich mehr dialogue tags benutzen muss. Habe ich auch schon von anderer Ecke gehört, dass nicht immer klar ist, wer da gerade spricht. Und ich glaube, wenn das besser/intuitiver ist, fließt der Text auch besser und auch die hektischen Passagen werden besser "handle-bar".
Ihr seid großartig!

 
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Also meine hier im Forum übliche Vorgangsweise, kurz mal die ersten Sätze eines neuen Textes lediglich zu überfliegen, um einen ungefähren Eindruck zu bekommen, ob ich mit dem Stil was anfangen kann, ob mich die Story überhaupt interessieren könnte usw., konnte ich hier sehr schnell vergessen. Schon nach nur wenigen Zeilen nämlich hatte ich null Ahnung, was ich da eigentlich gerade gelesen hab, worum es da geht, wer da zum Teufel was mit wem warum usw. … kurz gesagt, ein einziges großes: ?
Hab ich also noch einmal, diesmal mit aller gebotenen Aufmerksamkeit - die ein Autor vom Leser ja allemal erwarten darf - von vorne zu lesen begonnen.
Und sehet, es ward gut. :D
Im Ernst, in meinen Augen ist dir da ein beeindruckendes Debüt gelungen, Chris Memento.
Im Grunde bietest du mir hier alles, was eine gute Kurzgeschichte ausmacht: eine originelle Plot-Idee, eine stringente Dramaturgie, eine eigenständige und weitgehend souveräne Erzählsprache und das alles mit einer Prise Rätselhaftigkeit durchsetzt. Wirklich gut.

Dass du es mit der stellenweise verwirrenden (weil nachlässigen) Dialogregie den Lesern nicht gerade einfach machst, haben dir die Vorkommies ja schon hinlänglich gesagt, und weil du wiederum geantwortet hast, dass du da ohnehin noch nachbessern wirst, will ich da jetzt nicht auch noch großartig meinen Zinnober dazugeben. Lediglich auf eine kleine Sache möchte ich dich hinweisen, die mich gestört hat:
Grundsätzlich gefallen mir die französischen Anführungszeichen, die Guillemets (in deinem Fall eigentlich die Chevrons, wie die Variante mit nach innen zeigenden Spitzen genannt wird), weit besser als unsere albernen „Gänsefüßchen“. Jetzt hast du allerdings nicht nur die französischen Zeichen verwendet, sondern auch die eigentlich nur in Frankreich gebräuchliche Art, sie zu setzen, nämlich mit jeweils einem Leerzeichen vor und nach dem angeführten Text.
Und das ist für meine (beinahe ausschließlich an deutschen Texten geschulten) Augen halt schon sehr irritierend. Schaut einfach falsch aus. Keine Ahnung, ob das sonst noch wen stört, aber ich wollte es halt einfach mal zu bedenken geben.

Willkommen hier, Chris Memento

offshore

 
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Danke noch mal für die Kritik. Ich habe es diese Wochenende geschafft, meine Geschichte umzuarbeiten. Vor allem der Anfang ist komplett neu. Ich habe euren Rat befolgt und das ganze deutlich weniger verwirrend gestaltet (hoffe ich).

 

Hallo Chris,

Ich habe deinen überarbeiten Text aus deiner Antwort entfernt.
Bitte editiere den ersten Beitrag, wenn du Textänderungen vornehmen möchtest und poste den kompletten Text nicht mitten im Thread.

Danke und Gruß,
GoMusic

 

Hallo Chris,

Ich habe deinen überarbeiten Text aus deiner Antwort entfernt.
Bitte editiere den ersten Beitrag, wenn du Textänderungen vornehmen möchtest und poste den kompletten Text nicht mitten im Thread.

Danke und Gruß,
GoMusic


Hallo GoMusic, entschuldige, ich war noch nicht ganz (Forum)regelfit. Da ich die Geschichte nochmals überarbeitet habe, gibt es jetzt in Post Nr. 1 die ganz frische Version.
Ich habe mir viele eurer Anmerkungen zu Herzen genommen. Vor allem bzgl. der Dialog-Personen-Zuordnung. Außerdem habe ich den Anfang klarer gestaltet, aber (hoffentlich) ohne ihm das Tempo zu nehmen.

Vielen Dank noch mal für eure Kritik!

 

Hallo! @Chris Memento
Mir gefällt Dein Stil, vor allem bei der Darstellung des Resets, sehr gut.
Du findest ausdrucksstarke Bilder und die passende Sprache. Anfangs hat mich die Hektik etwas genervt, aber bei der Kürze des Textes ist es erträglich. Woran man noch feilen könnte, wäre die Figurentiefe. Außer ihrer Überlastung erfährt man nicht viel über die Dame. Für meinen Geschmack ist das zu sehr reduziert auf das Notwendigste.
Und dann habe ich Probleme das Ende einzuordnen. Beim ersten Lesen, dachte ich, dass Ihr Kollege dezent andeuten wollte, dass er sie beim Koksen gesehen hätte und es nicht an die Glocke hängen würde. (Das Büro war leer - Zwinker, zwinker!). Beim wiederholten Lesen wurde mir klar, dass er und das Team sowieso schon über ihr Hobby Bescheid wusste.: "»Bis gleich«, sagte Martens und
lächelte. "
und: "Kollwitz zog die Brauen hoch. »Solange Sie das nicht von uns verlangen«, bemerkte er. Friedrich warf ihm einen vielsagenden Blick zu und die beiden zogen von dannen. "

Und dann das: "Martens war niemand, der Witze machte."

Also war sie wirklich verschwunden?! Eine Superdroge, die sie in echt weg beamt?
Ich befürchte, ich habe da irgendetwas übersehen. Oder aber: Du willst es bewusst im Unklaren lassen.
Wäre ja auch nicht verkehrt.
Wie auch immer; hat mir gefallen.

Schönen Gruß
Kellerkind

 

Also war sie wirklich verschwunden?! Eine Superdroge, die sie in echt weg beamt?
Ich befürchte, ich habe da irgendetwas übersehen. Oder aber: Du willst es bewusst im Unklaren lassen.
Wäre ja auch nicht verkehrt.
Ich finde es echt interessant, dass du quasi genau meine Intention verstanden hast, bzw. das Ende so verstanden hast, wie es gemeint war, und trotzdem damit haderst. Mhhh, frage mich woran das liegt. :)

Es ist tatsächlich so, dass es etwas "supernatural" sein soll, aber eben im Unklaren. Sie merkte selbst bei ihren Ausflügen nie, dass sie TATSÄCHLICH weg war, wie auch immer das passiert. Das bekommt sie erst mit, als er ihr sagt, dass sie nicht im Büro war. Wie oder warum, will ich gar nicht erklären. :)

 

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