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Die zerbrochene Vase oder Wie die Wolken Feuer fingen
Blau. Blau wie der Himmel als man ihn noch Himmel nannte.
Rot. Rot wie die Liebe als es sich noch lohnte zu lieben. Heute Rot wie Blut, das richtige Blut.
Gelb. Gelb wie Judas Mantel. Wie sein Egoismus selbst zuleben.
Grün. Grün wie die Mischung aus Gelb und Blau. Aber mischen ist nicht mehr erlaubt. Etiketten kann man nicht mischen.
„Wo zum Teufel steckt Mizzy?“ Sie war doch immer da, wieso jetzt nicht? Plötzlich schob sich ein kleines Etwas durch die Labortür. Diesen Mann kannte er. Larry Roberts arbeitete schon ewig hier. Sicherlich hatte er irgendeinen Doktortitel, aber das interessierte Fre in diesem Moment nicht. Er wollte einfach seinen Kaffee haben, egal ob er von einem Doktor, einem Professor oder einem Assistent gebracht würde.
„Sir Fre, Mizzy hat sich krank gemeldet. Sie müssen die nächste Tage ohne sie auskommen.“ Bei dem letzten Satz hatte Larry gegrinst, wollte nur einen Scherz machen, aber Fre hatte keine Geduld, wollte keine Geduld haben. Er brauchte sie, sie war sein Gedächtnis, gerade jetzt, obwohl sie die größeren Zusammenhänge seiner Arbeit nicht verstand.
„Was? Ich soll hier tagelang ohne Unterbrechung für das Wohl der Menschheit arbeiten und Sie, Sie bringen mir weder meine Assistentin noch meinen Kaffee!?“
Der jetzt schon verängstigte Larry fing an zu nervös zu werden, wie die meisten Menschen, wenn Fre mit ihnen sprach. War es pure Ehrfurcht oder blanke Angst?
Ein dumpfer klirrender Schlag und die Tasse, die Larry für seinen Chef mit Kaffee gefüllt hatte, war hinüber. Die sterilen Fliesen waren nicht mehr keimfrei. Ein unverzeihliches Unglück in diesem, Fres Labor.
„Machen Sie hier sauber, oder glauben Sie etwa ich tue das für Sie?“
Wutentbrannt wich er der braunen Kaffeelache aus und wandte sich gen Tür. Er musste weg. Fort von hier. Aber nicht ohne die Lösung. Auf seinem Hinausweg steckte er es ein.
Das verdammte Ding stand immer noch da. Ein zusammengeschweißtes Etwas. Hauptbestandteil Polyacryl, auch Plastik genannt. Und trotzdem er konnte daran nichts Schönes finden. Nichts was wert war betrachtet zu werden. Aber er konnte ja nichts sehen, Joe hatte es ihm oft genug unter vorgehaltener Hand gesagt. Es war eines seiner Suff- „Kunstwerke“. Er wollte sich und der Welt beweisen wie weit er gehen konnte, hier in der Öffentlichkeit. Weil er es hatte und die anderen nicht. Natürlich würden sie nichts erkennen können. Es war schließlich „Kunst“. Aber eigentlich müsste Fre Joe doch dankbar sein. Er hatte sein Konzept, sein Werk, publik gemacht. Es den Mensch so verkauft, dass sie es liebten, bis heute liebten, sich keine Welt ohne mehr vorstellen konnten. Dreißig Jahre müssten es jetzt sein, seit dem verhängnisvollen Tag im Labor. Damals war es nicht noch nicht verhängnisvoll gewesen, aber heute. Kurz davor die Hoffnung zu verlieren, hatte er endlich das gesehen, nachdem er gesucht hatte: Die genetische Determination. Sie war immer dort gewesen vom Urmenschen bis zum perfekten Menschen heute. Alle guten Dinge sind drei, waren schon immer drei und werden immer drei bleiben. Einer, der führt, einer, der sucht, einer, der findet.
Wissenschaftlich ausgedrückt eine bestimmte Menge an Prolin machte aus einem Menschen den perfekten Diktator, eine bestimmte Menge Lysin den Wissenschaftler, und zu guter Letzt Serin für den Künstler, der immer Neues findet.
Positiv oder negativ gesehen, Joe litt an einem nachgewiesenen Serin-Überschuss und das war ihm zu Kopf gestiegen. Die höchste je nachgewiesene Serin-Konzentration in einem Individuum, Fre hatte ihn doch selbst getestet. Kein Zweifel.
Unbewusst fuhr er sich durchs Haar, wie er es in letzter Zeit so oft tat. Auch unbewusst war er den so gewohnten Weg gegangen. Vom Institut mit Joe`s „Atem der Liebe“ als Eingangsmonument über die verschlungenen Wege der Anlage zu seinem Heim. Von hier konnte er schon die Lichter im Haus sehen, den kleinen Vorgarten, in dem Meg so liebevoll versucht hatte Pflanzen groß zu ziehen. Jetzt war er ein kreativer Steingarten. Zehn Meter vor der Haustür blieb er stehen. Griff sich an die Jackentasche. Es war noch da.
Er versuchte die Tür leise zu schließen. Aber sie quietschte, genauso wie die Treppe und so vieles anderes hier im Haus. Er hätte umziehen können, man hatte es ihm oft angeboten, aber er wollte hier bleiben. Hier, wo Meg ihre ersten Schritte gemacht hatte. Aus einem anderen Zimmer hörte er eine weitentfernte Stimme, Nachrichtensprecher. Die 24-Stunden Übertragung, sie ließ sie immer laufen. Er ging in die Küche und schenkte ein Glas Wasser ein. Das Licht im Nebengang Richtung Werkstatt leuchtete augenblicklich auf, als er den langgestreckten Raum betrat. Nichts war zu hören. Seine Schuhe machten keinen Laut. Gedämpft durch den langen bunten Flickenteppich schien er in eine Zwischenwelt geraten zu sein. Aber nicht lange. Nicht lange genug, um dieses Undifferenziertsein auszukosten.
Der stetige, scheinbar stumpfe Ton ließ ihn im Türrahmen verharren. Sein Blick wanderte durch den Raum, vorbei an den Wänden mit den falschen Bildern, über den großen morschen Tisch, bei dem er immer dachte, er würde unter der unbeschreiblichen Last ihrer Kreativität zusammenbrechen, zu ihr; zu Meg. Er sah nicht, was sie tat, aber er wusste es; er wusste es wegen der Gerüche, der Geräusche, wegen einfach allem, was sie umgab. Wieso eigentlich Töpfern? Töpfern war eine sehr alte Kunst, sie gehörte der Vergangenheit an, genauso wie gefährliches Glas. Die Herstellung dieser Substanz wurde noch gelehrt, aber das Herstellen selbst war unnötig geworden, man hatte Besseres gefunden. Doch den Künstlern war alles erlaubt, selbst Glas oder Ton. Meg liebte Gegensätze und so auch Ton. ...
„Danke Paps“ Ohne den Kopf zu ihm zu drehen, nahm sie das Glas. „Und, wie findest du es?“ Neugierig beäugte er das formlose Stück Ton auf der Töpferscheibe. Was sollte er sagen? Es war nun mal Meg und ihre Kunst. Er würde es an den Kühlschrank hängen, wenn er könnte. „Du weißt, ich liebe dich.“ Mit einem Kuss auf ihr braunes Haar drehte er sich um und begann seine tägliche Runde durch die Werkstatt. Nicht um zu sehen, was sie Neues geschaffen hatte, sondern um an ihrer Neugestaltung der Wände herumzunörgeln. „Hast du es mal wieder nicht lassen können?“ „Natürlich Paps, jeder hat Talent.“ Die alte Argumentationskette: Deine Bilder sind auch gut, haben einen Wert, meine seh` ich dauernd, das ist mein Raum, hier kann ich aufhängen, was ich möchte, ich hab dich doch auch lieb. Die Sache mit den Bildern; die er wissenschaftlich gar nicht malen durfte, konnte.
Plötzlich umarmte sie ihn von hinten, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte über seine Schulter zu schauen.
„Von was bist du wieder gefangen .... Die Gefangenschaft der Delegierten wurde gebrochen; sie wurden aus den Händen unserer größten Feinde befreit. Das Ende des Krieges war gekommen; das Ende der Gefangenschaft für einen jeden von uns. Mit unserem baldigen Treffen möchten wir einen jeden erinnern, dass das Ende des 3.Weltkrieges, des fürchterlichsten Massakers dieses Jahrhunderts, noch in spürbarer Nähe liegt, obwohl schon so viele Jahrzehnte vergangen sind. Möge sein Werk euch begleiten!“
Sein Werk? Der Krieg, die Zerstörung, die Toten, was meinte Livius immer am Ende seiner Reden, wenn er diesen Satz sprach? Es war eben Livius, er hatte in den letzten Jahren so viel geschaffen, er hatte die Welt verändert. Einer, der führt und das war Livius. Eigentlich war es nicht Livius Gesicht, das ihm vor Augen kam, als er diese Rede hörte, sondern der eine Computerausdruck, auf dem es schwarz auf weiß gestanden hatte. 390mg pro Mol machten Gesetze, hielten diplomatische Konferenzen ab und hatten das Wohl der Welt in der Hand. Es war Fre gewesen, der ihn mit diesem Blatt Papier in die Welt hinaus entlassen hatte, er hatte ihn nicht zurückgehalten, sondern gehen lassen und nicht über die Konsequenzen nachgedacht. Wenn Livius einen Krieg anfangen würde, wäre es Fres Schuld?
„Paps, wo bist du wieder? Ich glaub` du brauchst Schlaf, geh’ doch nach oben. Ich mach’ auch gleich Schluss und geh’ dann in mein Zimmer. Livius’ 24-Stundenpolitik nervt mich allmählich; kannst du noch den Bildschirm ausmachen wenn du raus gehst?“ Sie küsste ihn auf seine Wange und entließ ihn aus seiner Gefangenschaft.
Mit entsetzlicher Vorsicht nahm er es aus der Tasche und betrachtete es, hielt es gegen das Licht seiner Schlafzimmerlampe. So klein, so grün, kann man die Welt mit so etwas Winzigem verändern? Er hoffte es, er hoffte es wieder tun zu können. Nur noch ein Mal. Nur noch ein letztes Mal. Er zog die Jacke aus und ließ es wieder zurück in die Dunkelheit der Tasche gleiten.
Warum hatte er damals mit Livius geredet? Livius war einfach da gewesen. Er hatte ihn nicht gedrängt, hatte einfach nur gewartet, gewartet auf den Augenblick, als Fre die Verantwortung nicht mehr halten konnte. Und ab diesem Augenblick hatte Livius geführt. Er war immer dankbar gewesen, hatte Fre alles gegeben, was er wollte, hatte ihm seine Schatzkammer der Reagenzgläser gegeben.
Wäre die Geschichte anders ausgegangen, hätte er eine andere Nummer gewählt?....Nein, er hatte eine andere Nummer gewählt. Aber Maurice war nicht zu finden. Wie so oft in den letzten Jahren. Der große Pater Maurice, der Retter der Verlierer. Dabei hatte er doch selbst verloren, nur weil er keine Zeit gehabt hatte.
Er würde ihn wiedersehen, bald, auf dem Treffen. Er würde sie alle sehen.
Livius, Joe, Pater Maurice und er würden da sein, und die ganze Welt.
Sein letzter Blick bevor er das Licht löschte, legte sich auf seine Jacke und er wusste es war noch da.
„Können Sie mich oder wollen sie mich nicht verstehen?! Meine Tochter will und braucht kein Ticket! Nur ein One Way Ticket! Verstanden?”
Er wartete nicht mehr auf die Antwort, sondern beendete augenblicklich die Verbindung. Er war sich sicher gewesen, dass er nur eins geordert hatte. Natürlich war das ungewöhnlich, Meg war immer mitgekommen, aber jetzt nicht. Dieses eine Mal sollte sie zu hause bleiben. Wie konnte er das tun, zudem er gezwungen war, wenn ihre Augen auf ihm ruhten? Nur dieses eine Mal musste sie zu Hause bleiben.
Ein Vater durfte sein Kind niemals so verletzten, wie er es tun würde, wenn sie dabei wäre.
Sein Vater hatte sich nie an dieses ungeschriebene Gesetzt gehalten. Obwohl er gelernt hatte, wie sie funktionierten, die Gesetzte. Ein Anwalt, einer der skrupellosesten der Vorkriegszeit.
Doch seine eigene Familie hatte ihn immer verehrt, besonders Fre. Bis zu dem Tag auf den sich Fre wochenlang gefreut hatte. Der Staat gegen Gessler. Die panische Angst die aus dem Gesicht des Opfers sprang, als das Urteil bekannt gegeben wurde. Sein Vater hatte es wieder geschafft. Hatte den, vom Volk schon verurteilten Vergewaltiger Gessler, vor dem Tode bewahrt. Ist eine Summe von 100 000 eine gerechte Bezahlung für Alpträume und Ängste?
Von diesem Tag an verabscheute Fre seinen Vater; wollte nie werden wie er; wollte nur anders sein. Im Nachhinein konnte er sagen, dass sich sein Vater nur den politischen Konstellationen angepasst hatte, die im Krieg ihren Höhepunkt erreicht hatten. So sagten es wenigsten die Geschichtsschreiber. Aber Fre war da gewesen, hatte das Emporlodern des Erfolges gesehen. Schuld bleibt Schuld. Auch für Fre. Aber er würde versuchen seine Schuld abzuzahlen. Von einem inneren Bewegungsdrang getrieben stand er von seinem Schreibtisch auf und begann den Weg durch sein Büro. Sein Blick wanderte über das schwarze Regal, den riesigen farblosen Kalender zu dem brauen Tisch mit der Vase. Meg hat sie ihm geschickt. Warum? Er wusste es nicht mehr, aber was er wusste war, dass Mizzy sie entsorgen würde ohne noch einen Moment an sie zu denken. Mizzy war krank, irgendjemand anderes würde sie entsorgen.
Aber aus solchen kleinen Momenten bestand die Verantwortung, die jeder in diesem Labor tragen musste. Die Menschen hier sollten sich Gedanken über das Leben machen, es war so verletzlich, so zerbrechlich. Fre hatte oft darüber nachgedacht, wie sie mit dem Blut, mit den Stammzellen umgingen. Und genau diese Gedanken kehrten zu ihm zurück. Er konnte nicht hier bleiben, er musste nur noch einen letzten Blick wagen, damit ihn nicht der Zweifel übermannen und somit davon abhalten würde seine Verantwortung bis zum Letzten Schluss zu tragen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, öffnete er die Tür, verließ sein Büro und schritt in Richtung der Laboratorien.
Violett erschienen ihm die weißen Fliesen, als er vor seine Füße blickte. Die Tür von Labor IV ein Spalt offen stand. Spezielle Chemikalien erfordern spezielles Licht. Er schaute durch den venizanischen Spiegel, der das Labor von der Außenwelt trennte. Vermummte Gestalten ohne Gesichter verschoben wie Maschinen Reagenzsgläser mit flüssigem Gold. Wer bist du? Zukünftiger Doktor, Maler oder Abgeordneter. Hier wurde den Menschen die Entscheidung über ihr Leben aus der Hand genommen. Keine Selbstfindungskrisen mehr, nur der sture Glaube an das Blut. Er konnte es nicht mehr ertragen, wie den Kindern die freie Wahl genommen wurde. Livius hatte festgelegt, dass bei allen Kindern mit drei Jahren der Test erfolgen sollte. Kein Talent ging mehr verloren, jeder wurde so früh zu dem gemacht, zudem ihm, die Blutwerte doch ohnehin gemacht hätten. Keine Zeit ging mehr verloren, aber jedes Stück Kindheit. Angeekelt wandte er sich ab. Erinnerungen an die alte Zeit zogen ihn weiter den Gang entlang, an den Probelaboren vorbei. Eins für jeden Menschen. Nicht nur nach dem Blut getrennt; hier waren die Talente auch räumlich abgeschottet. Alles hatte seine Ordnung ; alles war nur die logische Schlussfolgerung seiner Prinzipen gewesen. Trotzdem, trotzdem wollte er es nicht mehr. Fre wollte die Farben mischen, er hatte den Mut zum Mischen gehabt. Darf ein Vater sein Kind verraten, wenn das Kind mit seinem Atem die Luft vergiftet?
Rot, Gelb und Blau. Man hatte die Grundfarben damals als Symbol der neuen Einheit gewählt.
Die einzelnen Gerätschaften durften nicht durch eine der anderen beiden Aminosäuren konterminiert werden, so waren drei Labore eingerichtet worden.
Hier wurden über 70% seines kleinschrittigen Programms durchgeführt.
Für jede Probereihe ein Labor.
Für jedes Labor ein Talent .
Für jedes Talent eine Farbe.
Am Ende des Ganges war eine Tür. Der Ausgang, nein, der Fahrstuhl. Wieder eine Wahl zu treffen. Eine Entscheidung zu fällen. Zielstrebig steuerte er auf diese Entscheidung zu. Er war in den letzten Jahren so oft dazu gezwungen worden Entscheidungen zu treffen. Mit solchen inneren Krisen konnte er nicht umgehen, er hatte sie immer weiter gegeben. Jetzt konnte er nicht entkommen; man soll mit den kleinen Dingen anfangen. Der erste Schritt ... Sein Blick wanderte von der kalten Stahltür des Aufzuges nach rechts. Das Labor- das Labor, in dem er vor vier Wochen den ersten Schritt getan hatte. Warum hatte er solche Angst? Er musste nur noch weiter gehen. Die Tür des Aufzugs glitt auseinander. Larry Roberts hatte einen unüberwindbaren Stapel von Akten und sah wie immer überfordert mit sich und der Welt aus. Es gab solche Menschen, Fre wusste das; Menschen, die jeden Tag darauf warteten, dass jemand kommt und ihnen ein kleines Stück des Weges abnahm.
„Wie geht`s den Kindern?“, fragte Fre zum Erstaunen Larrys. Seit dem Vorfall gestern hatte Larry nicht damit gerechnet wieder von ihm angesprochen zu werden, oder hatte er ihn überhaupt einmal angesprochen? „Gut.“ Er zögerte, was sollte er sagen? „Chris macht bald den Test, er ist ja schon drei.“ Etwas berufliches, das würde Fre gefallen. Den Ausdruck auf Fres Gesicht hatte Larry noch nie gesehen. Kein Zorn, nicht die ersten Ausläufer der Wut, die Larry doch so gut zu erkennen gelernt hatte. Ein nachdenkliches Glühen drang aus seinen Augen, die durch ihn hindurch schauten. Ein Lächeln wie von Hoffnung berührt. „Warten Sie. Der Junge hat noch Zeit.“
Fre machte einen großen Schritt über die Schwelle an Larry vorbei in den Fahrstuhl. Und Larry ging verwirrt in die andere Richtung. Nach ein paar Schritten auf dem Gang drehte er sich um, die Fahrstuhltür hatte sich geschlossen und auf der Anzeige konnte man erkennen, das er hinunterfuhr.
Wenige Tage später fanden sich Fre und Meg in den gläsernen Hallen des Ray Charles International Flughafens wieder. Meg war scheinbar sehr aufgeregt, es war die erste seiner Reisen, von der sie ausgeschlossen war. Die beiden standen in der Abflughalle; er mit seiner kleinen schwarzen Reisetasche und sie mit den Autoschlüsseln in der Hand, denn sie war ja nur als Taxi gekommen. „Mach dir keine Sorgen, Kleine.“ Sie nahm ihn in den Arm und wusste, dass man die Vase erst zerbrechen musste, bevor man von Neuem beginnen konnte. „Mach du dir keine Sorgen, Paps, du schaffst das schon.“ Er fuhr ihr über die Wange, küsste sie auf die Stirn und drehte sich um. Ohne sich noch einmal umzudrehen, steuerte er auf den Check-In Schalter zu und wusste, dass neben seinem Pass noch etwas anderes in seiner Jackentasche war.
Über den Wolken kann die Freiheit doch so grenzenlos sein.... Fre mochte das Fliegen. Er brauchte sich über nichts Gedanken zu machen; alles war in guten Händen. Einfach loslassen konnte doch so einfach sein, und doch für ihn so schwer. Maurice hatte einmal gesagt, dass Fre krampfhaft nach einer Reißleine in seinem Leben suchte, obwohl er sich doch nur einfach fallen lassen müsste. Damals war aber noch alles anders gewesen. Die wöchentlichen Anrufe von Maurice hatten seinem Leben Takt gegeben, wie das Metronom einem Pianisten. Worüber hatten sie geredet, der Wissenschaftler und sein Freund? Nichts wichtiges, einfach nur geredet um der Worte Willen. Und wieso hatte es aufgehört? Maurice hatte sich geweigert, sich geweigert an Fres Leben, seinem Werk teilzunehmen. Er wollte nicht getestet, stereotypisiert werden, wie er es nannte. Sein Selbst war eine Sache zwischen ihm und einem anderen Wesen. Fre hatte das nicht verstanden. Als sein Blick von dem Sitz vor ihm zum Fenster schweifte, erinnerte er sich an Maurice` letzte Worte, die er mit ihm über dieses Thema gewechselt hatte. „Jeder Mensch hat die gleiche Freiheit und wenn es die ist nichts zu wissen.“ Seine Augen verharrten auf den Wolken, wie das Abfallprodukt von Seifenlauge. Nein, viel mehr erinnerten ihn diese weißen schaumartigen Gebilde an Meg. Jeden Freitag Abend als sie noch klein war , hatte er das Kindermädchen nach Hause geschickt und seine kleine Tochter in die Badewanne gesetzt. Um sie davon abzuhalten, ihn mit Schaum zu beschmeißen, durfte sie ihn hier alles fragen. Papa, warum sind die Blumen bunt? Wann kommt Onkel Maurice uns wieder besuchen? Warum klebt Honig?
Paps, wieso hast du das gemacht? – Das mit der Welt? Musste er so was seiner kleinen Meg erklären? Wie kommt ein kleines Kind auf so eine Frage. Doch in Wahrheit hatte sie etwas ganz anders gemeint, etwas banales, etwas kindliches. Aber ab diesem Moment hatte er sich angefangen zu verändern.
Die Durchsage der Stewardess ließ ihn aus seinem Tagtraum aufschrecken. Er durfte nicht so viel an Meg denken, sie war schon immer eine eigenständige Person gewesen. Sie waren auf dem Sinkflug: Bald würden sie die Wolkendecke durchbrechen. „Bitte schnallen Sie sich an und stellen Sie das Rauchen ein.“ Er hatte nie geraucht, Livius schon. Sein Arbeitszimmer hatte immer gestunken, wenn Livius da gewesen war. Er würde sich schon darum kümmern, er, Livius, würde alles für Fre regeln. Über seinen ganzen Selbstzweifel hinaus hatte Fre immer vergessen, Livius` Absichten zu hinterfragen, sich selbst zu fragen, ob er nicht dazu im Stande wäre, es selbst zu tun. Das was er jetzt tun würde, konnte Livius ihm nicht aus der Hand nehmen, würde er auch gar nicht wollen, Livius würde es verhindern wollen. Fre glaubte nicht, dass sein Gönner und Vertrauter böseartig war. Hinterlistig, gemein und manipulativ schon – er hatte Fre gegenüber nie erwähnt, der Test würde weltweit durchgesetzt- aber böse, wer war schon wirklich böse? Er schaute durch das Fenster und sah die Tragflächen durch die Wolken schneiden und seinen Traum vom Glücklichsein zerstören. Er würde landen, zu diesem Treffen gehen und... er fasste sich an die Jackentasche...sich fallen lassen.
„Fre, meine Inspiration, meine Muse, hast du dich endlich aus deiner Hölle gewagt?“ Livius hatte Joe als Begrüßungskomitee geschickt, um Fres ersten offiziellen Auftritt seit Jahren richtig in Szene zu setzten. Die Kamerateams, die freundschaftliche Begrüßung zwischen zwei Männern, die verschiedener nicht sein könnten. Fres Bild in der Öffentlichkeit war das eines genialen, exzentrischen, alten Professors, der zwar alles geschaffen hatte, jetzt aber in Zurückgezogenheit lebte.
„Was für ein Medienereignis, Fre, du solltest wirklich mal öfters von deiner Wolke kommen!“ Man merkte, dass Joe völlig von seiner wiedergewonnen Aufgabe, Fre zu vermarkten, besessen war. Jede Gesellschaft brauchte ihre Idole und die Männer, die sie zu den Helden machten, die sie sein sollten. Fre ließ das einfach über sich geschehen, was sollte er sonst tun. Die schwarze Limousine stand bereit, die polizeiliche Eskorte wartete schon und er stieg ein.
Fre hätte gerne noch mit Maurice gesprochen. Aber Joes Uhr lief anders: Das Ereignis selbst war Kunst, nachher auf dem Empfang wäre noch genug Zeit.
Da saß er nun auf der alten Holzbank vor den Mündungen hunderter Film- und Kameraobjektive. Würden sie schießen oder Gnade mit ihm haben? Was für eine Vorstellung! Er war hier auf dem Treffen in der Kirche von Maurice. Pater Maurice, der sich grade in der Sakristei sein Talar anlegte und in Gedanken den Ablauf der Feier durchging. Joe erteilte die letzten Anordnungen für die Ankunft von Livius, er würde sich rechts von Fre setzten, Joe links- wie symbolisch an diesem Ort. Alles hatte ein Anfang und ein Ende. Er ballte seine Faust um seinen grünen Schatz in seiner Hand. Die Kameras hätten es gesehen, wenn er es jetzt noch aus seiner Tasche genommen hätte. Die Millionen Zuschauer vor den Bildschirmen hätten sich gefragt, was er da täte, was er damit erreichen wollte. Als er sie zum ersten mal mit der Pinzette aus dem Reagenzglas holte, hatte er das selbe gedacht und noch gezweifelt. Die Formel war perfekt. Sterbliche dürfen in einigen Momenten nicht zweifeln, sondern sollten auf die Perfektion vertrauen. Das genetische Material in jeglicher Zelle würde innerhalb weniger Stunden vollkommen zerstört werden. Dies würde nun zu einer unkontrollierbaren Enzymüberproduktion führen und das zum Tod. Er hatte das Wort gedacht. Zum ersten Mal während der langen Monate der Vorbereitungen hatte er das Ende mit Namen benannt. Er hatte nun diesen Schritt getan und musste auch weiter gehen. Ursache und Wirkung. Fre wollte die Welt noch einmal verändern, zu dem machen was sie vorher gewesen war, bevor er angefangen hatte Ausdrucke mit vorgeschriebenen Lebensgeschichten zu verteilen. Er war davon überzeugt; Alles würde besser werden. Er musste es nur tun.
Die Hand auf seiner Schulter, die plötzlich einsetzende Musik- Livius war da. „Träumst du wieder von besseren Zeiten? Ach Fre, besser kann es doch gar nicht werden!“ Da saß er nun, umrahmt und bemuttert von Joe und Livius, doch der Mensch, auf den er am meisten wartete, war, wie immer, Maurice. Er spielte ungeduldig mit der Tablette in seiner Hand, nicht größer als die Erbse der Vergangenheit. Mendel hatte vor Hunderten vor Jahren mit ihnen den Anfang der Genetik eingeleitet, Fre würde zum Mörder werden wegen des Kampfes zwischen Geschaffen und Geboren werden.
Die ganze Zeit hatte er die Tür zur Sakristei fest im Auge gehalten, um das Eintreten des Vierten nicht zu verpassen. Doch da war er. Maurice in dem weißen Gewand unter dem seine tief schwarze Haut hervorschien. Er lächelte und hielt seine Predigt. Irgendetwas von Leben und Leben lassen, Warten und Augenblicke finden. Predigten mussten nicht argumentativ schlüssig sein, man sollte sich nachher bloß besser fühlen. Fre hatte wieder das Vertrauen zu sich selbst gefunden, wusste das alles was er gleich tun würde richtig war und zu dem führen würde was er sich seit so langer Zeit wieder zurück wünschte.
„Fre, Livius, Joe, kommt nun bitte zu mir für das Abendmahl!“ Der Moment war nun zum greifen nah. Sie stiegen auf die Empore vor dem Altar und Fre merkte wie sich die Objektive der Kameras in seinen Rücken bohrten. Ein historischer Moment, das erste Mal wo sie alle da waren, in der Reihenfolge wie er sie entdeckt hatte. Maurice füllte den Kelch und kam langsam vom Altar her auf Fre zu. Die kleine grüne Tablette hatte er griffbereit zwischen seinen Fingerspitzen. Über dem Kelch trafen sich ihre Blicke. Der Pater streckte ihm den Wein gefüllten Becher entgegen und Fre griff danach. Ihre Hände berührten sich in dem Augenblick als Fre seine Lösung in die rote Flüssigkeit fallen ließ. Beide hörten diese leise Gewissheit, dieses leise Säuseln als sich die Tablette auflöste. Bildete Fre es sich nur ein oder wusste sein Gegenüber was er tat? Natürlich wusste er es. Das Lächeln in seinen Augen hatte er sich nicht eingebildet. Sein Freund war stolz auf ihn, denn Fre hatte endlich den Schlussstrich gezogen, nur er konnte es tun. Und so trank er und der Kelch wurde weitergereicht an Livius, und auch dieser trank. Er ging weiter an Joe und schließlich war der Kreis vollendet und Maurice trank als letzter.
Vor der Kirche erwarteten sie die namenlosen Massen. Livius und Joe ließen sich augenblicklich von ihnen davon tragen und nichts war mehr von ihnen zu sehen. Fre hatte kein Wort mit ihnen gesprochen und er bereute es auch nicht. Neben ihm stand sein wiedergewonnener Freund. Wiedergewonnener Freund? Nein, er war immer nur ehrlich zu ihm gewesen. Nur weil sie nicht die selbe Meinung teilten, hatte sie das nie zu Feinden gemacht. Fre glaubte jetzt so viel zu verstehen. Maurice war der Mann, der ohne Test von der Welt so viel mehr sehen konnte- sein Job war undefinierbar. Seelsorger der Drei, er war Grenze und Mitte zugleich. Und deshalb konnte er sich nie entscheiden, er war viel zu sehr integriert in ein System, das er mit seiner Seele ablehnte, als dass er es in Realität öffentlich verneinen konnte.
„Wann sehen wir uns?“ Das war Maurice Stimme an seinem Ohr. Wenigstens für ihn gab es ein Nachher.
„Zwei oder drei Stunden vielleicht. Aber die wirklich interessante Frage ist wie immer das Wo mein Freund.“
„Mach dir keine Sorge, manchmal muss man sich einfach fallen lassen, um nach oben zu kommen.“ Fre drehte sich um, um Maurice noch etwas zu sagen, doch da war er verschwunden.
Er schaute durch das Fenster seiner Limousine. Fahrer, Route und Auto hatte Joe ausgesucht. Von der Stadt raus aufs Land zu der Villa, wo der Empfang stattfinden sollte. Das Prickeln auf seiner Zunge war immer noch da. Das Zittern seiner Hände, fühlte er noch immer. Das Rauschen in seinen Ohren war verstummt. Es hatte angefangen oder nicht? Die Menschheit würde es schon regeln. Ihm wurde zu warm, zu heiß, er schwitzte. Ein Knopfdruck- Das Fenster glitt nach unten- der Fahrtwind trug Pollen mit sich, die ihn eigentlich hätten zum Niesen bringen müssen, doch das blieb aus. Ein pathetischer Moment auf den Tod zu warten, wie warten die anderen. Sie wussten es doch nicht und für Maurice hoffte er ...wieso hoffen? Wenn ein Mensch mit sich im Gleichgewicht war, musste man nicht mehr für ihn hoffen, noch nicht Mal jetzt. Aber Fre konnte nicht alleine sein, nicht jetzt. Seine Gedanken trieben ihn zu Meg, zu ihrer Mutter, zu seinem Vater. Selbstzweifel, er musste es wissen, jetzt. Er musste wissen, ob sich die Welt mit ihrem Tod verändern würde wenigstens ein bisschen. Noch ein Knopfdruck- die Trennwand zwischen Fahrer und Fre glitt hinab.
„Haben Sie Kinder?“ Fre ließ den Fahrer erzählen von seinen drei Kindern, von deren Zukunft und von der Hoffnung, die er in sie setzte. Und dabei fühlte Fre selbst immer weniger. Doch wer war dieser Mensch? Er hatte nach dem gefragt, was ihn selbst ausmachte, seinem Kind, Meg. Doch was machte diesen Menschen da vorne aus, was machte ihn einzigartig, zu einem Individuum? Nicht ein Talent, das er mit Abermillionen teilte, nein...
„Wie heißen Sie?“
Die Wolken brannten. Aus seiner Sicht zu diesem Augenblick brannten sie. Es gab kein oben, kein unten, keinen Himmel, keine Hölle. Es gab nur noch ihn und seine Entscheidung. Nichts anderes.
„Mein Name ist Gessler.“