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Die Zicke
Es ist der Abend des Champions-League-Finales Bayern München gegen Manchester United.
Horst Dorftrögl aus Bründel an der Mofel betritt mit einer Packung Erdnüsse, einem kühlen Pils und einem Vorfreude-Lächeln das Wohnzimmer. Er lässt sich auf dem Sofa nieder und greift zur Fernbedienung. Das Telefon klingelt. Er hebt ab, "Dorftrögl hier, wer da?" (Es ist eine unbekannte Frauenstimme; sie meldet sich mit 'Honigmäulchen' und nennt ihn 'Mäusi-Poppelchen').
Helga kommt ins Zimmer.
"Entschuldigung, aber ich glaube, Sie haben sich verwählt!", sagt Horst und legt auf. Er begibt sich zurück zum Sofa und schaltet das TV-Gerät ein. Fantastischer Sound im Hintergrund, volles Stadion, gleich Anpfiff.
Helga stellt sich zwischen ihn und den Fernseher und fragt, wer denn dran gewesen sei?
Er sagt, niemand.
Niemand?, fragt sie. Außerdem sei er komisch gewesen am Telefon.
Jemand habe sich verwählt, sagt er.
Sie sagt, sie habe ein Recht darauf, 'es' zu erfahren.
Er fragt, auf was zu erfahren sie denn ein Recht habe? Er wolle jetzt das Spiel anschauen bitte.
Sie sagt, dass er immer Fußball schaue, wenn ihr etwas wichtig wäre. Für eine Beziehung müsse man auch ein bisschen Zeit investieren.
Er erinnert sie daran, dass sie gestern aus einem gemeinsamen dreiwöchigen Costa-Rica-Urlaub zurückgekommen seien, und er außerdem vielleicht viermal im Jahr ein Spiel anschaue.
Das sei was anderes, sagt sie. Sie müsse jetzt wissen, wer am Telefon war.
(Man hört, dass das Spiel angepfiffen wird).
Er sagt, er wisse nicht, wer das war, es sei falsch verbunden gewesen.
Sie sagt, er solle sie wenigstens nicht anlügen. Ihre Stimme zittert leicht. Sie müssten das jetzt klären.
Er seufzt und sagt, ok - gleich.
Wann gleich!?, fragt sie, sie hat die Arme in die Hüften gestemmt.
(Ein Tor fällt, für Bayern! - ein sensationeller, nie dagewesener Freistoß von Backenbeuer, ruft der Reporter).
Horst sagt, ok, gleich nach dem Spiel.
Sie sagt, wenn er ein Mann wäre, der Charakter habe, würde er das Gespräch nicht aufschieben. Wenn er sie liebe, dann...
Er unterbricht sie, versucht aber gleichzeitig an ihr vorbei den Bildschirm zu sehen, - das sei doch nicht so, er liebe sie über alles, das merke sie doch, oder?
Nein, sagt sie, das merke sie nicht, wenn Fußball für ihn ganz offensichtlich wichtiger sei als sie.
Er sagt, Fußball sei für ihn keinesfalls wichtiger als sie.
Und doch sei es wichtiger, das blöde Rumgerenne anzuschauen, als mit ihr sich konstruktiv auseinanderzusetzen?
Er sagt, aber das sei das Endspiel. Das sei in eineinhalb Stunden aus, dann könnten sie reden. Wohingegen er das Spiel später nicht mehr sehen könne (weil es dann aus sei). Es gehe doch nur um ein paar Minuten.
Ok, sagt sie, seine Entscheidung, er sei ein freier Mann, dann solle er schauen, - aber wissen, was er ihr antue.
Sie geht hinaus. Nach vier Minuten ist sie wieder da und dreht sich vor ihm in einem neuen Kleid, das sie in Costa Rica gekauft hat. Wie gefalle ihm das Kleid?
Er sagt, bitte nicht jetzt.
Also, sagt sie mit geballten Fäusten, es gefalle ihm nicht, - das sei Beweis genug, dass er längst eine andere habe; die habe wohl vorhin angerufen, was? Deshalb sei er wohl komisch gewesen am Telefon?
Er sagt, er sei nicht komisch gewesen am Telefon. Er erinnert sie daran, dass sie die 'Besprechung' auf nach-dem-Spiel verschoben hätten.
Also gebe er es zu, sagt sie, dass er ein Verhältnis habe.
Wieso?, fragt er.
Weil er zugebe, dass es etwas zu besprechen gebe! Warum hätte er sonst zugestimmt, etwas zu besprechen?
Er steht auf und fragt, ob das die einzig richtige Schlussfolgerung sein könne?
Sie schreit, dass alle und alles wichtiger seien als sie, sogar seine dorftrotteligen Freunde.
Er sagt, die sehe er sowieso nur noch einmal im Monat! Ihr zuliebe!
Sie sagt, wenn er sie wirklich liebe, würde er jeden Abend mit ihr verbringen wollen; aber sie sei wohl nicht mehr so attraktiv für ihn.
Er fragt, was das jetzt miteinander zu tun habe?
Na gut, sagt sie. Sie verlässt den Raum. Er setzt sich. Schaut irgendwie unkonzentriert auf den Bildschirm. Er öffnet weder das Pils noch die Erdnüsse. Er schaut zwei Minuten zu, dann betritt sie den Raum erneut und beginnt zu staubsaugen. Sie staubsaugt um ihn herum, um das Fernsehgerät herum, dabei stößt sie eine Vase um, die auf dem Parkett zerschellt. Ihr Gesicht zeigt äußerste innere Qual, von ihm verursacht. Jetzt muss sie auch noch die Scherben aufsammeln vor dem Fernsehgerät, während der Staubsauger röhrt. Er steht auf, zieht den Stecker des Staubsaugers raus. Macht den Fernseher aus.
Er sagt, nach dem Spiel würden sie reden, bitte. Er liebe sie.
Wie lange dauere das Spiel noch?, fragt sie.
Er sagt, insgesamt 90 Minuten plus 15 Minuten Pause, also jetzt noch ca. 80 Minuten.
Ok, in 80 Minuten, sagt sie und schaut auf die Uhr.
Er schaltet den Fernseher wieder ein. Sie telefoniert draußen im Flur nun laut mit einer besten Freundin. Sie erzählt dieser, dass ihre Beziehung wahrscheinlich am Ende sei. Das Schwein sei mit einer anderen zusammen; sie wisse nicht, ob sie ihm überhaupt noch etwas glauben könne, da seine Flittchen jetzt schon in allergrößter Dreistigkeit hier anriefen, aber 'natürlich' leugne er alles, wie alle Männer.
Das Telefonat dauert sechzig Minuten, wobei sie ab und an in Tränen ausbricht.
Zwischendrin öffnet er nun doch das Pils, das er in einem Zug hinunterkippt, bevor er sich das Nächste aus der Küche holt. Nach Ende der regulären Spielzeit hat er vier Pils intus, während Manchester der Ausgleich gelang - es steht 1:1.
Helga steht in der Tür und sagt, dass es jetzt die 'Aussprache gebe'.
(Der Reporter sagt, dass es zweimal 15 Minuten Verlängerung gebe und vielleicht anschließend Elfmeterschießen. Eine unfassbare Spannung!).
Horst sagt zu Helga, fast tonlos, es dauere jetzt nur noch höchstens 45 Minuten. Er ist nicht mehr ganz der Alte, scheint es. Helga verlässt den Raum. Eine Minute später hört er verdächtige Geräusche aus dem Schlafzimmer. Er geht nachschauen (Schnitt/Schlafzimmer).
Er fragt, was sie da tue?
Sie sagt, er könne doch sehen was sie tue... sie packe ihre Koffer. Ihre Augen sind verweint. Immer wieder bricht sie in Schluchzen aus.
Er will sie in den Arm nehmen, sie stößt ihn weg, brüllt lauthals:
Sie wisse genau, er wolle ja sowieso nichts mehr von ihr! Sie aber wolle bald Kinder. Deshalb ziehe sie jetzt zu ihrer besten Freundin, die ihr damals abgeraten habe, sich auf ihn einzulassen! Sie sei zu wertvoll, um sich so behandeln zu lassen; sie sei eine attraktive Frau, aber wenn er lieber was anderes tue, als sie glücklich zu machen, dann gut! Sie habe besseres verdient. Er habe alles vernichtet, was zwischen ihnen war!
Ok, sagt er, er mache den Fernseher aus. Sie reden jetzt. Sie fordert, dass er ihr ein Kind zeugt (innerhalb der nächsten drei Monate), aufhört, seine Freunde zu treffen, höchstens ein Fußballspiel pro Jahr anschaut (meinethalben Champignons-Liga), dass er einsieht, dass so eine Beziehung schließlich 'was ernstes' sei und zusätzlich beweist, dass er sie liebt (täglich) und keine andere hat. Er verspricht alles zu machen und zu beweisen, was zu machen und zu beweisen ist, und auch was nicht zu beweisen ist, will er sich zu beweisen bemühen. Er ist fahrig, zittert am ganzen Körper und spricht gepresst, dennoch ist er der Mann, den wir erwarten konnten: er bewahrt die Contenance; noch sieht es nicht ganz nach ihrem Sieg aus. Sie beruhigt sich. Zusammen gehen sie ins Wohnzimmer, 'er könne ja den Rest von dem Spiel jetzt noch schauen' (Schnitt/Wohnzimmer).
Das Spiel ist aus; Spieler, Trainer, Moderatoren und Reporter sind sich einig, das spannendste Elfmeterschießen des Jahrzehnts gesehen zu haben. Horst seufzt.
Sie sagt zu ihm, warum er das nicht gleich gesagt habe, dass das ein so spannendes und wichtiges Spiel sei? Wenn sie das gewusst hätte, hätte er es doch anschauen dürfen, schließlich sei sie froh, dass er eigene Interessen habe.
Das ist der Durchbruch. Horst beginnt, mit dem Kopf zu wackeln und debil zu grinsen. Seine innere Struktur bröckelt jetzt schnell. Seine Glieder zucken. Sein torkelnder Blick sucht die Kamera, er steht auf, wankt - er nimmt den Zicken-Contest-Kommunikator, sein Finger nähert sich dem 'Nervenarzt-holen!'-Button.... er drückt ihn! Ja! Helga hat es geschafft! Sie steht da, und weiß gar nicht, was er schon wieder hat.
EPILOG
Ein Jahr später. Horst hat drei Monate stationäre Psychotherapie hinter sich. Er lebt noch mit Helga zusammen. Es ist der ...
Abend des Champions-League-Finales 2002 - Borussia Dortmund gegen Real Madrid:
Horst Dorftrögl aus Bründel an der Mofel betritt mit einer Packung Erdnüsse, einem kühlen Pils und einem Vorfreude-Lächeln das Wohnzimmer. Er lässt sich auf dem Sofa nieder und greift zur Fernbedienung. Das Telefon klingelt. Er lässt es klingeln. Helga ruft von draußen: "Schatz, warum gehst du nicht ans Telefon?"
"Ach", sagt Horst. "Das ist bestimmt bloß wieder eins dieser Luder aus dem Büro, mit denen ich's gelegentlich treibe."
Man hört Helga lachen.
Das Spiel beginnt.